
Coque – Familiensache
Am Mittag vor unserer Abreise aus Madrid haben wir in einem Restaurant reserviert, über das wir kaum etwas wissen: das ›Coque‹ gehört zu jenen zahlreichen spanischen Zwei-Sterne-Restaurants, die außerhalb des Landes praktisch unbekannt sind. Das macht die Sache umso spannender.
Als wir um kurz nach ein Uhr am Restaurant eintreffen, wird gerade erst die Tür aufgeschlossen. Drinnen plaudert Küchenchef Mario Sandoval noch mit seiner Familie – was auch für uns zu einem sympathischen Gespräch mit seiner Frau Cristina führt, die uns als Gastgeberin direkt zur ersten Station des Mittags geleitet…

… Unterwegs erzählt sie uns, dass sich in dem Gebäude einst ein angesagter Nachtclub befand. Erst im Juli 2017 bezog das ›Coque‹ die Räumlichkeiten, deren Weitläufigkeit man für eine Art »immersives« Erlebnis nutzt. Die erste Station ist eine Cocktailbar mit angeschlossenem Kino, vermutlich für private Veranstaltungen. Das Flair hat hier durchaus noch etwas von einem eleganten Club.

Beim Hauscocktail, einer Art Dry Martini mit würziger »Räucherblase« on top, erfahren wir ein wenig über die Historie des Hauses: Das ›Coque‹ wird in dritter Generation von der Sandoval-Familie geführt und ist nach dem Spitznamen des Großvaters benannt, der das Restaurant 1955 mit seiner Frau im Madrider Vorort Humanes eröffnete. Heute leiten drei der vier Enkelsöhne die Geschäfte: Mario als Küchenchef, Diego als Manager und Rafael als Sommelier. Solche familiären Konstellationen sind in Spanien nicht untypisch, siehe die Gebrüder Roca und Torres. Den ersten Stern für das ›Coque‹ gab es 2004, den Zweiten 2015.
In der Bar werden auch die ersten Amuses serviert (kein Foto). Eine nicht zu große und angenehm festfleischige Auster mit Jalapeños (für Thierry) schmeckt ebenso vorzüglich erfrischend, wie (für mich) eine walnussgroße Kugel würziges Bloody Mary-Sorbet. Beides passt ausgezeichnet zum Cocktail mit seinen warmen Noten von Wermut und Malfy-Gin.

Ebenfalls hervorragend schmeckt ein hauchdünn-knuspriger Mais-Taco mit sanfter Foie gras (als Creme und gehobelt), bei der herzhafter Miso die Süße ausbalanciert. Stark.
Nach einer angenehmen Pause, in der wir den Drink leeren, bittet man uns zur nächsten Station…

… nämlich den eindrucksvollen Weinkeller des Hauses. Hier übernimmt der Sommelier Álex Pardo, von dem wir erfahren, dass der Keller mit über 25.000 Flaschen zu den umfangreichsten Spaniens gehört, neben dem ›Can Roca‹ in Girona und dem ›Atrio‹ in Cáceres. Die Kehrseite: Wie auch letzteres Restaurant wurde das ›Coque‹ im vergangenen Jahr von Einbrechern heimgesucht, die gezielt 132 Weinflaschen im Gesamtwert von 150.000 Euro stahlen.

Im Weinkeller werden zwei weitere Snacks aufgetragen. Ein kühles Jakobsmuschel-Ceviche präsentiert ein exzellentes Produkt in geheimnisvoll-würziger Rahmung; drei Granatapfelkerne steuern neben Süßsäuerlichkeit auch etwas Biss bei. Noch besser schmeckt eine lauwarme, fleischige Venusmuschel aus Galizien in cremiger Albariño-Sauce. Die Filigranität und Präzision sämtlicher bisherigen Snacks ist bemerkenswert.

