Restaurantkritik  6.Juni 2022

Schlüssel zum Erfolg

Als wir Ende 2016 das erste Mal im »Schlüssel« in St. Gallischen Mels einkehrten, fand gerade die Zepterübergabe statt. Der Junior Roger Kalberer war nach längeren Aufenthalten bei Philippe Rochat im »Hôtel de Ville« in Crissier und bei Andreas Caminada auf »Schloss Schauenstein« ins elterliche Restaurant zurückgekehrt und übernahm den Platz am Herd von seinem leider inzwischen viel zu früh verstorbenen Vater Seppi. Dieser hatte den Herd des denkmalgeschützten Schlüssel zuvor sagenhafte 42 Jahre bemannt und das Restaurant als eines der langlebigsten Sternrestaurants der Schweiz geführt.
Neo-Chef Roger hielt die Auszeichnungen (1 Stern, 17 Punkte) nach der Übernahme mühelos. Dabei führte er nicht nur das Erbe seines Vaters weiter, sondern zeigte bereits zu Beginn, dass er seinen eigenen Weg gehen wird. Wir waren damals ziemlich angetan von der Mischung aus lokal verwurzelter Klassik und den spürbar modernen Einflüssen seines vormaligen Chefs aus Fürstenau. Heute wollen wir uns anschauen, was in der halben Dekade seit unserem letzten Besuch passiert ist.

Nichts geändert hat sich erfreulicherweise am Haus selbst. Die im traditionellen Biedermeier-Stil eingerichtete Nidbergstube erstrahlt in klassisch-gediegenem Glanz, die weibliche Servicebrigade trägt Tracht. Ein schöner Kontrast zum wuseligen Großstadtflair in Zürich gestern Abend. Bei unserer Ankunft ist das Restaurant an einem Donnerstagmittag bereits proppenvoll. Allein unser Ecktisch wartet noch auf seine Besetzung. Nach dem sehr charmanten Empfang nehmen wir schnell Platz, der Appetit ist groß, die Neugierde ebenso.

Die Aufmachung dieses Amuses-Quartetts kennen wir bereits vom letzten Lunch. Und an das fantastische Käse-Speck-Brötchen haben wir allerbeste Erinnerungen, die heute beispielhaft aufgefrischt werden. Doch auch die anderen drei Petitessen »Ghackets und Hörnli« mit Apfelmus, Kraterellensüppchen vom Pizol sowie gebeizter Loup de Mer mit Pomme Soufflée müssen sich dahinter keinesfalls verstecken. Allesamt exzellent und machen vor allem richtig Bock auf das gleich beginnende Menü. So müssen Apéros sein.

Das Menü eröffnet Kalberer mit einer Ceviche von der Königsmakrele mit Randen (auch bekannt als Rote Bete). Ein leicht fetter Fisch wie die Makrele ist das optimale Vehikel, um alle Ceviche-Fantasien auszuleben. Dank der feinen Marmorierung und des kräftigeren Eigengeschmacks kommt er mit der säuerlichen Einfassung nicht nur gut klar, nein, er geht mit ihr eine nahezu perfekte Symbiose ein. Getragen von einem fein ziselierten Säurespiel zeigt sich die gerne auch mal etwas plump wirkende Makrele von ihrer elegantesten Seite. Selbst die Mayonnaise, die uns bis zum ersten Bissen suspekt erscheint, passt vortrefflich ins Bild. Sie akzentuiert die beiden Gegenpole Fett und Säure hervorragend und sorgt dazu für eine angenehme Fülle. Abgerundet durch die zurückhaltende, erdige Süße der Bete ist das ein rundum gelungener Einstieg.

