Zilte – alles neu
Unser erster Besuch im damals zweifach besternten »Zilte« vor genau zehn Jahren haute uns förmlich um. Die Kreativität, die Originalität und der schiere Wohlgeschmack waren schwindelerregend; dazu eine gelöste Atmosphäre, ohne Tischdecken, mit humorvollem Service. Dies alles waren Attribute, die man im Jahr 2012 in Deutschlands besten Restaurants noch relativ selten antraf. Weitere Besuche des Restaurants, das damals noch »‘t Zilte« (Das Salzige) hieß, bestätigten den überaus positiven Eindruck.
Anfang 2021, mitten in der Pandemie, wurde das Restaurant von Viki Geunes schließlich mit dem dritten Stern ausgezeichnet. Für manche Beobachter kam das überraschend, für uns nicht so sehr. Auf jeden Fall war es ein willkommener Anlass, dort wieder einmal einzukehren. Am Ende dauerte es dann doch anderthalb Jahre, bis wir es nach Antwerpen schafften.
Das Restaurant befindet sich zwar noch immer im obersten Stockwerk des MAS - Museum aan de Stroom, doch als wir aus dem Fahrstuhl treten fühlt sich irgendetwas anders an. Auf Nachfrage wird das Rätsel gelöst: das »Zilte« ist auf die andere Seite der neunten Etage gezogen. Der Ausblick auf die Stadt ist hier noch eindrucksvoller. Die entscheidendste Veränderung betrifft allerdings das Interieur: Dunkles Holz und samtige Stoffe, gedeckte Farben und weiße Tischdecken verleihen dem Raum einen Touch London oder New York. Allerdings ist dadurch die luftige Lässigkeit einer fast schon britischen Förmlichkeit gewichen, was sich auch beim Service bemerkbar macht. Es ist alles gut, edel und schön, aber ein komplett anderes Restaurant als zuvor. Bleibt abzuwarten, ob dies auch auf das Essen zutrifft. Es gibt ein omnivores und ein vegetarisches Menü. Ersteres soll es heute sein.
Die ersten Amuses werden in einer offenen Lounge neben dem eigentlichen Gastraum serviert, lichtdurchflutet und mit Blick auf eine offene Küchenstation, wo zwei Köche die Snacks fertigstellen. Den Anfang macht eine blütenförmige Waffelrosette, die gerne mit Japan assoziiert wird (was sicher mit Christian Baus kongenialer Verwendung zusammenhängt), tatsächlich aber eine lange Tradition in Schweden hat. Hier ist das knusprige Gebäck mit einem Makrelen-Nori und japanischem Curry angerichtet, ein leichter Happen, getragen von filigraner Knusprigkeit und einer hervorragenden Fischqualität; allein das Curry dürfte etwas präsenter sein. Eine zeitgleich servierte Kreation aus Gurke, Avocado und Jalapeño auf knusprigem Nori-Cracker erfreut durch kühle Frische, Schmelz und hintergründige Würze. Sehr gut.
Weiter geht es mit einem Törtchen aus krossem Kartoffel-Fadenteig und Lachstatar mit geräuchertem Käse und Kräutergelee. Wie die vorherigen Kreationen lebt dieser Happen vom filigranen Zusammenspiel aus Schmelz und ansprechender Knusprigkeit, fein justierter Würze sowie einer bemerkenswerten Fischqualität lebt. Erneut sehr gut.
Als echtes Highlight erweist sich eine Art Sandwich aus Dinkelteig, gebacken wie ein flaches Mille-feuille. Die leicht luftigen und perfekt krossen Teigscheiben erinnern optisch an »Finn Crisp« und sind mit einer Creme von Geflügelleber geschichtet; obenauf ein Tupfer Umeboshi-Gelee. Die zwei, drei Bissen bieten ein wundervolles Texturspiel und kräftigen Geschmack zwischen »dunkler« Getreidigkeit und molliger Lebercreme. Stark.
