Restaurantkritik  1.November 2023

DiverXO – Sinn und Sinnlichkeit

Unter Kennern gilt das ›DiverXO‹ in Madrid schon lange als eines der spannendsten Restaurants Spaniens, wenn nicht Europas. Als es vor genau zehn Jahren drei Michelin-Sterne erhielt, war Inhaber und Küchenchef Dabiz Muñoz 33 Jahre alt, was ihn zu einem der jüngsten Drei-Sterne-Chefs in der Geschichte des Guide machte. In der Öffentlichkeit gibt Muñoz sich bis heute gerne als exzentrischer Punk, mit Irokesenschnitt und frech rausgestreckter Zunge. Doch als wir ihn im Sommer 2019 zufällig am Pool des Rosewood Hotels in Hongkong trafen, zeigte er sich ganz anders, zurückhaltend, fast schüchtern.

Wie sehr diese Diskrepanz zwischen öffentlich kultiviertem Image und tatsächlichem Wesen auch auf Muñoz' Küche zutrifft, erlebte ich beim ersten Besuch des ›DiverXO‹ im Frühjahr 2019, einige Monate vor obiger Begegnung. Anders als die exzentrischen Werbeclips und die schrille Webseite vermuten ließen, waren die Kreationen weniger provozierend, als vielmehr delikat und wohlschmeckend (einen Bericht gab es damals aus verschiedenen Gründen nicht).

Ein Wiederbesuch war überfällig, und Madrid hat sich in den letzten Jahren ohnehin zu einem der gastronomisch aufregendsten Hotspots Spaniens entwickelt. Zweieinhalb Tage sind wir in der Stadt, mit Reservierungen im viel gerühmten Fischrestaurant ›Desde 1911‹ und im zweifach besternten ›Coque‹ (Berichte folgen). Ausgangspunkt war gleichwohl die Reservierung im ›DiverXO‹, die über die Warteliste klappte. Nun denn. Die Location im Seitentrakt eines gesichtslosen NH-Businesshotels wirkt dem Restaurant noch immer etwas unangemessen, und der surreal-verkitscht dekorierte Empfangsbereich sieht noch immer etwas »verkleidet« aus.

Dagegen erscheint mir das futuristische Interieur des ganz in weiß gehaltenen Gastraums diesmal nicht mehr kühl und unpersönlich, sondern auf eigentümliche Weise behaglich. Sämtliche Tische werden von transluzenten Vorhängen halb verhüllt, wie durchlässige Kokons, die Privatsphäre spenden, ohne dass man sich isoliert fühlt.  Auch der Service, beim Erstbesuch hektisch und unkoordiniert, wirkt heute von Beginn an souverän und verbindlich. Die zahlreichen Kellner tragen noch immer gut sitzende Zirkusuniformen, doch mit zirzensischen Spielereien, soviel vorab, hat das Essen hier nichts zu tun.

Ein markanter Unterschied zum letzten Besuch liegt im Menüpreis, der während der Pandemie von 250 auf 365 Euro angehoben wurde und sich damit nun auf internationalem Drei-Sterne-Niveau bewegt. Unverträglichkeiten wurden bereits im Vorfeld vom Restaurant proaktiv abgefragt, eine vorbildliche Geste. Bleibt nur noch die Weinfrage zu klären – für uns soll es gerne das Pairing sein, über das wir Begeistertes hörten. Sekunden später steht ein Glas Krug Grande Cuvée auf dem Tisch. Dann geht es direkt los.

Zu jedem Gang wird ein Din-A4-Blatt mit einer Beschreibung des Gerichts gereicht. So erfährt man zum Beispiel, dass der erste Happen eine invasive Art verarbeitet: Blaue Krabbe, gefangen an der Mündung des Guadalquivir. Das zarte, nussige Fleisch ist in einer süsäuerlichen Lake aus Reisessig, Palmzucker und geröstetem Muschel eingelegt und mit hausgemachtem Kimchi und Krabbenfett-Emulsion garniert. Zu diesem feinherben, leicht nachschärfenden Ensemble setzt ein Spieß mit Blüten und gegrillten Mini-Erdbeeren einen fruchtig-rauchigen Akzent. Das schmeckt sehr gut, aber harmloser, als angesichts der mannigfaltigen Zutaten erwartet.

