Restaurantkritik 14.Mai 2022

Bocuse – Gold, Silber oder Bronze?

Paul Bocuse starb am 18. Januar 2018. Die internationalen Trauerbekundungen und die mediale Aufmerksamkeit auch jenseits der Fachpresse waren beeindruckend. Genau zwei Jahre später wurde sein Restaurant, das seit 1965 durchgehend drei Sterne gehalten hatte, auf zwei Sterne abgewertet. Zahlreichen Szenekennern erschien das längst überfällig. Doch wenngleich der Michelin vermutlich aus Respekt vor dem Jahrhundertkoch keine Abstufung zu seinen Lebzeiten vorgenommen hatte, kam die Nachricht einer posthumen Götterdämmerung gleich.

Und ganz egal, wie man zu diesem Schritt des Michelin steht, war Paul Bocuse unbestreitbar eine lebende Legende, sein Restaurant ein Wallfahrtsort, den jeder Essverrückte einmal besucht haben sollte. Unsere erste Einkehr lag bereits einige Jahre zurück, als wir eine Kurzreise nach Lyon planten. Die Erinnerungen waren längst verblasst, denn sonderlich nachhaltig war das Essen –wir hatten á la Carte ein paar Klassiker bestellt– nicht.

Trotzdem, wenn wir schonmal in Lyon sind, drängt sich ein neuerlicher Besuch geradezu auf. Bemerkenswert sind die Reaktionen anderer Küchenchefs in der Stadt, als wir erzählen, dass wir noch zu Bocuse gehen werden: kein einziges negatives Wort, sondern im Gegenteil nur Lob für die Küche, die aktuell so gut sei, wie lange nicht. Der Respekt vor dieser geradezu mythischen Institution ist bei allen spürbar.
Das Restaurant liegt etwas außerhalb, in der Gemeinde Collonges-au-Mont-d'Or, aber das knallbunte Gebäude mit dem gewaltigen Schriftzug ist weithin sichtbar. Der Vorhof des Anwesens, das mit vollem Namen eigentlich »L’Auberge du Pont de Collonges« heißt, besteht aus einer Art Miniatur-Bocuseland, mit einer Bronzestatue des Meisters und Wandmalereien, die seinen Werdegang illustrieren. Alles ein bisschen verkitscht, aber irgendwie funktioniert es. Wir kommen durch den kleinen Rundgang richtig in Stimmung. Die Vorfreude steigt.

Der Empfang ist ungemein herzlich, vom Klischee französischer Überheblichkeit keine Spur. Man merkt, dass hier unterschiedlichste Menschen aus aller Welt einkehren, und man es verseht, sich auf jeden einzustellen. Es gibt mehrere Gasträume, wir sitzen diesmal im voll besetzten Hauptsaal, und zumindest hier scheinen wir die einzigen Nichtfranzosen zu sein.
Es stehen zwei Menüs und eine recht umfangreiche Karte zur Wahl. Wir entscheiden uns gegen das Klassikermenü und für das etwas weniger mächtige (und etwas günstigere) »Menu Bourgeois« mit fünf Gängen. Dazu eine Flasche Raveneau (Chablis Premier Cru »Butteaux«) von der bemerkenswert fair kalkulierten Weinkarte. Et voilá...

Das Amuse Bouches besteht aus einer Trilogie: Eine Kartoffel-Käsekrokette mit Trüffel ist überraschend fluffig und leicht, geradezu filigran, trotzdem intensiv im Geschmack; ein wohlig-wärmender Knusperhappen. Das zweite Teilchen besteht aus einer Art Reispraline, bei der etwas gepuffter Reis eine Kugel aus Reiscreme mit Limette umhüllt: nicht spektakulär, aber ein schönes Spiel mit belebender Fruchtsäure und würzig-süßlicher Cremigkeit. Zu guter letzt ist da noch eine Art Tartelette, bestehen aus einem knusprigen, relativ dicken, aber ausgesprochen köstlichen Teigboden und einer exzellenten Fischmousse – fast eine Reminiszenz an den Lyonaiser Klassiker Hechtnocken.
Insgesamt ist das eine sehr klassische Einstimmung, an der es rein gar nichts zu mäkeln gibt: hervorragendes Handwerk, klare Geschmacksbilder, schöne Aromen und eine angenehme Leichtigkeit. Das hatten wir so nicht erwartet.

Der erste Gang des Menüs kombiniert poelierte Foie gras de canard mit Quitte. Gebraten mögen wir Foie gras am liebsten, und dieses Stück ist von außerordentlicher Qualität: es hat Spannkraft, perfekten Schmelz und ein ungemein delikates Aroma – nicht einfach nach "Fett", wie bei mäßigen Qualitäten, sondern immer noch nach Leber und Ente. Die Röstaromen verleihen Tiefe, ein paar Knusperbrösel erweitern das Texturspektrum. Ein Stück geschmorter Quitte gibt der Fettleber eine gewisse Leichtigkeit, ohne dass es ins allzu Fruchtige abrutscht. Eine hervorragende, weil eher herb-säuerliche, als süße Quittensauce rundet das klassische Geschmacksbild ab. Ganz ausgezeichnet.