Den Abschluss des ersten Aktes bildet ein Knusperkörbchen, gefüllt mit Schaum von Grünem Spargel, unter dem sich knackige Spargelstückchen verbergen. Der Teig ist hauchzart und perfekt kross, der Spargelgeschmack fast unwirklich intensiv – nur ist uns das Körbchen zu groß und die dichte Creme dadurch viel zu viel. Der Mund voll intensivem Schaum gehört nicht zu unseren liebsten Geschmacks- und Texturerlebnissen.
Nun werden wir zu unserem Tisch geleitet, wo man das letzte Amuse serviert. Stücke von rohem Carabinero verbergen sich unter Röllchen von Daikon-Rettich mit Ricotta und sind mit einer Art Vinaigrette aus fermentiertem Rhabarber angemacht. Auch diese kleine Kreation besticht durch das feinjustierte Zusammenspiel von natürlicher Süße und Säure, Biss und Cremigkeit. Ein dazu gereichtes, hauchdünnes Fladenbrot, in das Frühlingszwiebeln und Schnittlauch eingearbeitet sind, bringt zusätzliche Knusprigkeit und Würze ein. Ganz hervorragend.
Anschließend werden zwei Sorten Brot mit Salzbutter und Olivenöl auf den Tisch gestellt. Ein exzellentes Blätterteig-Brioche gefällt mit bilderbuchartiger Fluffigkeit, filigraner Kruste und gehörigem Butteranteil (wenn auch nicht so extrem, wie im »Jordnaer«). Der Star ist allerdings das Fougasse, ein typisch provençalisches Brot, das hier mit einer phänomenal krossen, appetitlich glänzenden Kruste begeistert – im ersten Moment erinnert sie optisch an die krachende Schwarte eines perfekten Schweinebratens. Erstaunlicherweise ist die Brotkrume, obwohl mit Olivenöl gebacken, keineswegs »fettig«, sondern saftig-weich. Die Kresse obenauf dient keineswegs nur der Zierde, sondern bereichert das Brot mit pfeffrig-frischer Würze. Ein Hochgenuss.
Der erste Gang, eine Art Terrine von rohem Heilbutt mit Meersalat (Ulva lactuca), schmeckt zart und aromatisch. Dazu gibt es winzige, leicht nussige Brokkoli-Röschen sowie hauchdünne, getrocknete Scheiben vom Brokkoli-Strunk, die vor allem knuspernde Textur beisteuern. Eine leicht aufgeschäumte, zurückhaltend dosierte Galgant-Sauce verleiht dem Ensemble einen Hauch Exotik. In seiner delikaten und filigranen Art ist das alles sehr gut.
Während wir noch am Essen sind, wird überraschend ein zweiter Teller auf den Tisch gestellt…
… oder besser gesagt: eine Schale. Darin sitzt ein prächtiger, ausgelöster Schwanz vom Kaisergranat mit einem kleinen Kräuterstrauß, etwas Sauce und ein paar winzigen Knusperelementen. Das herrlich heiße Krustentier ist von herausragender Güte und exakt so gegart, wie wir es lieben, nämlich innen nicht mehr roh, sodass das Fleisch Elastizität und knackigen Biss bekommt. Weshalb immer noch viele Küchenchefs alle möglichen Krustentiere kaum gegart und dadurch labberig weich servieren, ist uns ein Rätsel.
Hier jedenfalls ist der Kaisergranat perfekt, ein Gericht von träumerischer Harmonie. Wir fragen uns lediglich, weshalb man eine solche Exzellenz nicht als eigenen Gang serviert. Denn trotz ähnlicher Würze und Einfassung erschließt sich uns der Bezug zum Heilbutt nicht. Auch das Hin-und-her zwischen zwei Tellern finden wir eher anstrengend. Von der Güte beider Zubereitungen sollen diese Gedanken jedoch nicht ablenken.
