Restaurantkritik 21.Juni 2022

Große Nacht in Southwark

In London kristallisiert sich seit geraumer Zeit eine Gruppe interessanter Restaurants heraus, die sich dadurch auszeichnen, dass die Küchenchefs kulinarische Traditionen ihrer Mutterländer in einen europäischen Kontext betten. Im »Ikoyi« sind es nigerianische Zutaten und Gewürze, im »Da Terra« Einflüsse aus Brasilien – um nur die beiden prominentesten (und zweifach besternten) Beispiele zu nennen. Als eine Art Geheimtipp gilt derweil noch das 2020 eröffnete »Sollip«, wenngleich es inzwischen ebenfalls einen Stern erhielt. Auch wir wurden erst durch den Tipp eines britischen Bekannten darauf aufmerksam. Der aus Südkorea stammende Co-Inhaber und Küchenchef Woongchul Park, so die verlockende Prämisse, lässt in seinen Menüs koreanische und französische Einflüsse miteinander verschmelzen.

Das Restaurant befindet sich in Southwark, unweit der London Bridge, ein zumindest an diesem Donnerstagabend ungeheuer trubeliges Ausgehviertel. Im »Sollip« selbst, gelegen in einer kleinen Nebenstraße, könnte der Kontrast zu dieser stressigen Atmosphäre kaum größer sein. Das Interieur ist minimalistisch gestaltet, mit klaren Linien, wenig Deko und viel hellem Holz, elegant, entspannt und modern. Das nährt die Vorfreude auf eine hoffentlich ebenso klar strukturierte Küche.
Das junge Serviceteam spiegelt die Internationalität Londons wieder, mit einer italienischen Restaurantleiterin und –was für eine schöne und seltene Überraschung– einer Kellnerin aus Deutschland, die in London allerdings schon so heimisch ist, dass sie sogar mit uns fast ausschließlich englisch spricht. Zu essen gibt es ein festes Menü, zu einem für Londoner Verhältnisse verblüffend günstigen Kurs. Wir werfen einen Blick in die überschaubare, nett bestückte Weinkarte, bleiben dann aber doch beim ansprechend klingenden Pairing, das bemerkenswerterweise von einem befreundeten Weinhändler zusammengestellt wird. Ein Glas Chamapgner (Gonet, »3 Terroirs« 2016) steht alsbald auf dem Tisch – es kann losgehen.

Als Snacks gibt es zwei Tartelettes, die wie ein aromatisches Ying und Yang, wirken: eines ist mit einem exzellenten, mit hausgemachtem Gochujang würzig-scharf abgeschmecktem Rindertatar belegt – eine erste Verneigung in Richtung Korea. Das zweite Tartelette trägt eine hauchzarte, leicht süßliche Creme von weißem Spargel mit gesalzener Erdbeere. Die Eleganz beider Häppchen ist beeindruckend, sie schmecken vollmundig und intensiv, trotzdem ungemein filigran und aromatisch transparent. Sehr stark.

Etwas deftiger wird es beim Gamtae-Sandwich, einem Grillkäse-Sandwich, zubereitet mit intensiven Duckett's Caerphilly-Käse, umwickelt mit Gamtae-Seegras. Dieser warme, süffige Happen lebt vom kraftvollen Zusammenspiel aus würzigem, leicht grasigem Käse und dem erdigen Gamtae-Geschmack. Sehr schön.

Der erste Menügang besteht aus schmalen Streifen von grünem Spargel, knackig gegart, unter denen sich Stücke schottischer Jakobsmuscheln verbergen; sie wurden drei Tage lang in Dashima mariniert, was ihnen ein ungewöhnliches Aroma und vor allem eine ganz besondere Textur verleiht, elastisch, fast fleischig und doch mit elegantem Schmelz. Beigemischt sind leicht gegarte, zartschmelzende Obsiblue-Garnelen, dazwischen gehackte Perilla-Blätter mit Piniennadelöl. Hier spielt die Küche mit dem Kontrast von "grünen" und maritimen Aromen, mit der leichten Bitterkeit des Spargels und den jodig-süßlichen Noten der Meeresfrüchte. Dünne Traubenscheiben lockern das Ganze auf, wiederum kontrastiert von einem Meerrettich-Schnee, der mit seiner senfigen Schärfe wie ein Bindeglied für sämtliche Komponenten wirkt. So beiläufig, fast nachlässig die Optik dieses Ganges anmutet, erweist er sich als ungemein durchdacht, fast intellektuell – ohne aber den schieren Wohlgeschmack aus dem Blick zu verlieren. Ein echtes Highlight.