Eine deutliche Steigerung bringt der nächste Gang mit sich: Galizische Tiefseegarnelen (»Camarones«), deren Köpfe superkross frittiert sind, während man die à-la-minute ausgelösten Schwänze als leicht angewärmtes Sashimi serviert. Erst am Tisch wird eine Glasur aus süßsäuerlichem Melipona-Honig aufgetragen. Zusammen mit einem Puder aus Kurkuma und Tamarinde ergibt sich ein elegant fruchtiger Akkord, der die ultrafrischen, erstaunlich intensiven Garnelen perfekt untermalt. Ein subtiles kleines Meisterstück.

Das folgende Gericht wird als »geeiste Pizza Margarita« angekündigt. In einer Schale findet sich ein luftiges, ein wenig an Kakigori erinnerindes Eisgebilde aus spanischem Ziegenmozzarella mit Thai-Basilikum, das am Tisch mit kühler, pikanter Tomatenconsommé übergossen wird. Tatsächlich schmeckt das eher wie eine Caprese-Variation – aber was für eine! Ultraintensiv nach sonnengesättigten Tomaten und kräftigem Ziegenmozzarella, reich an Umami, mit wunderbar austarierter Säure von gereiftem Sherryessig.

Den Clou bildet allerdings ein separat serviertes Stück Pizzakruste mit Shiso-Limettenpesto. Der Teig wurde zunächst gedämpft, dann frittiert und schließlich im Holzkohle-Ofen geröstet. Das Resultat dieser Dreifachbehandlung ist erstaunlich: perfekte Knusprigkeit, bei luftig-leichter Textur und einem geradezu verdichteten Pizzakrustengeschmack. Das ist nicht weniger als Weltklasse.

Als kleines Intermezzo serviert man ein Sandwich vom iberischen Spanferkel. Zwischen zwei dünnen Scheiben der superkrossen Schwarte steckt eine Mischung aus Spanferkelaufschnitt, Pecorinocreme, Srirachasauce, Totentrompeten-Pesto und verschiedenen Pfeffersorten; garniert ist diese Umami-Fulminanz mit gepökeltem Gänse-Eigelb und Totentrompeten. Sehr viel Material auf kleinstem Raum, verdichtet zu einem warmem, wohligem Happen, knusprig, weich, gaumenschmeichelnd – mit einer Schärfe, die sich erst zeitverzögert ausbreitet, wie ein neckisch kitzelnder Nachhall. Groß.

Den nächsten Gang bezeichnet Muñoz als »Nigiri«, allerdings in einer Art Dekonstruktion. Im Mittelpunkt steht ein leicht gedämpftes Rückenstück von 45 Tage gereifter Pyrenäen-Forelle, das in seiner intensiven Zartheit ebenso großartig schmeckt, wie die flankierenden Pyrenäen-Flusskrebse – nussig und leicht süßlich.

Der Sushi-Reis findet sich in drei Varianten auf dem Sushi-Holzbrett: Einige Körner in traditioneller Zubereitung vermitteln den typisch süßsäuerlichen Grundgeschmack, während ein Gnocchi aus gedämpfter Reisstärke mit Sake-Mirin-Soja-Glasur (»Nikiri«) und fermentierter Chilipaste üppigen Schmelz, Umami und Schärfe mitbringt. Die dritte und verblüffendste Reis-Variante besteht aus einem knusprigen Couscous von getrocknetem und frittiertem Sushi-Reis, aromatisiert mit einen Hauch Pinienöl. Die reinste Wonne. Exzellent schmeckt auch ein Yakitori vom fetten Forellenbauch mit Pinie, Nikiri und geraspeltem Trüffel.

Die Kunst dieses staunenswerten Gerichts besteht darin, sehr komplex und zugleich sehr »intuitiv« essbar zu sein: egal wie man kombiniert, es schmeckt immer herausragend gut. 

Im Hintergrund findet sich noch ein suppiger Eintopf (»Chupe«) aus Flusskrebsen mit Trüffel, den man zum Abschluss direkt aus der kleinen Schale trinkt, heiß, üppig, köstlich. Eine perfekte Abrundung dieser Götterspeise.