Der nächste Gang ist ein junger Klassiker des Hauses: Streifen von butterzartem Tintenfisch sind zu einer Art Rosette angerichtet, obenauf eine gute Nocke Imperial Heritage Kaviar »Private Selection« mit leicht nussiger, mild-salziger Aromatik; am Tisch wird ein formidabler Jus von Roscoff-Zwiebeln angegossen. Umami, Salz und Meer, warm und kühl: essbare Poesie! In seiner perfekten, produktfokussierten »Einfachheit« ist dieser Gang nicht weniger als Weltklasse.
Umso weniger verstehen wir, dass auch hier ein á-part gereicht wird, nämlich ein Blini mit Thunfischbauch und Kaviar. Aufgrund des allzu dominanten Teigs klingt das leider wesentlich besser, als es schmeckt. Notwendig ist es sowieso nicht, denn es lenkt nur vom grandiosen Hauptteller ab.
Weiter geht es mit einer prachtvollen gegrillten Auster, flankiert von kleinen Streifen lackiertem Aal. Eine paar Blätter Hijiki-Alge intensivieren das Meeresaroma. Das Ensemble ruht in einem leicht »öligen«, mit Eisenkraut aromatisierten Sud, der vor allem die dunklen Aal-Aromen beinahe »sommerlich« aufhellt. Überhaupt steht der Aal mit seiner würzig-süßlichen Umami-Power im Vordergrund, die Auster wird zur Nebensache. »Objektiv« betrachtet ist dieses Gericht sicherlich sehr gut, von uns jedoch kein Favorit.
Beim nächsten Teller thront ein in hauchdünne Spargelstreifen gewickeltes Seebarsch-Filet in einem Kranz aus Saubohnen, Kräutern und Bärlauchblüten. Kleine Stücke von Messermuscheln und Spargel sowie eine leichte Beurre blanc unterstreichen das sommerliche Geschmacksbild. In sich ist das sehr stimmig, der Fisch ist saftig, die Bohnen knackig, die Sauce geschmeidig. Alles ist bis ins Detail abgestimmt, es schmeckt zugänglich und gefällig – eine sichere Sache, auf Dauer aber auch etwas monoton.
Mehr Spannung bringt der blaue Hummer auf den Teller. Das zarte Fleisch ist von Yuzu-Koschu und einer pikanten, mild orientalischen Sauce überzogen (wir haben es nicht notiert, tippen aber auf Vadouvan) und wird von einer geschmorten, unglaublich komplex schmeckenden Karotte mit frittiertem Thai-Basilikum flankiert – allein dieses Duo hat bereits große Klasse. Als i-Tüpfelchen liegt noch ein knuspriger Cannelloni vom Scherenfleisch auf dem Teller, intensiv und elegant. Irgendwo sind auch Datteln verarbeitet, deren Süße immer wieder hintergründige Akzente setzt. Ein Teller zum Schwelgen, der in seiner leichtfüßigen Exotik nicht weniger als exzellent ist.
Ebenso gut gefällt uns der nächste Gang. Entbeinte und appetitlich gebräunte Froschschenkel sind mit einem gerösteten Stück Knollensellerie angerichtet, außen kross und innen weich. Dazu gibt es eine sämige Buttersauce und wunderbar kräftigen Röstjus mit Schnittlauch. Etwas Knochenmark, schwarze Trüffelscheiben und eine mit gehacktem Trüffel gefüllte Morchel runden das heiße, üppige, luxuriöse Vergnügen ab. Die Froschschenkel, so zart und aromatisch sie auch sind, werden dabei fast, nur fast zu Nebendarstellern – was uns neugierig macht, wie wohl das vegetarische Menü im »Zilte« aussieht. (Nächstes Mal...)