Als Klassiker des Hauses gilt der nächste Gang, eine Tarte Tatin von Daikon-Rettich. Sie ist genau so, wie eine Tatin sein muss: oben etwas klebrig, saftig-weich, mit einem knusprigen Boden. Tatsächlich könnte diese Rettich-Tarte fast als Dessert durchgehen, denn die Karamellisierung bringt naturgemäß eine nicht unerhebliche Süße mit. Etwas geröstete Gerste und Sesam verschieben den Geschmack ins Herzhafte, aber erst in Kombination mit einer dazu servierten, »dunkel« schmeckenden Creme aus gerösteten Kartoffeln und verbranntem Heu funktioniert diese koreanische Interpretation eines französischen Klassikers wirklich gut. Bemerkenswert ist auch das Pairing mit einem Wein aus dem Jura (»Foudre à Canon«, Domaine de la Borde), der die röstigen und getreidigen Aromen hervorragend komplimentiert.

Es folgt eine Scheibe Brot aus Nurungji-Sauerteig. Der Service erläutert, dass Nuringji die dünne, knusprige Reiskruste bezeichnet, die beim Kochen von Reis am Topfboden entsteht. Durch sie bekommt das fluffige, innen exzellent feuchte, außen knusprig-bröselnde Brote eine subtile Röstnote. Dazu gibt es Dashima-Butter, die den Umami-Geschmack noch verstärkt. Exzellent.

Als Vorgeschmack auf den Fischgang werden knusprige Tacos gereicht, gefüllt mit einer köstlichen Kombination aus »fleischigen« Muscheln und eingelegter Gurke. Hervorragend. 

Und während wir noch am Kauen sind, trauen wir unseren Augen kaum: drei Tische weiter hat soeben kein Geringerer als Stanley Tucci Platz genommen. Der Mann, der mit »Big Night« einen der schönsten Filme über die Magie des Essens gedreht hat, auch sonst ein großartiger Schauspieler ist und seit 2021 eine kulinarische Reportagereihe bei CNN präsentiert. Mit ein paar Freunden lässt er es sich im »Sollip« gut gehen, ganz diskret und unprätentiös. Zugegeben: Wir sind ein bisschen Starstruck…

Trotzdem gehört unsere ganze Aufmerksamkeit dem nächsten Teller. Darauf: eine appetitlich geröstete Tranche Rochenflügel à la Grenobloise, begleitet von einem angenehm milden Bärlauchpüree und Blumenkohl-Couscous, das durch gehackte Pekannüsse Pep bekommt und etwas gehaltvoller schmeckt. Der Clou ist allerdings Parks Version der »Sauce Grenobloise«: normalerweise wird diese klassische Sauce mit brauner Butter, Zitronensaft und Kapern zubereitet. Park verwendet statt der Zitrone Pomelosaft und anstelle von Kapern eingelegte Topinamburstückchen – eine so subtile wie wirkungsvolle Verschiebung eines vertrauten Geschmacksbilds. Weitere Pomelo-Segmente auf dem Fisch unterstreichen die elegante Frische dieser Kombination. Trotzdem bleibt das Ganze herrlich buttrig und sehr französisch, was zugleich auch unser kleiner Kritikpunkt ist, denn so köstlich es auch schmeckt, würden wir uns hier einen stärkeren koreanischen Einschlag wünschen.

