
Puttin' on the Ritz
Das 1906 eröffnete Ritz London gehört zu den legendären Häusern dieser Welt. Als Hotel sowieso, aber auch auch als Wirkungsstätte des großen Auguste Escoffier, der bis 1920 zwischen Paris und London pendelte, da er in beiden Städten die Küchen des Ritz leitete. Heute verbindet man mit dem ‹Ritz Restaurant› altmodische Gediegenheit, und zwar nicht unbedingt als Kompliment. Bei Reisen in die britische Hauptstadt hatte ich zwar immer (zu) viele Restaurants auf dem Zettel, aber nie das Ritz.

Es war der britische Blogger Andy Hayler, der das schließlich änderte. Seit Jahren lobt er die Künste des Küchenchefs John Williams in höchsten Tönen. Seines Erachtens kann man in London nirgends besser speisen. Eine steile These, angesichts der Tatsache, dass es fünf Dreisterner in der Stadt gibt, während das Ritz nur einen einzigen hat, und auch den erst seit 2017. Andererseits hat Hayler in sämtlichen Drei-Sterne-Restaurants der Welt gegessen, er dürfte also wissen, wovon er spricht (wenngleich viel Essen nicht zwingend viel Ahnung bedeutet, aber das ist ein anderes Thema).
Diesmal jedenfalls war das Ritz eine der ersten Reservierungen, um die ich mich bemühte. Was sich gar nicht so einfach gestaltete, denn das Restaurant erfreut sich großer Beliebtheit: an vielen Tagen ist es sogar zum Mittagessen hoffnungslos ausgebucht. Am Ende klappte es mit ein paar Terminverschiebungen glücklicherweise doch noch.
Wirkt der Vorraum des Restaurants bereits pompös …

… ist der riesige Speisesaal regelrecht bombastisch. Man badet hier in Prunk alter Schule, mit Marmorsäulen, Tischlämpchen und aufwändigen Fresken, einer Armada an Kronleuchtern und einer lebensgroßen, goldenen Neptun-Skulptur. Das ist nicht unbedingt geschmackssicher, aber wenn man sich darauf einlässt, hat es seinen Reiz.
Von einer eleganten Empfangsdame werden wir aristokratisch langsamen Schrittes zu unserem Tisch geleitet. Da passt es, dass der Titel des berühmtem Jazz-Songs »Puttin' on the Ritz«, was soviel bedeutet wie »sich in Schale werfen«, hier wörtlich genommen wird: Als eines der wenigen Restaurants weltweit pflegt das Ritz nicht nur eine Jackett-, sondern auch eine Krawattenpflicht. Auf freundliche Nachfrage hatte man mir allerdings bestätigt, dass seidene Foulards ebenfalls akzeptiert werden. Glück gehabt.
Aus den diversen Optionen der umfangreichen Speisekarte entscheiden wir uns für das große Degustationsmenü, verbunden mit der Bitte, das Kalbsbries auszutauschen. Die Auswahl einer Alternative möge der Küchenchef treffen, wir lassen uns gerne überraschen. Selbstverständlich ist das kein Problem. Erwähnung verdient an dieser Stelle die überraschend junge (und komplett männliche) Servicecrew, die mit ihrer humorvollen Entspanntheit das Klischee von »steifen« Kellnern einmal mehr widerlegt.

Als Amuses gibt es eine angenehm zarte, nur etwas zu kühle Mousse von Ziegenkäse auf einem salzigem Sablé, gewürzt mit Basilikum, sowie ein Gebäck in Form eines Blattgerippes, garniert mit ein paar winzigen Käsetupfern, Kräuterblättchen und Blüten, die sich am Gaumen praktisch nicht bemerkbar machen. Das schmeckt beides »nett«, aber nicht unbedingt wie Vorboten einer spektakulären Küche.