Der Hauptgang besteht aus einer Variation vom Lamm. Auf dem Hauptteller finden sich saftige, einladend glänzende Stücke von Karree und Filet mit knusprigem Fettrand, sowie ein Stück vom Bauch. Beide Cuts haben eine außerordentliche Güte, sind zart und geschmacksstark. Die Beilagen sind vergleichsweise schlicht, aber stimmig: bissfeste Artischockenherzen, weich geschmorte Schalotte und Venere-Reis, ein rarer Vollkornreis mit ansprechend nussigem Geschmack. In einem Extraschälchen gibt es heißes, saftig geschmortes, butterweiches Lammragout. Nach den zahlreichen Meerestieren kommt diese klar fokussierte Herzhaftkigkeit mehr als willkommen.
Das erste Dessert kombiniert Gariguette-Erdbeeren mit Tonkabohne, Basilikum, weißer Schokolade und Mandel. Im Wesentlichen ist das eine Art Erdbeertörtchen mit Erdbeercoulis und weißer Schokolade, das seltsam artifiziell schmeckt, insbesondere die Erdbeerkomponenten. Bei einem Mini-Cornet mit Erdbeereis und Erdbeergelee ist der Effekt noch deutlicher. Große Freude bereitet das nicht.
Das zweite Dessert besteht aus einer gefüllten Zubereitung von Apurimac-Schokolade mit Mango und Maracuja-Sauce. Diese Kombi von sehr intensiver Schokolade und gleichfalls intensiven exotischen Früchten funktioniert etwas besser, ohne besonders aufregend zu sein. Earl Grey macht das Ganze etwas »dumpf«, von der annoncierten Dukkah-Gewürzmischung schmecken wir praktisch nichts. Am Ende bleibt es sehr »schokoladig«, nicht zuletzt aufgrund der festen Täfelchen. Zusammengefasst können die Desserts bei weitem nicht mit dem Niveau des herzhaften Menüabschnitts Schritt halten.
Zum Tee trägt der Service dann noch einige Petits fours auf. Eine im Cocktailglas servierte Limoncello-Mousse ist –wie der sizilianische Likör– viel zu süß; eine Gebäckblüte mit Himbeere und Aka Umeshu (roter Pflaumenwein) balanciert ansprechend zwischen Vertrautem und Fremden; ein paar Schokopralinen, von denen eine kurioserweise wie ein Tierchen aussehen soll, mögen wir angesichts unseres erheblichen Sättigungsgrads nicht mehr probieren. Nicht verpassen möchten wir indes eine Rosette aus Ivoire-Schokolade mit Ananas, Sherry-Essig und Pinienkernen – zum Glück, denn in ihrer süßsäuerlichen Exotik schmeckt sie besser, als die beiden Desserts zuvor. (Notabene: seit September 2022 hat das Restaurant eine neue Patissière – das macht uns neugierig.)
Bei einem anregenden Plausch mit dem merkbar entspannten Viki Geunes ist es spät geworden. Der leere Gastraum ist in atmosphärisches Licht getaucht, als wir in die Nacht hinaus aufbrechen. Das »Zilte« dieses Besuchs war ein anderes als früher, keine Frage. Wir schreiben dies mit einem lächelnden und einem melancholischen Auge. Das betrifft nicht nur die wesentlich eleganteren Räumlichkeiten und den zurückhaltenderen Service. Auch die Küche ist konzentrierter und perfektionierter als früher; »souveräner«, wenn man so will. Drei Sterne eben. Sie ist aber auch weniger spielerisch und unbekümmert, als wir sie erinnern.
So entwickelt sich alles weiter, mancherorts hintergründiger, mancherorts augenfälliger. Oder sind am Ende wir selbst es, die die gleichen Dinge heute anders wahrnehmen? Das sind Fragen, die sich nach Jahren des Reisens und Essens immer häufiger stellen. Man fühlt sich »souveräner«, aber auch weniger unbekümmert. Wenn es einem Restaurant, einer Küche, gelingt, solcherlei Fragen aufzuwerfen, dann ist das auf jeden Fall ein gutes Zeichen.
Kai Mihm