Restaurantkritik  8.März 2023

Frankreich in Flandern

Unser erster Besuch im Restaurant Hof van Cleve fand im Mai 2012 statt. Aus verschiedenen Gründen – nicht alle kulinarischer Natur – werden wir dieses Erlebnis nie vergessen. Nun bot eine kleine Rundreise zwischen Brüssel und Brügge nach elf Jahren die Gelegenheit für einen Wiederbesuch. Es fühlt sich ein bisschen surreal an, nach so langer Zeit wieder vor dem kleinen Anwesen im ländlichen Belgien zu stehen. Das Restaurant befindet sich mitten im Nirgendwo, aber die luxuriösen Autos auf dem kiesgedeckten Parkplatz sprechen eine weltläufige Sprache.

Der Empfang durch die Patronin Lieve Goossens ist genau so herzlich wie damals, man fühlt sich geradezu familiär willkommen geheißen. Ihr Mann Peter Goossens hält hier seit 2005 drei Sterne und 19,5 Punkte; in Belgien ist er zudem ein umtriebiger Fernsehstar in Sachen Kulinarik. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass das Ehepaar Goossens zwei Wochen nach unserem Besuch seinen Rückzug aus dem Hof van Cleve bekannt geben wird. Zum 1. Januar 2024 übernimmt der langjährige Küchenchef Floris van der Veken das Restaurant. Ohne es zu ahnen sind wir also auf Abschiedsbesuch.

Es ist Donnerstagabend, und das Haus voll besetzt. Das scheint hier die Regel zu sein, mittags wie abends. Traumhafte Zustände, trotz eines Preisgefüges, das selbst in Paris zur absoluten Spitze zählen würde: A-la-Carte bewegen sich die Preise der Gerichte durchweg im dreistelligen Bereich. Die relative Nähe zu Frankreich und dem gut situierten Brüssel machen es wohl möglich. Für uns soll es das große Menü sein (450 €), wobei wir den darin vorgesehenen Lamm-Hauptgang einmal gegen Kalbsbries austauschen möchten – »Gentlemen, everything is possible«, beantwortet der gut gelaunte Maitre unsere Frage, ob dies möglich sei.

Zum Champagner von Pierre Peters (»Réserve Oubliée«) werden zwei erste Snacks serviert: Ein Bun mit Nordseekrabbe besticht durch wolkige Fluffigkeit und elegant eingearbeitete Meeresaromen, wobei Flocken von getrocknetem Thunfisch den entscheidenden Kick geben. Ein bisschen zu viel Teig ist vielleicht im Spiel, dennoch bleibt das sehr gut.

Ganz hervorragend gefällt ein Schälchen mit einer Art Velouté von Sellerie mit Kombu und Liebstöckel, in der sich kleine Schwertmuschelstücke verbergen, ein samtig zwischen Würze, Jodigkeit und Umami oszillierender Genuss; trotz des (dezent eingesetzten) Kombu von klassisch französischer Prägung. Groß.

Es bleibt frankophil, mit einer Praline von Gänseleber, die von Mandarinengelee überzogen ist und auf einer Scheibe marinierter Rote Bete in einem leichten Mandarinenfond thront. Man könnte hier eine Dominanz der süßlichen Mandarine erwarten, doch dank der vorzüglich gewürzten Leberterrine und der erdigen Rübe stellt sich ein gaumenschmeichelndes Zusammenspiel von Fruchtigkeit und Herzhaftigkeit ein. Klassisch? Absolut. Und darin nahezu perfekt.

Ein Stück Wildhasenpaté mit Kirsche (als Gelee, Sauce und Crumbles) spielt auf noch markantere Weise in derselben Liga. Der wohltuend intensive, »waldige« Geschmack des kernigen Hasenfleischs wird von der Süßsäuerlichkeit der Kirschzubereitungen ideal ausbalanciert; dazu knuspern kleine Sauerteig-Croutons. Das hat etwas durchaus Rustikales, ähnlich wie bei Yannick Allenos Hasen-Galantine mit Kakao im Pariser Pavillon Ledoyen, nur funktioniert die Verfeinerung hier wesentlich besser. Eine starke Demonstration traditioneller Küchenhandwerkskunst.