Sodann folgt ohne weitere Umschweife der erste Gang des Menüs. Salat von Norfolk-Krabbe besteht aus gezupftem Krabbenfleisch, gut gewürzt und mit einer leichten Mayonnaise angemacht. Ein knuspriges Tuile-Gitter, ein paar Kräuter, Mandelsplitter und Traubenscheibchen frischen das recht gehaltvolle und relativ groß portionierte Gericht etwas auf. In seiner klassischen Manier schmeckt das sehr gut. Wie ich später sehe, wird dieses Gericht in der à-la-Carte-Version mit mehreren Aperçus geschickt, was ich mir noch besser vorstellen kann.

Es bleibt sehr klassisch, mit einer Ballotine von Enten-Foie gras. Die Leber stammt von einem Produzenten aus der Region Landes im Südwesten Frankreichs und ist von ausgezeichneter Qualität, hervorragend gewürzt, mit voluminösem Schmelz und vielschichtigem Geschmack – kein Wunder, war sie doch in Portwein, Armagnac und Sauternes eingelegt. Ein Kirschgelee steuert appetitanregende Säure bei, einige Kräuterblättchen mit Joghurt wirken wie Dekoration, erweisen sich jedoch als stimmige Ergänzung. Dazu wird ein Scheibe exzellenter Brioche gereicht. Auch dieser Gang ist ziemlich gehaltvoll, aber in sich äußerst stimmig.

Zu einem Höhenflug setzt die Küche beim Fischgang an: Ein appetitlich überglänztes Stück Dover-Seezunge ist mit Duxelles gefüllt und wird mit Champagnersauce und Schwertmuschelscheibchen serviert. Der Fisch ist von herausragender Qualität, perfekt gegart, durch die gerollte Form regelrecht »fleischig« und durch die Pilze wundervoll mit saftigem Umami angereichert – quasi von innen heraus gewürzt. Dazu die samtige Sauce und als besonderer Clou geschälte, in Verjus eingelegte und mit Kräuteremulsion sowie herb-frischem Meerfenchel gewürzte Trauben. Zum Augenschließen gut.
Das Gericht erinnert mich an eine mit Pfifferlingen gefüllte Seezunge vor vielen Jahren im Pariser »Epicure« – nur war sie dort längst nicht so raffiniert. Hier ist es ein phänomenaler Gang, der mich die Schwärmereien über das Ritz verstehen lässt.

Es folgt der Überraschungsgang anstelle des Kalbsbries – und ich bin tatsächlich »überrascht«, denn das Ganze ähnelt sehr dem soeben verspeisten Gericht. Konkret habe ich Cornwall-Steinbutt »Veronique« auf dem Teller, verlockend goldgebräunt, von erneut exquisiter Güte. Zum Filet gibt es eine Stange grünen Spargel, perfekt knackig und bemerkenswert aromatisch, sowie eine ebenfalls hervorragende Beurre blanc aus geräucherter Butter – sowie die exakt selbe Trauben-Beilage wie bei der Seezunge. Das entspricht zwar der Garnitur »à la Veronique«, dennoch frage ich mich, was man sich in der Küche bei dieser Wiederholung gedacht hat. Die Speisekarte böte jede Menge Alternativen. Fest steht, dass der Küchenchef eine Schwäche für Trauben hat, die bereits im Krabbensalat auftauchten. Dessen ungeachtet schmeckt es ausgezeichnet.

Kurz darauf wird eine Entenpresse an den Tisch gerollt – immer ein gutes Zeichen. Wenig später folgen ein Flambierwagen und ein Tranchierwagen. Mit routinierten Handgriffen zerlegt ein höherrangiger Kellner eine gegrillte Anjou-Taube, deren Karkasse anschließend in der Entenpresse verschwindet. Derweil bereitet sein Kollege mit Cognac, Portwein, Jus, Pfeffer und ordentlich Feuer die Saucenbasis zu. Diese wird mit dem gepressten Taubensaft abgerundet und gebunden. Man mag diese Prozedur als Showeinlage belächeln, mir gefällt sie ganz wunderbar.