Bei einem Gang aus Erbsen und Kaviar muss ich unwillkürlich an eine Götterspeise im ›L'Ostau de Baumanière‹ mit genau dieser Kombination denken. Dort war beides nahezu pur und unbehandelt. Hier nun wurden die zarten Erbsen für »drei Sekunden« im heißen Wok gebraten, was ihren Eigengeschmack intensiviert. Dazu gibt es hervorragenden Kaviar des andalusischen Produzenten Riofrio, im Tandoor-Ofen mit iberischem Schinkenfett sanft gebacken, was sich am Gaumen allerdings kaum bemerkbar macht.
Erweitert wird das Geschmacksbild von einer mildwürzigen Creme aus Pistazie mit Jalapeño-Paprika sowie einer süßlich-herzhaften Emulsion aus Macadamia, Kokosnuss und Meerrettich; zwei Tropfen Vanilleöl dienen als Bindeglied dieser reizvollen Ying-Yang-Komposition. Doch so delikat das alles ist, reicht es nicht an die ganz aufs Wesentliche reduzierte Götterspeise im ›Baumaniére‹ heran.

Es geht weiter mit Seegurke, in schmale Streifen geschnitten, im Wok al dente geröstet, mit Aaljus glaciert und mit trockenem Sherry abgelöscht. Wow. Allein das ist bereits ein absoluter Hochgenuss. Noch besser wird es freilich durch die Saucen: eine samtige Büffelbutter-Emulsion und eine fantastische Sauce aus »Caldillo de perro«-Fischsuppe, die – ganz traditionell – von einem Hauch Sevilla-Bitterorangen anregende Frische erhält. Irgendwo kommt auch diesmal wieder eine elegante Schärfe her. Unglaublich gut. Das i-Tüpfelchen dieser süffigen Köstlichkeit bilden kleine Stücke kanarischer Kartoffel von ungekannter Geschmackstiefe – es mag profan klingen, doch es ist die beste Kartoffel, die ich je gegessen habe.

Dagegen fällt ein knuspriger Ochsenschwanzraviolo ziemlich ab. Das Fleisch wurde in Koji gereift und mit Penja-Pfefferkörnern, gebratenem Kotelettfett, gesäuertem Miso und rohen Pfifferlingen aromatisiert. Leider ist die aufwändige Miniatur nicht mehr warm und bleibt geschmacklich überraschend monoton.

Das genau Gegenteil bildet glücklicherweise die flüssige Variante, die man aus einem Rinderhorn trinkt: eine herrlich heiße, sauer-pikante Bouillon von galizischem Ochsen mit Penja-Pfefferaufguss, Pfifferlingen und schwarzem Getreideessig. Die sämige Mischung aus Schärfe, Säure, Hitze und verdichtetem Umami entwickelt beim Trinken eine geradezu atemberaubende Kraft. Stünde dieses Elixier für sich allein, wäre es die reinste Götterspeise.

Auf der Weinseite wird dazu wird ein exzellenter Echezeaux Grand Cru 2007 der Domaine des Perdrix (Burgund) gereicht. Überhaupt der Wein: Das Pairing ist weit entfernt vom üblichen Mittelmaß, was man bei einem Preis von 300 Euro auch erwarten darf – er ist angesicht der Auswahl angemessen. Allerdings sind achtzehn Weine in homöopathischer Dosierung auf Dauer mehr Anstrengung, als Genuss, weshalb wir nächstes Mal eher ein paar Flaschen von der gastfreundlich kalkulierten Karte bestellen würden.

Das bislang hervorragende Menü geht Schlag auf Schlag weiter. Im Wok glasierter »Pré-salé«-Spinat von der Guetariaküste ist mit knackigem Grünkohl und Brokkoli-Couscous angerichtet. Dazu gibt es Speck-Eis, Mandarinen-Kosho und eine Emulsion aus gerösteter Pasilla-Chili mit Vanille. Das schmeckt als »Gemüsegericht« durchaus gut, aber trotz einer anregenden Schärfe weniger interessant, als die diversen Zutaten vermuten ließen. Etwas besser gefällt die »Beilage« aus einem kleinen Stück »bleu« gebratenem Rehfilet mit Brunnenkresse, gesäuertem Sauerampfer und zitrischem Sansho-Pfeffer. In Summe bleibt das der bislang schwächste Gang.