Weiter geht es mit Boudin blanc von Hummer und Geflügel, die in Farbe und Beschaffenheit ein wenig an bayerische Weißwurst erinnert. Hier wurde die seidige Wurst in Tranchen geschnitten und auf den Schnittseiten angebraten, was dem eleganten Grundgeschmack einen spannungsvollen Hauch Rustikalität verleiht. Dazu eine vorzügliche Sauce Vin Jaune und etwas Trüffel – nicht zu viel, denn sonst würde er die zarte Wurst übertünchen. Ein Gang makellos klassischen Handwerks, der in seinem souveränen Understatement schon wieder aufregend ist.

Am Nachbartisch wird derweil ein Hausklassiker serviert, Huhn in der Schweinsblase, am Tisch tranchiert – es bereitet immer wieder Freude, dieses Schauspiel zu beobachten. Und ein kleines bisschen bereuen wir, das nicht auch bestellt zu haben...

Aber auch wir sind schon beim Hauptgang angelangt, und auch bei uns gibt es ein bisschen »Tableside-Action«: Am Tisch wird mit souveränen Handgriffen eine in der Cocotte geröstete Côte de veau tranchiert und mit Kalbsries, Pilzen und Zwiebeln angerichtet.

Das perfekt gegarte Fleisch ist geschmacklich gut, weil für Kalb überraschend ausdrucksstark, mit deutlichen Röstnoten und einem schönen Fettrand. Es ist allerdings auch –relativ– fest, entspricht also nicht dem Zartheitsklischee von Kalb. »Zäh« ist es natürlich nicht, trotzdem fällt es auf. Ob dies beabsichtigt ist, oder ein Mangel, darüber sind wir uns auch Wochen später noch nicht ganz sicher. Über jeden Zweifel erhaben ist das leicht getrüffelte, kräftig geröstete Bries, außen kross, innen weich, mit herrlichem Schmelz.
Die Zwiebeln in verschiedenen Variationen schmecken nicht sonderlich aufregend, funktionieren aber als süffige Umami-Beilage, ebenso die Pilze. Dafür begeistert eine einzelne (!), gefüllte Morchel durch ihre phänomenale Güte. Eine echte Enttäuschung ist die Sauce, deren Glanz zwar das Auge erfreut, die aber nach... nichts schmeckt. Selbst pur probiert bleibt sie praktisch geschmacksneutral.
Alles in allem ein solider Hauptgang, bei dem sich diskutieren ließe, ob er wirklich das vom Michelin annoncierte Niveau erreicht.

Auf die Käseauswahl freuen wir uns heute besonders, kommt sie doch aus der berühmten Lyonaiser Fromagerie »La Mère Richard«

Es folgt ein Pré-Dessert aus Mango und Kokos: auf einem nahezu naturbelassenen Mangoragout aus Früchten exzellenter Güte sitzt ein knuspriger Sablé mit Kokosraspeln, darauf ein federleichter Kokosschaum, und darauf wiederum eine Meringuescheibe mit gerösteten Kokosraspeln und Limettenzesten. Diese Verdichtung tropischer Aromen mag nicht sehr überraschend sein, schmeckt aber ganz ausgezeichnet – ein Hauch Karibik in Collonges-au-Mont-d'Or.

Sodann werden gleich zwei Dessertwagen mit allerlei Köstlichkeiten aus der Produktion des Patissiers Benoît Charvet angerollt (unser Foto zeigt nur eine Seite).

Wir entscheiden uns, passend zum Namen unseres Menüs, für einen Klassiker der bürgerlichen französischen Küche: Île Flottante, überzogen mit hauchdünnem Himbeerkaramell. Fast überflüssig zu erwähnen, dass die Schneeinsel handwerklich exzellent ist, fluffig und leicht – der ideale Träger für die Vanillesauce, deren sahnige Üppigkeit jedes verbliebene Hungergefühl ausmerzt. Zwischendrin knuspern neckisch kandierte Mandelblättchen und Kürbiskerne, machen die Sache aber natürlich nicht leichtfüßiger. Ein hervorragendes Dessert, wenn auch vielleicht nicht ganz so gut, wie die –deutlich leichtere– Version bei Jean-François Piège.

Abschließend noch ein paar Pralinen von guter Qualität, nicht mehr, nicht weniger.

Als wir das Restaurant gegen Mitternacht verlassen, wird an vielen anderen Tischen noch getrunken und gelacht. Das Restaurant Paul Bocuse, man kann es nicht anders sagen, ist kein »Tempel«, kein »Schrein« für den Meister, auch wenn es draußen so wirkt. Vielmehr ist es ein lebendiger Ort das Genusses, der zumindest von einheimischen Gästen offenbar auch genau so wahrgenommen wird.
Und genießen lässt es sich hier, keine Frage. Wir hatten einen Abend mit ein paar Highlights, aber auch mit klaren Kritikpunkten. Die gibt es zwar immer, aber hier stehen sie natürlich in direktem Zusammenhang mit der unvermeidlichen Frage, ob dieses Essen nun zwei oder drei Sterne waren. Nun, wir würden das Spektrum sogar noch weiter ziehen: es changierte zwischen einem Stern (Kalb) und knappen drei Sternen (Boudin blanc). Andererseits ist es nicht an uns, das "nachzumessen".
So oder so nimmt das »Restaurant Paul Bocuse« eine besondere Stellung in der Welt der Gastronomie ein. Darum geht es. Man spürt den Hauch der Geschichte – einige Mitarbeiter sind seit Jahrzehnten hier tätig, wie wir beim Geplauder zwischen den Gängen erfahren. Es ist schön, so etwas zu sehen.
Ob wir wiederkommen? Sagen wir so: Wir sind froh, noch einmal hier gewesen zu sein.

Text: Kai Mihm

Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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