Den gibt es dann wieder beim Hauptgang. Rosa gebratener, butterzarter Lammrücken wird mit ansprechendem Fettrand und einer würzig-süßlichen, mit Hongsam (Roter Ginseng) und Perillasamenöl aromatisierten Sauce serviert. Dazu gibt es gebratenen wilden Brokkoli und einen Klecks Harissa, hergestellt aus fermentierten Eiertomaten und Chili. Diese unscheinbare Paste entwickelt am Gaumen eine deutliche Schärfe, welche die feine Süße der Sauce ausbalanciert und zugleich die Papillen spitzt, für den Eigengeschmack des bemerkenswert kräftigen Fleischs. In seiner scheinbaren Schlichtheit ist das alles sehr stimmig.
Der heimliche Star dieses Gangs kommt allerdings in einem Extraschälchen: gekochter Dashima-Reis mit Lammhals versetzt, obenauf ein Langustinen-Espuma mit duftigem Timut-Pfeffer und Chiliflocken – ein süffiges, zutiefst befriedigendes, träumerisch gutes Berg-und-Meer-Ensemble, das wir uns direkt als eigenes Zwischengericht vorstellen könnten.

Für die Patisserie, so erfahren wir, zeichnet Parks Ehefrau und Co-Inhaberin Bomee Ki verantwortlich, die nach ihrer Ausbildung unter anderem im distinguirten Londoner »The Arts Club« tätig war. Ihr Pre-Dessert besteht aus einer seidenzarten Pannacotta, hergestellt aus Sikhye, einem traditionellen koreanischen Reisgetränk, und Rhabarber, was zu einer ansprechenden Balance aus Süße und Säure führt. Durch die Verwendung des Sikhye ist es hier einmal mehr eine kleine Verschiebung des Erwarteten, die den Reiz und Charme des Gerichts ausmacht.

Als Hauptdessert gibt es eine Beifuß-Tarte – was erstmal schräg klingt, sich jedoch als verblüffend stimmig erweist. Wir lernen, dass das Kraut, ein enger Verwandter des Wermut, in der koreanischen Küche häufig zum Einsatz kommt, wenn auch in herzhaften Speisen. Bomee Ki stellt den feinherben, aber auch blumigen Geschmack in einen süßen Kontext, als Espuma auf einem mürben Mandelboden. Getoppt wird die Tarte von einer Nocke Kaffee-Eiscreme, hergestellt mit Bohnen der Londoner Institution Monmouth-Coffee, perfekt ausbalanciert zwischen röstigen Bitternoten und Süße. Etwas frischer Voatsiperifery-Pfeffer lockert das Ganze mit einer sanft schärfenden Zitrusnote auf. Sehr elegant, originell und nicht zu süß. 
Ein paar Madeleines aus schwarzem Sesam (kein Foto) runden den positiven Eindruck der süßen Abteilung ab.

Fröhlich und beschwingt tauchen wir nach diesem eleganten Menü in die Londoner Nacht ein. Stanley Tucci und seine Freunde sitzen noch an ihrem Fenstertisch. Und ein klein wenig erinnert uns das »Sollip« tatsächlich an das kleine Restaurant in dessen »Big Night«, wo ein italienisches Brüderpaar den Amerikanern die Kulinarik ihrer Heimat nahe bringen will. So ähnlich ließe sich auch der Ansatz des Paares Woongchul Park und Bomee Ki beschreiben, wenn auch etwas verhaltener – was unser einziger Kritikpunkt wäre: etwas mehr Korea und etwas weniger Europa dürfte es im »Sollip« gerne sein. Eines aber haben sie den Protagonisten des Films voraus: ihr Laden läuft, und zwar prächtig. Nur mit Glück bekamen wir überhaupt einen Tisch. Man könnte also von einem Happy-End sprechen, wenn wir nicht das Gefühl hätten, dass da unten in Southwark, unweit der trubeligen London Bridge, die große Geschichte gerade erst angefangen hat.

Kai Mihm

Wein

Michel Gonet, »3 Terroirs«, Champagne, 2016
Cassiopée, Aligoté, »Mitancherie«, Burgund, 2020
Domaine de la Borde, »Foudre à Canon«, Jura, 2019
Belargus, Savennières »Gaudrets«, Loire, 2018
Lopez de Heredia, Vina Tondonia Tinto, Reserva, Rioja, 2009
J.J. Prüm, Spätlese »Graacher Himmelreich«, Mosel, 2016

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