Eine Art Tortilla in Form eines frittierten Bällchens ist in Anlehnung an japanische Takoyaki-Bällchen »Tortiyaki« betitelt, obenauf findet sich noch eine Scheibe scharf gewürztes Rindermark. Geschmacklich ist das sehr gut, handwerklich durchaus beeindruckend, außen leicht knusprig, innen cremig, heiß und üppig.

Nach dem Verspeisen der Tortilla wird das Bastkörbchen abgehoben und es kommt eine Schale mit galizischer Gemüsebrühe aus Kohl, Spinat und baskischem Chili zum Vorschein; als Einlage finden sich winzige Gemüseravioli und Entenmuscheln. Alles handwerklich einwandfrei und geschmacklich erneut sehr gut, nicht mehr, nicht weniger.

So langsam müsste das Niveau des Menüs nun wieder anziehen.

Glücklicherweise tut es das auch, mit einem Gericht um Enten-Innereien: auf einem Stückchen köstlich gegrillter Foie gras ruht Entenhirn, das vor allem durch seine cremige Textur gefällt; Geschmack bekommt es durch eine verfüherische glänzende Lackierung aus intensiv reduziertem Entenjus. Zur cremigen Süße dieser beiden Innereien gesellt sich eine pikante Gazpacho aus grünen Tomaten und Serrano-Chili, ein Kontrast, der am Gaumen für Lebendigkeit und Frische sorgt. Köstlich munden auch frittierte und gepuffte Entenzungen, die uns in Sekundenschnelle zu einer völlig gegensätzlichen Textur bringen. Den Abschluss bilden gegrillte Herzstücke, herzhaft gewürzt, von zartem Biss und kräftigem Geschmack. Nach ein paar verhaltenen Gerichten ist dieser Teller nun wieder herausragend.

Es folgt ein jüngerer »Klassiker« aus Muñoz' Repertoire, mit dem Titel »Galizischer Hummer, der an den Stränden von Goa erwacht«. Das Krustentier wurde im Tandoor zu buttriger Zartheit gegart und ist mit Büffelmilchhaut auf Kurkuma- und Rote-Bete-Puder angerichtet. Cremiges Massala aus Tomaten und Büffelbutter sowie ein fruchtiges Tomatillo-Chutney unterstreichen den indischen Charakter des Gerichts. Das schmeckt alles gut, wirkt aber wegen der plakativen Aromatik und der getupften Anrichtweise etwas überholt. Am besten gefällt eine Nocke Sushireis, mit Rote Bete aromatisiert, der charmant zwischen erdigen, süßlichen und getreidigen Noten changiert.

Ausgezeichnet schmeckt auch ein im Hummerkopf serviertes Vindaloo aus den Hummerkopf-Innereien – heiß, kräftig und betont pikant.

Separat gibt es noch ein indisches Pani-puri, das mit dicker spanischer Brot-Tomatensuppe (»Salmorejo«) gefüllt ist und von Hummerscherenfleisch mit süßlich-scharfer XO-Sauce getoppt wird. Ausgezeichnet. 

Kurz darauf erkundigt sich unser sympathischer Kellner, ob wir noch Kapazität für einen Extragang hätten, den die Küche gerne einschieben würde – was für eine Frage!

Wenige Minuten später steht der Teller vor uns, darauf ein Stück Kabeljau, auf Sake-Hefe gereift, in der Pfanne geröstet und mit kräftigem Jus aus den Karkassen und Rotwein glaciert. So weit, so exzellent. Die wirklich spannende Komponente thront allerdings auf dem Filetstück: Der Samen des Fischs (»Shirako«), der in Salz eingelegt, in Sake pochiert und scharf angebraten wurde. Es kostet mich ungefähr zwei Sekunden Überwindung, dann probiere ich – und bin begeistert.
Man verspeist Seeigelrogen und Fischeier, warum also nicht auch den Samen? Muñoz serviert die Delikatesse sehr pur, ohne kaschierende Beigaben, dafür mit appetitlich krustigen Stellen. Das Mundgefühl erinnert an Kalbsbries, nur etwas homogener, zarter und weniger mastig. Der Geschmack ist mild maritim und feinherb. Eine wohlschmeckende Erweiterung des kulinarischen Horizonts.