Anschließend geht es in einen kleinen Nebenraum des Weinkellers, die »Sakristei«, wo allerlei edle Sherrys lagern, darunter unverkäufliche Raritäten. Man muss kein Aficionado dieses Getränks sein, um hier ins Staunen zu geraten. In einer ledernen Schatulle warten auch schon die nächsten Küchengrüße, daneben Sherry-Gläser…

Zu einem Glas Fino Sherry gibt es in hauchdünnen Knusperteig verpacktes Stier-Tatar, hochintensiv, »dunkel«, von etwas Senf würzig aufgefrischt. Sehr stark. Ebenfalls hervorragend schmeckt eine kleine Sardine (»Parrocha«) in milder Sherryessig-Lake, zart, herzhaft und elegant. Dazu ein Stück gutes Brot und man könnte uns schon glücklich machen.
Als besondern Clou darf man hier unten noch einen einhundert Jahre alten Sherry verkosten, der aus einer riesigen Pipette direkt auf den Handrücken geträufelt wird – mehr als zwei Tropfen sind nicht notwendig, um die an alten Balsamico erinnernde Komplexität dieses süßsauren Elixiers zu erkennen (und mehr davon würde die adstringierende Wirkung vermutlich auch ins Unangenehme kippen lassen).

Die letzte Station des Vorspiels führt uns in die weitläufige Küche. Eine junge Köchin richtet gerade gegrillte Seegurke mit herzhaftem Aji-pilpil und knusprig frittierten Mini-Garnelen an, ein tolles Spiel mit maritimen Aromen und Texturen.
Während unserer kleinen »Tour« laufen uns hier und da die jungen Kinder der Sandovals über den Weg, für die das Restaurant naturgemäß ein zweites Zuhause und ein gewaltiger Abenteuerspielplatz ist. Auch so etwas verleiht einem Haus Charme und Seele (für uns als Väter umso mehr).

Die abschließende Miniatur kombiniert Rambutan, eingelegte Meeresschnecken und Puder von gefriergetrockneten Tomaten. Süße, Säure und Umami, Biss und Schmelz – alles da, alles ein bisschen anders. Einmal mehr exzellent.

Nun geht es in den Speisesaal, der mich mit seiner kunterbunt-postmodernistischen Innenarchitektur an »Alice im Wunderland« denken lässt, warum genau, weiß ich selbst nicht (Notabene: das Interieur entwarf der spanische Stardesigner Jean Porsche). Neben dem Hauptraum, in dem wir heute sitzen, gibt es noch weitere Gasträume.

Das Menu, dessen Preis mit 340 Euro in der obersten Liga spielt, wird vegetarisch eröffnet. In einem Likörglas funkelt eine klare Gazpacho von Moruno-Tomaten mit weißem Tomatenschaum, kühl, intensiv und ungeheuer »rein«. Grandios. In einem Schälchen finden sich zudem gehäutete und gebratene Kirschtomaten in einem Tomatensud mit etwas Tomatengranité. Diese kleine, schlicht anmutende Variation erweist sich als atemberaubende Verdichtung puren Tomatengeschmacks, bereichert durch subtil eingeflochtene Würze von Basilikum und Minze. Das ist nicht weniger als Weltklasse.

Der zweite Gang wirkt rein optisch sehr verspielt. Eine geeiste Blütenform aus Pistazie ist mit Olivengazpachuelo gefüllt, dazwischen Schaum von Pistazien und Craft Beer. Was wie ein Dessert aussieht, erweist sich mit dem ersten Löffel als ungeheuer fein austarierte Kreation von vielschichtiger Herzhaftigkeit. Dazu in der Mitte der »Blüte« eine Nocke Beluga-Kaviar, dessen maritime Salzigkeit sich luxuriös ins Bild fügt – Olive und Kaviar, wer hätte das gedacht! Meisterhaft.

Wir bleiben auf diesem Niveau. Auf einem tiefen Teller sind roh ausgelöste Mittelmeergarnelen (»Quisquilla«) sternförmig angerichtet, am Tisch wird eine leicht lauwarme Maissuppe angegossen. Im ersten Moment könnte man das für zu süßlich halten, sehr schnell setzt sich aber eine anregende Herzhaftigkeit durch, unterstrichen durch einige Körner würzigen Knuspermais. Zusammen mit den zarten, leicht jodigen Garnelen entwickelt das eine filigrane und doch vollmundige Eleganz. Das lässt sich erneut nur als meisterhaft bezeichnen.

