Restaurantkritik 18.Mai 2022

Les Apothicaires – lecker Medizin

Bei der Planung unseres Lyon-Trips wurden wir durch einen Tipp auf das »Les Apothicaires« aufmerksam, ein kleines, dem Website-Eindruck nach eher unauffälliges Restaurant, das wir irgendwo zwischen den Schlagworten Bistronomie und Casual Fine Dining einordneten. Als Beimischung zwischen Bocuse und Troisgros schien uns das genau richtig.

Wir finden es immer wichtig, vorab den Werdegang des Küchenchefs zu recherchieren, da dies einen komplexeren Blick auf das Schaffen ermöglicht, Verbindungslinien aufzeigt, Einflüsse transparent macht; genau wie bei anderen Kultur- und Kunst(handwerks)bereichen auch. Beim »Les Apothicaires« zeigte sich, dass die Stationen des Inhaberpaars Tabata und Ludovic Mey überraschend divers sind. Tabata Mey arbeitete unter anderem bei dem Avantgardisten Alex Atala in São Paulo, war Souschefin beim klassisch-modern orientierten Nicolas Le Bec in Lyon, eröffnete dort 2013 für Paul Bocuse das Restaurant »Marguerite« und ging 2015 für ein Jahr ins »Noma«.
Bei Bocuse lernte sie ihren späteren Ehemann Ludovic Mey kennen, dessen Werdegang mit Stationen bei Christian Tetedoie in Lyon, Alex Atala und dem »Noma« recht ähnlich verlief. 2016 eröffneten die beiden ihr gemeinsames Restaurant. Im Guide Michelin 2020 erhielt es schließlich einen Stern.

Das Restaurant hat rund 30 Plätze und ist im Stil eines Neo-Bistros eingerichtet, mit blanken Holztischen, Parkettboden, einer leicht nostalgischen Tapete und retro-modernistischen Designerlampen. Vor allem ist es immer auf viele Wochen ausgebucht. Wir konnten nur noch die beiden Plätze am winzigen Tresen neben dem Pass ergattern – was sich als echter Glücksfall erweisen sollte, denn für uns sitzt es sich mit Blick in die offene Küche ganz wunderbar. Es gibt im »Les Apothicaires« lediglich ein Menü mit acht Gängen (89 Euro), dazu eine Weinbegleitung (und für uns noch die obligatorische Side Bottle).

Es geht los mit Æbleskiver, dem dänischen Weihnachtskrapfen, der hier in würziger Form variiert wird, sehr schön heiß, fluffig, knusprig. Dazu eine Art Crème fraiche mit geräucherten Hechteiern und Hefepulver. Exzellent.

Der erste Gang besteht aus kleinen Würfelchen rohen Kalmars, butterzart, seidig und sanft nach Meer schmeckend. Würzige Kapuzinerkresse-Wurzel und ganz leicht scharfes Püree von Kapuzinerkresse peppen den Eigengeschmack des Kalmars auf; ein paar Tupfen Sauerrahm geben Frische und leichte Säure. Eine sehr fein ziselierte, originell schmeckende Petitesse (denn etwas größer hätte die Portion durchaus sein dürfen).

Das grün-weiße Farbspiel wird beim zweiten Gang fortgesetzt: Es gibt hausgemachten Frischkäse, seidenzart und mild, hergestellt aus dem ersten Käsebruch. Er ist mit verschiedene Kohlsorten kombiniert, die teils in Essig eingelegt, teils fermentiert, teils naturbelassen und roh sind. Hier wird der zarte Käse gewissermaßen zum Träger der abwechslungsreichen Gemüse. Als eine Art Geschmacksverstärker fungiert –versteckt unter dem Frischkäse– eine Creme aus gebratenem Grünkohl mit schwarzem Knoblauch und Dulse-Öl. Auch dieser Teller überzeugt durch aromatische Eleganz und handwerkliche Feinarbeit.

Im nächsten Gang nimmt die Küche sich einem Klassiker der Lyonaiser Küche an: Hechtklößchen. Das Exemplar ist relativ groß und überraschend leicht, von zarter Textur, fast wie ein Schnee-Ei. Traditionell werden »Quenelle de brochet« mit Sauce Nantua serviert, einer mit Sahne und Flusskrebsbutter angereicherten Bechamelsauce. Ludovic Mey variiert sie, indem er statt der Flusskrebse Garnelen verwendet und außerdem Erdnüsse zugibt, wodurch die Sauce einen Touch von thailländischer Saté-Sauce bekommt. Über das Ganze wird Katsuobushi gegeben, Späne von fermentiertem, geräuchertem und getrocknetem Thunfisch. Mildes Chilipulver beflügelt des Ensemble durch einen Hauch Schärfe. Mit großer Klasse wird hier ein regionales Traditionsgericht in eine überraschende Richtung verschoben, ohne dadurch seinen typischen Charakter zu verändern. Hervorragend.