(Notabene: Im Wiener ›Mraz & Sohn‹ hatten wir einst eine exquisite Suppe mit Fischmilch)

Womit wir beim nominellen Hauptgang des Abends angelangt sind. Er trägt den wortreichen Titel »Was ist das beste an einem Rescoldo-Eintopf? Die Reste am Topfboden!«. Auch ohne Kenntnis eines »Rescoldo« versteht man, was gemeint ist. Um den gewünschten Effekt zu erzielen, hat man einen Eintopf aus edlem galizischem Mos-Hähnchen sehr langsam reduziert, bis die Sauce leicht karamellisiert. Im Bild erkennt man die köstlichen Verkrustungen an der Innenwand des Topfes, in dem das Gericht serviert wird. In der dick eingekochten Sauce finden sich Stücke vom mürben Keulenfleisch sowie der weiche Hahnenkamm, beides mit gelber Mole überzogen.

Außerdem sind da asturische Favabohnen in einer Beurre blanc aus Bohnenemulsion sowie »verkochter« Mangold, vollgesogen mit Bratensauce, weich, saftig und süffig. Ein Stück der Hähnchen-Unterkeule sitzt als krosser Chip (»Torrezno«) auf dem Topfrand. Zwischendrin finden sich Korianderblättchen, einige Tropfen Kalamansi-Creme und pikantes Chilli-Öl. Das alles ist nicht von subtiler Eleganz, sondern von sinnlich-süffiger Üppigkeit. 

Ein Highlight findet sich à part, nämlich ein asturischer Mais-Taco mit Salat und gesäuerten Kürbisblüten, den man zum schweinischen Aufwischen der Sauce benutzen soll – ein mundfüllender Genuss, knackig, säuerlich-frisch und saucig-triefend. Wunderbar.

Ein charmantes Detail: Zum Eintopf (und vorher schon zur Forelle) wird eine Illustration gereicht, die das Konzept und die Anrichteweise visualisiert.

Wir ringen inzwischen mit erheblicher Sättigung. Auf die Desserts sind wir dennoch gespannt. Den Auftakt macht eine Kreation um süße Blumenkohlcreme, die in Geschmack und Textur an rohen Kuchenteig erinnert und doch ganz eigen schmeckt – eigenartig exzellent. Gepökeltes Eigelb mit Vanille verstärkt den Kuchenteigcharakter, säuerlicher griechischer Joghurt macht die gehaltvolle Creme leichter, peruanische Luftschokolade erweitert die Palette um Textur und dunklere Aromen. Große klasse.
Bemerkenswert: neben herkömmlichem Besteck bekommt man auch einen kleinen, an Backwerkzeug erinnernden Gummilöffel gereicht, von dem das Ganze tatsächlich erst richtig großartig schmeckt – ein verblüffender Effekt.

Das zweite Dessert stellt Milchreis in den Mittelpunkt. Er ist mit brauner Butter, Rote Bete, weißem Pfeffer und Muskatnuss aromatisiert – eine grandiose Melange erdig-süßlicher Üppigkeit, mit einem Hauch Schärfe, luxuriös umspielt von gehobeltem Sommertrüffel, dessen mildes Aroma es hier ideal trifft: nur ein Hauch. Traumwandlerisch balanciert man hier auf dem schmalen Grat zwischen Süße und Herzhaftigkeit. Ich habe Milchreis als eine Lieblingsnachspeise schon oft »anders« gegessen, aber noch nie besser.
Damit ist allerdings noch nicht alles gesagt, denn unter dem Reis verbergen sich Spaghetti aus altem Madeira, die mit ihrer herbsüß-oxidativen Note glänzend zu Trüffel und Rote Bete passen. Eine Eiskugel aus der Reismilch, gefüllt mit Rhababercreme, ist da fast zu viel des Guten.