Als der Scampo mit Liebstöckel, Kohlrabi und Beurre blanc aufgetischt wird, schießt uns ein früher gern genutztes, aber mittlerweile ins Unterbewusstein verschobene Unwort unweigerlich in den Sinn: Eatability. Die Hering-Schale ist randvoll mit Sauce, die Löcher gefährlich nah. Was wir befürchten, bewahrheitet sich bei einem von uns direkt beim ersten Versuch, sich einen Löffel zuzuführen. Erstmal läuft etwas über, dann tropft die Sauce vom Löffel auf den Teller und von dort unweigerlich auf den Tisch. Ist ja eigentlich nicht weiter schlimm, wie uns der überaus charmante Service versichert, doch wirklich durchdacht scheint uns das dennoch nicht. Wie dem auch sei, geschmacklich gibt es an diesem Teller rein gar nichts auszusetzen. Saftiger Granat, vorzügliche Beurre Blanc mit exzellent dosierter Säure, pointierter Einsatz des Maggikrauts, das reichlich Umami ins Spiel bringt. Kurz: sehr schön.

Ungewöhnlich mutet die Präsentation der Forelle vom Weisstannental mit Curry-Ingwer-Zitronengras und Brickteig an. Wir fragen uns bei der Lektüre des Menüs noch, wie der Brickteig hier wohl eingearbeitet wird. Die Antwort: gar nicht. Alle anderen Komponenten sind in den Brickteig eingearbeitet. Kalberer schafft eine Art Dampfkammer, in der der Fisch und die Gemüse gegart werden. Clever. Haben wir in dieser Form noch nie vorgesetzt bekommen. Der Inhalt ist denn auch wunderbar delikat gegart und von einem angenehm fruchtbetonten Curryaroma umhüllt. Dieses löst beim Verfasser dieser Zeilen Kindheitserinnungen aus, genauer an »Reis Casimir«, ein in der Schweiz sehr beliebtes Bastardgericht, das man eigentlich niemandem mehr guten Gewissens zumuten kann, das sich aber nach wie vor großer Beliebtheit erfreut. Bei Interesse einfach mal googeln. Doch nun Schluss mit dem Exkurs, schließlich verdient es dieser Teller, dass man ihn entsprechend würdigt. Denn in Summe schmeckt es ganz einfach hervorragend und nebenbei auch überraschend eigenständig. Und wartet noch dazu mit einer tollen Hauptzutat auf, die wir in dieser Qualität auch nicht alle Tage serviert bekommen.

Auf den nun folgenden Gang freuen wir uns schon den ganzen Tag. Schliesslich war die Pasta bereits bei unserem letzten Besuch das Highlight des Lunchs. Heute gibt’s Bierschweintortellini mit Süßkartoffeln, Waldklee und Piemonteser Haselnüssen. Wüssten wir es nicht besser, würden wir Roger Kalberer zumindest als Italiener im Herzen verorten. Hauchdünner, ultradelikater Teig, der am Gaumen förmlich schmilzt, aber dennoch ein gewisse Festigkeit hat. Die zweifellos gelungene Füllung spielt eine fast schon untergeordnete Rolle in diesem Ensemble, dessen Highlight die Pasta selbst ist – und die säuerlich-kräuterige Sauce, die die Ravioli vortrefflich konterkariert. Klasse. Auch dank des wohldosierten Einsatzes der Kartoffel und der Nüsse, die sich hauptsächlich durch ihren Crunch und subtile Nussigkeit bemerkbar machen. Davon könnten wir problemlos noch einen Teller verdrücken. Oder zwei...

Mit dem Hauptgang erreicht uns der Klassiker des Hauses, geschmorte Kalbsbacke mit Rosmarin-Kartoffelpüree und Syrahsauce. Haben wir von unserem letzten Besuch noch gut im Gedächtnis, wenngleich retrospektiv vor allem auch die schiere Macht hängengeblieben ist. Heute scheint uns das Ganze in der Tat ein wenig leichter daherzukommen, aber leider auch nicht ganz so exquisit, wie beim letzten Mal. Das Gemüse ist absolut in Ordnung, das Fleisch schön mürbe. Allerdings ist das Ganze durch die Sauce ziemlich säurelastig – kam diesmal womöglich ein anderer Syrah zum Einsatz? Eine gewisse Säure ist natürlich immer willkommen, wir hatten sie allerdings nicht so spitz und ausgeprägt in Erinnerung. Das schmälert den Genuss ein wenig und nimmt diesem eigentlich so tollen klassischen Gang etwas von seinem Glanz.