Es folgt ein vegetarisches Gericht. Dafür wird eine Tranche eines im Ganzen gegarten Knollensellerie in einem Mangoldblatt gegrillt; die kleingewürfelten Mangoldstiele werden in Knoblauch gebraten. Die süßliche Erdigkeit des Sellerie, die leicht rauchigen Grillaromen und die "gemüsige" Bitterkeit des Mangold ergeben ein so klares, wie stimmiges Geschmacksbild. Für sich genommen ist das nicht übermäßig spannend, dafür sorgt jedoch eine Sauce mit schwarzem Trüffel, deren erdig-würziger Geschmack dem Ganzen eine gewisse Tiefe verleiht. Ein gutes Veggie-Gericht.

Der Seeteufel für den nächsten Gang wurde im Ganzen auf dem Grill geröstet. Auf den Teller kommt er lediglich mit einer Kürbiskernpaste und reduziertem, mit Miso und Verjus montiertem Kürbissaft. Klingt gut, doch vor allem wegen dieser Sauce funktioniert das Gericht für uns leider gar nicht: sie schmeckt unangenehm intensiv und wirkt (dadurch?) seltsam artifiziell. Zusammen mit den ebenfalls kräftigen Grillaromen vom Fisch entwickelt sich ein geradezu penetranter Geschmack. Wir lassen die Hälfte stehen. Schade.

Umso besser gefällt uns der Fleischgang: Faux Filet de Boeuf (Sirloin-Steak), das 40 Tage reifen durfte und von einer Kreuzung aus den Rassen Salers und Aubrac strammt. Das Fleisch ist zart und doch kernig, schmeckt intensiv nach Rind und hat einen leichten Fettrand. Vor lauter Wagyu-Overkill hatten wir fast vergessen, wie exzellent "herkömmliches" Rindfleisch schmecken kann. Und nebenbei: durch seine Omnipräsenz auf den Speisekarten selbst drittklassiger Restaurants hat Wagyu seine Besonderheit ohnehin längst verloren. Besinnen wir uns auf die guten heimischen Rassen und Züchter.
Hier jedenfalls wird das französische Rind lediglich mit einem hervorragenden Jus mit Rindergarum serviert; dazu etwas Radicchio, mit Kirschessig gebraten: ein wenig Würze, ein bisschen Bitterkeit, ein Hauch Süße. Mehr braucht es nicht. Stilistisch und von der Produktqualität erinnert uns dieser Hauptgang an das »Saison« in San Francisco, wo er locker eine gute Figur machen würde. Nur etwas mehr hätte es auch hier sein dürfen.

Das erste, kleine Dessert besteht aus Vanilleparfait mit konzentriertem Apfelsaft, etwas Liebstöckelöl sowie kleinen Stückchen von Staudensellerie. Letztere erweisen sich als Clou: sie kontrastieren die kühle Süße des Parfaits und die Fruchtigkeit des Apfelsafts mit herb-bitteren Akzenten, die das Ganze in eine andere Liga katapultieren. Es ist, als kämen dadurch ganz neue Aromen zum Vorschein. Zugleich bringt der Liebstöckel eine hintergründige Umami-Schmackigkeit ein und wirkt wie ein Katalysator für alle anderen Aromen. So klein diese Süßspeise ist, so sehr bringt sie uns zum Schwärmen: eine Götterspeise en miniature, nicht weniger.

Das abschließende Dessert dreht sich um weiße Schokolade und Zitrusfrüchte. Auf einer Creme von weißer Schokolade sind diverse Zubereitungen drapiert: Sudachi-Kompott, Grapefruit-Sorbet, Baiser mit Kalamansi-Essig, weiße Schokoladenstreifen sowie kandierte Scheiben von Zedrat-Zitrone. Es schmeckt frisch, leicht und zugleich vollmundig, hat Säure und Schmelz. In Kombination mit den unterschiedlichen Zitrusaromen schmeckt sogar die oft etwas künstlich wirkende weiße Schokolade reizvoll. Und doch bleibt es auf Dauer etwas eintönig. Ein geschmacklich gutes, handwerklich einwandfreies Dessert, keine Frage, aber kein Vergleich zu dem davor.

Die Petits fours, weiches Tonka-Karamell und eine knusprige Tartelette mit Umeboshi und Yuzu-Creme, bestätigen den positiven Eindruck der Pâtisserie.

Das »Les Apothicaires« war die große, schöne Überraschung unseres Trips nach Lyon. Wägen wir alle Faktoren ab, war es in Summe sogar das Highlight der Reise. Hier kocht ein junges Team in lockerer Atmosphäre ein unverkrampft-kreatives, dabei gradliniges Menü, das einfach Freude macht – irgendwo zwischen klassischen Elementen wie Hechtklößchen und modischeren Techniken wie Fermentation und Ideen wie Sellerie im Dessert. Und das zu einem Preis, über den man nur Staunen kann. In Deutschland gibt es Vergleichbares immer noch zu selten. Aber sehen wir es positiv: auf der Suche danach haben wir stets einen guten Grund für unsere Reisen. Die nächste Überraschung wartet bestimmt.

Text: Kai Mihm

Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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