Die Petits Fours bestehen aus japanischen Mochis, etwas albern auf Plastik-Zylinderhüten serviert. Ich probiere lediglich ein Espresso-Mochi mit Mini-Croissant sowie ein Käsekuchen-Mochi mit 36 Monate gereiftem Parmesan, einem Hauch Stilton und Cabernet-Sauvignon-Essig-Reduktion. Beide auf Weltklasse-Niveau.
Für den Rest bin ich definitiv zu satt, doch Thierry versichert sich ihrer ähnlich hohen Güte. Als da sind: ein Brombeer-Mochi mit Veilchen, marokkanischer Zitrone, violetter Mangostan und geröstetem Sesam; ein Mochi von Kalamansi-Curd mit Eigelb, Limette, Vanille und konfiertem Ingwer, sowie ein Kalamansi-Marshmallow.

Dieser japanisch-europäische Abschluss steht vielleicht exemplarisch für Dabiz Muñoz' Küche, die mit den Klischees spanischer Avantgarde noch nie viel zu tun hatte. Viel mehr ist er von seinen gut dokumentierten Reisen nach Asien inspiriert, von kulinarischen Metropolen wie Bangkok, Tokio und Seoul (bereits der Restaurantname referenziert die Hongkonger XO-Sauce). Mehr noch als 2019 kombinierte Muñoz im heutigen Menü traditionelle spanische Rezepturen mit seinen gesammelten Eindrücken zu einem ganz eigenen Stil – wobei »kombinieren« der falsche Begriff ist: Er verschmilzt die kulinarischen Welten miteinander, im Idealfall zu Gerichten von geradezu frivoler Köstlichkeit.

Muñoz sucht beim Kochen nicht das Experimentelle, sondern das Sinnliche. Man muss sich lediglich eines seiner Verkostungsvideos auf Instagram ansehen (und anhören!), um zu verstehen, worum es dem Mann geht: wollüstigen Genuss. Dazu passt auch, dass fast jede Speise von einer kitzelnden Schärfe getragen wird.

Ob wir jedem Gang des Menüs in Summe drei Sterne anheften würden, wissen wir zwar auch Wochen später nicht genau. Vielleicht hätten wir uns da noch mehr »Herausforderndes« gewünscht. Außer Zweifel steht in jedem Fall, dass hier mit außerordentlichen Produkten und sinnvoller Kreativität auf äußerst hohem Niveau gekocht wird.

Als wir das Restaurant gegen ein Uhr nachts verlassen, herrscht auf der Straße jugendliche Partystimmung, urban und unbekümmert. Irgendwie passt das. Kurz nach dem Besuch lese ich, dass das ›DiverXO‹ im kommenden Jahr auf ein Landgut vor den Toren Madrids umziehen wird. Dem Geist des Restaurants ist das sicherlich angemessener, als der Seitentrakt eines NH-Businesshotels. Wir werden sehen … Ja, doch, das werden wir bestimmt.

Kai Mihm

Wein

Krug Grande Cuvée Edition 171 Brut, Champagne
Trimbach, Clos Saint Hune 2012 "Magnum", Elsass
Domaine Huet, Le Haut-Lieu Moelleaux Premier Trie 1990, Vouvray
Sake Brewery Saura Urakasumi (DiverXO), Junmai Daiginjo 'M'
Chateau Cos D'Estournel Grand Cru Classé 2000 "Magnum", Saint-Estephe
Gaja Sperss 2013, Barolo
Georges Laval, Les Chênes Premier Cru Brut Nature 2018, Champagne
Rafael Palacios Sorte Antiga 2020, Rioja
Fleury Pére & Fils, Symphonie D'Europe Extra Brut 1992, Champagne
Tradición, Palo Cortado 1975 "Magnum", Jerez
Álvaro Palacios Quiñón De Valmira 2016, Rioja
Luis Perez, La Barajuela Raya 2016 (Saca Especial DiverXO) "Magnum"
Domaine Des Perdrix, Echezeaux Grand Cru 2007, Burgund
Perez Barquero, Solera De Amontillado 1955, Montilla Moriles
M. Chapoutier, Le Méal 2011, Hermitage
Bodegas Cvne, Viña Real Gran Reserva 1975, Rioja
Brännland Cider, Brännland Iscider Fatlagrad Barrique 2018, Vasterbotten
Château Climens, Premier Grand Cru Classé 1975, Sauternes
Reichsgraf Von Kesselstatt, Kaseler Nies'Chen Eiswein 2002, Mosel
Toro De Albala, Don PX Convento Selección 1946, Montilla Moriles

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