Etwas exotischer wird es bei der gebackenen Auster mit Algensalat, deren festfleischige Jodigkeit von thailändischer Tom kha kai-Suppe mit üppiger, süßlich-saurer Würze komplimentiert wird. Sehr schön, wenn auch durchaus gehaltvoll.
Was sämtliche Küchengrüße eint, ist die leichte Zugänglichkeit, die nie profan-gefällig wirkt, sondern vertraute Geschmacksbilder in vielschichtiger Manier umsetzt.

Das gilt auch für die unverträglichkeitsbedingte Alternative zur Auster: hier kombiniert die Küche kleine Stücke von butterzartem Tintenfisch mit einem Hauch würziger Chorizo, gebettet in eine heiße, glasklar schmeckende Tintenfisch-Bouillon. Getoppt wird das Ganze von Reisnudel-Spaghettini mit Sepia-Crumbles, die dem Gericht die süffige Fülle eines seelenwärmenden Pastatellers verleihen. Einmal mehr hervorragend.

Der erste Gang des Menüs kommt in zwei Varianten. Im Mittelpunktn der regulären Menüvariante stehen große Zeeland-Austern, die mit Apfel, Bittersalaten, hauchfeinen Nori-Streifen und säuerlichem Sudachi-Sorbet angerichtet sind. Am Tisch wird eine mit Lachskaviar angereicherte Ponzu-Sauce angegossen, die Umami und neckisch ploppende Textur beisteuert. So gut diese Inszenierung der saftig-fleischigen Exemplare schmeckt, irritiert es ein wenig, direkt nach dem Austern-Amuse sofort wieder ein Austerngericht zu bekommen. Dieser dramaturgische Lapsus verstärkt den gehaltvollen Eindruck dieses Gangs.
Besser funktioniert – nicht nur deshalb – die Alternative mit rohem Wolfsbarsch und den selben Begleitern, die feiner und leichter schmeckt.

Beim nächsten Gang, annonciert als Kaisergranat mit Kaviar 'Selektion Hof van Cleve', kommt das Krustentier überraschenderweise in Form eines Flans auf den Teller: hauchzart, federleicht und doch ungemein präsent im Geschmack, ein fantastischer Mitspieler für den nussigen, nur leicht salzigen Kaviar. Drei kleine Nocken Lauchpüree ergänzen das Geschmacksbild mit leicht süßlicher Würze, ein leichter Kraisergranatfond umspielt das Ganze mit glasklarem Geschmack. Dazwischen knuspern ein paar papierdünne Cracker aus Old Groendal-Käse. Die Präzision dieses Gerichts ist meisterhaft, der Geschmack von betörender Eleganz. Jeder Löffel zergeht auf der Zunge. Man möchte nicht aufhören, möchte nicht, dass der Genuss endet. Eine Götterspeise.

Das Niveau bleibt hoch. Eine appetitlich gebräunte Jakobsmuschel ruht auf einem gekräuterten Nudelblatt, unter dem sich saftiges Wirsingsgemüse verbirgt – eine Art offener Raviolo, wenn man so will. Am Tisch wird eine formidable Parmesansauce angegossen, etwas schwarzer Trüffel verleiht dem Teller einen luxuriösen Duft. Klassisch, üppig und hervorragend. Die Muschel stammt aus dem normannischen Dieppe, einem der bedeutendsten Lieferhäfen für Jakobsmuscheln. Die Stadt liegt nur drei Autostunden vom Restaurant entfernt, was die phänomenale Frische der Meeresfrucht erklärt. Sie hat einen verführerischen Knusperrand, ist im Kern aber noch leicht milchglasig und schmeckt intensiv nussig – perfekt. 

Die Stimmung in dem relativ kleinen und vergleichsweise dicht belegten Restaurant ist prächtig. Es geht lebhaft zu, an keinem Tisch erkennen wir Geschäftsklientel, dafür fast überall große Weine. Man lässt es sich gut gehen. Wir können nicht genau sagen warum, doch wir hätten nicht erwartet, dass wir das alles heute hier so positiv erleben würden.

Ähnlich wie bei den Amuses folgt auf einige recht klassisch französisch geprägte Gerichte ein Gang mit asiatischem Touch. Gebratener Nordsee-Kabeljau sitzt in einem leichten Miso-Fischsud, auf dessen Oberfläche uns einige appetitliche Fettaugen anlächeln. Unter dem Filet verbirgt sich etwas Topinamburstampf, obenauf finden sich Miesmuscheln und kleine Pilzzubereitungen (rohe Scheiben und Duxelles). Die elegante Leichtigkeit dieses Gerichts kommt genau richtig, und die vermeintliche Simplizität ist in Wahrheit ein Resultat altmeisterlicher Präzision. Ganz ausgezeichnet.