Recht unscheinbar kommt ein Zweierlei von der Krabbe daher. Auf einem Löffel verbirgt sich ein Tatar von Blauer Krabbe unter einem Corail-Air – das schmeckt sehr gut, wäre aber mit einer Prise mehr Salz noch deutlich besser. In einem ausgehöhlten Krabbenpanzer ist Rote Krabbe als cremiges Ragout verarbeitet, garniert mit feinen Streifen von Frühlingszwiebeln und milder Ibarra-Chili. Das changiert ein bisschen zwischen »subtil« und »profan«, doch sehr gut schmeckt es allemal.

Nachdem die Zubereitungstechniken des bisherigen Menüs relativ traditionell wirkten, kommt der folgende Gang geradezu »molekular« daher, zumindest optisch. Unter einem sehr zarten Milch-Gelee verbergen sich Grüne Kichererbsen mit Pesto, drumherum eine samtige Sauce aus Parmesan-Buttermilch, in der sich wiederum Basilikumperlen finden. Die experimentelle Optik täuscht, denn alles hier dient dem reinen Wohlgeschmack zwischen vollmundiger Cremigkeit, Kräuterfrische und der Zartheit der Grünen Kichererbsen, die jung geerntet werden, bevor sich die Hülse braun färbt. Sehr stark.
Mittlerweile – es ist gegen 15 Uhr – sind fast alle Tische besetzt, bemerkenswerterweise überwiegend mit Familien, die sich einen genussreichen Samstagmittag gönnen.

Unterdessen geht unser Menü Schlag-auf-Schlag weiter, es ist die pure Freude. Eine Tranche von eingelegter und gebackener Entenleber sitzt in einem Amontillado-Fond und wird von zwei Würfeln vollreifer Mango flankiert. Die Leber hat eine appetitliche braune Kruste und ist beim Anschneiden von jener elastischen Spannkraft, die herausragende Qualitäten kennzeichnet. Im Mund dann … der Schmelz, der delikate Geschmack, »gepusht« von ein paar groben Salzflocken und dem leicht oxidativen Sherry-Fond… Allein weil dieser Fond eine Spur zu süßlich ausfällt rufen wir keine Götterspeise aus. Egal, es schmeckt fantastisch – so fantastisch, dass ich sogar noch den letzten Bissen von Thierrys Teller verputze.

Weiter im Takt, mit einem Dreierlei vom Thunfisch. Da ist eine dünne, lauwarm angegarte Bauchscheibe mit kräuterfrischer »Mojo verde«, daneben ein zartes Tatar vom Rücken in cremiger Thunfischmark-Gazpachuelo, sowie eine etwas kernigere Scheibe vom gepökelten Bauch mit feinherbem Gewürzrand. Diese grandiose Produktschau stellt konzeptionell ähnliche Gerichte, zum Beispiel bei Quique Dacosta, locker in den Schatten. Ein Wahnsinnsprodukt wird hier meisterhaft minimalistisch inszeniert. Da ist sie nun, die Götterspeise.

Das Niveau des bisherigen Menüs ist außerordentlich – und die Küche nimmt den Fuß nicht vom Gaspedal, auch wenn diese Umschreibung viel zu grob für Mario Sandovals fein ziselierte Küche ist. Das zeigt sich auch bei kleinen Stücken von mild geräuchertem Tintenfisch in seiner Tinte, angerichtet in gegrillten süßen Zwiebeln mit Osietra-Kaviar und einem schwarzen Fond aus fermentiertem Gemüse. Man kennt sämtliche Zutaten, doch so haben wir das alles noch nicht gegessen. Eine Handvoll göttlich süffiger Happen zwischen Rauchigkeit, Süße, Salz und dunklen maritimen Aromen. Es ist kaum zu glauben.