Viel besser gefällt uns der zweite Hauptgang, Hirsch aus lokaler Jagd mit »seinen Beilagen«. Das heisst: Spätzle, Rotkohl, Pilze und Maroni. Genau so etwas wollen wir in der Wildzeit gerne serviert bekommen. Exzellentes Fleisch, aromatisch, kernig und akkurat gegart. Dazu sorgfältig zubereitete Mitspieler, die sowohl für sich genommen als auch im Zusammenspiel überzeugen – dabei aber stets das Fleisch dort belassen, wo es hingehört: in den Mittelpunkt. Hervorragend.

Da bisher (fast) alles erstaunlich leicht und bekömmlich daherkam, lassen wir uns auch auf die erlesenen Käse ein, eine Mischung aus lokalen und französischen Erzeugnissen, serviert mit Birnenbrot.

Babyzwetschgenkompott mit Tahitivanilleeis, Meringue und Ananassalbei ist ein Pré-Dessert, wie wir es uns öfter wünschen würden. Simpel, ohne zu langweilen. Harmonisch, ohne Spannungsarmut. Optimal portioniert und Lust auf den finalen Akt machend.

Kirsche, Sauerrahm und Felchlin-Schokolade sollen uns dann höchsten Dessertgenuss bescheren. Um in diese Sphären vorzustoßen, bedürfte es allerdings einem präziseren Feintuning. Die Schokolade drängt bei fast jeder Löffelbelegung zu stark in den Vordergrund und dominiert dadurch alles andere. Gerade die eigentlich satte Kirschfrucht geht fast komplett unter. Und auch vom Eis hätten wir uns ein konzentrierteres Säurespiel gewünscht. Alles etwas fruchtiger, frischer, filigraner hätte diesem Teller einen etwas frischeren Anstrich verpasst. So ist das zwar in Summe recht gut, aber auch etwas eindimensional.

Ein paar Friandises dürfen natürlich auch heute nicht fehlen, die uns den stärkenden Espresso vor der Weiterreise versüßen – allesamt solide.

Neben der angemessenen Weiterführung des väterlichen Erbes war heute von anderweitigen Einflüssen nicht mehr viel zu sehen. Soll heißen: Roger Kalberer scheint seinen Stil gefunden zu haben. Der ist auf den ersten Blick allerdings schwer zu fassen. Produkte und Würzelemente zeugen davon, dass der Chef ohne Scheuklappen kocht. Nordische Einflüsse finden ebenso Platz, wie indisches Curry oder klassisch französische Elemente.
Was die Kreationen eint, ist ihre stilsichere Umsetzung. Selbst Kombination, die bei der Lektüre des Menüs scheinbar willkürlich zusammengewürfelt anmuteten, funktionierten weitgehend blendend. Die Erklärung hierfür ist schlussendlich doch einfacher, als man denken mag: alles im »Schlüssel« hat Hand und Fuß, wie man so schön sagt. Man kocht sorgfältig, präzise und in gewisser Weise ziemlich filigran.
So lässt sich schlussendlich auch der Stil von Roger Kalberer definieren. Seine Küche ist in alle Richtungen offen, manchmal vom fernen Osten inspiriert, dann wieder mit Jagdgut aus den umliegenden Bergen auf dem Teller; manchmal sehr traditionell, dann wieder modern. Diese Mischung ist inzwischen ein wenig verpönt, doch für uns rechtfertigt genau sie einen Abstecher in den »Schlüssel«. Und das nicht nur einmal pro Dekade.

Text: Thierry De Nullepart

PS: Kleiner Tipp am Rande: wenn es mal etwas schneller gehen soll, lohnt sich auch ein Besuch im Bistro des Hauses, wo man traditionelle Gerichte serviert, etwa eine sensationelle Melser Rieslingsuppe, »Ghackets mit Hörnli« (im Großformat), »Nanis Hacktätschli« oder Wild aus lokaler Jagd.


Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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