Auf dem Teller haben wir dann die Brust der Anjou-Taube, zart, saftig und intensiv, flankiert von einer sehr guten, aber etwas einsamen Spargelstange, überzogen von der leicht fruchtigen Pfeffersauce, deren Glanz das Auge und deren Geschmack den Gaumen erfreut – kraftvoll, aber nicht klebrig. Kein Tropfen dieses magischen Elixiers bleibt am Ende auf dem Teller. In seiner Klarheit und Güte ist dies einer besten Taubengänge seit langer Zeit.

Als Käsegang gibt es eine Tartelette mit Tunworth, einem britischen Äquivalent zum französischen Camembert. Der cremige, kräftige Käse ruht auf einem hauchdünnen Teigboden, ist mit Trüffel versetzt und mit dünnen Scheiben eingemachter Birnen sowie einem wabenförmigen Teiggitter bedeckt. Am Tisch gibt man noch etwas frischen Honig von hauseigenen Bienenstöcken darüber. Die traditionelle Kombination von gereiftem Käse mit etwas Brot und fruchtig-süßlichen Ergänzungen wird hier spielerisch zu einem wohlschmeckenden Gericht verarbeitet. Und trotz ihrer Intensität machen die Beigaben dem würzigen Tunworth seine Hauptrolle in keinem Moment streitig.

Das Pre-Dessert wird als Blutorange mit Joghurt annonciert und besteht aus einem hochintensiven Blutorangensorbet, gebettet in einen Blutorangenschaum, unter dem sich wiederum Blutorangensegmente, cremiger Joghurt und eine formidable Vanillemousse verbergen. Die Erfrischung können wir gut gebrauchen, und das Zusammenspiel von eleganter Bitterkeit, frischem Joghurt und wärmender Vanille hat etwas Träumerisches. Diese so schlicht anmutende Kreation übertrifft viele der Dessert-Basteleien, mit denen wir sonst oft konfrontiert werden. Bei weitem.

Rein handwerklich ist auch das Schokoladensoufflé über jeden Zweifel erhaben. Heiß, perfekt fluffig, intensiv schokoladig. Vielleicht sogar eines der besten, die ich im Lauf der Jahre probieren konnte. Es ist nur beängstigend groß. Dazu gibt es noch ein Schälchen mit Vanillesahne – damit man auch wirklich satt wird. Ein solches Dessert als Abschluss eines großen Menüs empfinde ich als, sagen wir: unglücklich. So gut es schmeckt, muss ich nach wenigen Löffeln die Segel streichen.
Ein paar Petits Fours werden auch noch serviert, das Fotorafieren vergesse ich leider.

Da die Weinbegleitung zwar passend altmodisch, aber entgegen der Küche kaum französisch war, brauche ich nach diesem Menü dringend noch ein bisschen Burgund. Also auf in die empfehlenswerte Weinbar »Compagnie des Vins Surnaturels« im hippen Seven Dials, wo wir den Abend bei einer Flasche Roulot Revue passieren lassen.
Wir können Andy und all die Essverrückten Londoner verstehen, für die das Ritz die Nummer Eins der Stadt ist. Nicht, weil wir es genauso sehen, sondern weil die sehr hohe Güte und die nahezu makellose Klassik der Küche ganz objektiv unbestreitbar sind. Wir hatten mehrere fabelhafte Gänge, und man spürt und schmeckt den Willen des Teams, endlich auch in den einschlägigen Guides weiter nach vorne zu kommen. Mit einem Stern, soviel wage ich nach diesem Abend zu sagen, ist das Restaurant unterbewertet. Es gibt sicherlich »modernere« Menüs und »hippere« Speisesäle in London. Aber das Ritz ist nunmal das Ritz. Ob mit oder ohne Krawatte.
Kai Mihm