Der Hauptgang bildet eine Hommage an das ursprüngliche ›Coque‹, dessen berühmteste Spezialität Spanferkel war. Aus dem Ofen kommt saftige, butterzarte Spanferkelschulter mit perfekt knuspriger Haut, daneben konfiertes, herrlich durchwachsenes Kotelett mit süßlich-herzhafter Melasse-Glasur. Es gibt dazu weder Saucen noch Beilagen, die das Geschmacksbild ohnehin nur verwässern könnten.
Das Fleisch der weichen Spanferkelfüße, in Spanien eine Delikatesse, hüllt Sandoval in wolkenzarten Teig und serviert sie als »Saam« auf einem Perrilla-Blatt. Würze von Zitronengras und ein Topping aus säuerlichen Früchten (u.a. Physalis) geben dem weichen, sehr herzhaften Umami-Happen eine wunderbare Frische. Besser kann man das alles kaum machen.

Die Portionen des sehr umfangreichen Menüs sind ideal austariert, sodass ich dem Dessert mit Freude entgegenblicke – wobei ich das ohnehin immer tue. Ein Sorbet von eingelegten Erdbeeren schmeckt bemerkenswert intensiv und »irgendwie anders«; die Nocke liegt auf cremig-knusperndem Käsekuchen-Popcorn, ein paar Erdbeerschnitze und etwas Erdbeergel runden diese schmackhafte Variation eines »Erdbeer-Käsekuchens« ab.
Separat gibt es eine eine hauchdünne Kugel aus Gewürzschokolade, gefüllt mit Kirsch-Coulis und Kaffeesahne, was sehr ansprechend an Schwarzwälder-Kirsch erinnert. Beide Kreationen schmecken mehr als sehr gut, lassen aber nicht erahnen, was gleich kommt...

Am Tisch bereitet ein Kellner mit souveränem Geschick flambierte Heidelbeeren zu. Welcher Alkohol dabei zum Einsatz kommt, habe ich vergessen, doch das spielt keine Rolle, denn die unterhaltsame Prozedur dient einzig dazu, den Eigengeschmack der Beeren zu verstärken.

Serviert werden die warmen, hocharomatischen und mit Sauce vollgesogenen Heidelbeeren mit einem fantastischen Sorbet von geräucherter Schafsmilch. Das klingt simpel, und ist doch eines der besten Desserts des Jahres. Eine Götterspeise sowieso.

Die spielerisch auf einem Miniatur-Karussell servierten Petits fours sind ebenfalls sehr gut, aber nur noch ein Nachgedanke.

Damit endet nach kurzweiligen vier Stunden ein Menü von beeindruckend hoher Güte. Produkte, Handwerk, Köstlichkeit, alles da. Vor allem gelingt Mario Sandoval eine Gratwanderung zwischen Tradition und Moderne, die in keinem Moment forciert oder aufgesetzt wirkt, sondern den Kreationen eine Identität verleiht. Das Menü changiert zwischen schlüssiger Komplexität und sensibler Simplizität, kreativ im Geiste eines Klassizismus. Das sind Eigenschaften der ganz großen Küchen. Als brüderlich geführtes Restaurant steht das ›Coque‹ in einer Reihe mit dem ›Can Roca‹ und dem ›Cocina Hermanos Torres‹. Ein auffallender Unterschied liegt in der Bewertung durch den Guide Michelin. Das kann man drehen und wenden, wie man will – nachvollziehen lässt es sich nicht.
Kai Mihm
Wein

Bar: Cocktail Coque Club Malfy Gin
Weinkeller: Louis Roederer Collection, Champagne
Sakristei: Fino Coque, Bodegas Osborne, Jerez
Küche: Alhambra 1925, Pétalos de rosas
Laurent-Perrier Grand Siècle N°26, Champagne
Ossian Capitel 2020, Castilla-León
Albariño de Fefiñanes III Año 2020, Rías Baixas
Gaja Gaia & Rey 2020, Langhe
Apóstoles VORS, Jerez
La Infanta Mikaela 2020, Castilla
Quiñón de Valmira 2016, Ca Rioja
Vega Sicilia Unico 2012, Ribera del Duero
Château d Yquem 2013, Sauternes
Graham's Tawny 30 yrs, Porto