Wir sind bereits ziemlich gesättigt, als der Hauptgang aufgetragen wird. Er besteht aus zwei gebratenen Rückenstücken von Milchlamm des renommierten Zulieferers »Greffefeuille«, zart, aber mit Biss und von bemerkenswert prägnantem Geschmack. Herausragend. Dazu gibt es einen exquisiten, maßvoll reduzierten Lammjus sowie eine milde Knoblauchsauce. Eine Chicorée-Roulade steuert elegante Bitternoten bei, und unter einer kleinen Nocke Rosenkohlpüree findet sich ein Stück geschmortes Lammfleisch. Ein schlaraffiger Hochgenuss, wenngleich sehr gehaltvoll.

Das gilt noch mehr für den parallel servierten á-la-Carte-Einschub: große Stücke von knusprig geröstetem Kalbsbries wird von einer stattlichen Menge schwarzem Trüffel bedeckt; was die Karte verschweigt sind die beigemischten Stücke von Blumenkohl und Gänseleber, welche den Genussfaktor ebenso potenzieren, wie die Üppigkeit. Auch diesmal werden zwei Saucen angegossen, nämlich eine Banyuls-Sauce und ein Kalbsjus – Samt und Seide in flüssiger Vermählung. Wenngleich uns das Bries durch die starke Röstung eine Spur zu trocken ist, funktioniert die Verdichtung süffiger Luxusprodukte prächtig. Hier haben wir ein Gericht, in das man sich mit Wonne »hineinessen« und ganz darin verlieren kann.

Wir sind nun pappsatt, aber etwas Käse darf man in einem derart französisch geprägten Menü nicht aussparen. Bis auf ein Stückchen Manchego sind die Exemplare unser Wahl allesamt belgischer Provenienz und allesamt ausgezeichnet sind; besonders gut gefällt ein lokaler Blauschimmelkäse aus Gent.

Das erste Dessert kombiniert Ananas mit süßer Safransauce, erfrischendem Eisenkraut und säuerlichem Sanddorn. Das schmeckt gut, aber durch die Verbindung von Ananas und Sanddorn in Summe recht sauer. Der Safran wirkt zwar leicht »wärmend«, kommt letztlich jedoch nicht gegen die bissige Säure an. Kein schlechtes Dessert, aber auch keines, das Begeisterung hervorruft

Schmeichelnder ist das zweite Dessert aus brasilianischer Schokolade (74%), die als Mousse-Kugel auf Schnitzen pochierter Birne thront. Die absolut klassische Kombi von Schokolade und Birne funktioniert naturgemäß gut und bekommt hier durch die Beimischung von Macadamianuss und herbem Hammam-Tee (eine türkische Grüntee-Mischung) einen kleinen Kick. Doch auf Dauer bleibt auch dieses Dessert bei aller handwerklichen Güte etwas eintönig.

Zum Abschluss rollt noch der berühmte Dessertwagen mit allerlei Kuchen, Puddings und Kleingebäck an. Dafür ist beim besten Willen kein Platz mehr.

Als wir das Restaurant nach Mitternacht verlassen sind die meisten Tische noch besetzt, für eine Gruppe wird gerade eine neue Flasche entkorkt. Dieses volle Auskosten des Genusses passt zu einem Haus, in dem alles etwas üppiger und vollmundiger daherkommt, als man es gewohnt ist. Französischer als in Frankreich, könnte man sagen. Die Küche im Hof van Cleve ist nicht aufregend im Sinne von Innovation, sondern erfüllend im Sinne einer selten gewordenen Wohlgeschmackigkeit. Ein bisschen altmodisch vielleicht, aber gerade das hat seinen Charme. Das Hof van Cleve wird bleiben, doch man darf wohl sagen, dass mit Peter Goossens' Abschied eine Ära der belgischen Gourmetküche zu Ende geht.

Unsere kleine Flandern-Reise hingegen hat jetzt erst begonnen. Morgen früh brechen wir nach Roseleare auf, wo im Boury die nächste Drei-Sterne-Generation wartet. Der Genuss stirbt nicht aus, schon gar nicht in Belgien.

Kai Mihm

Wein

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