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Restaurantkritik 28.Dezember 2022

Ragazza mia!

Unsere Reise nach Stockholm begann mit Frust: In aller Frühe erhielten wir am ersten Morgen einen Anruf für einen Last-Minute-Platz im »Frantzén« – und mussten die Chance aufgrund eines akut aufgetretenen Infekts schweren Herzens sausen lassen. Zweifellos eines der bittersten Telefonate unseres Fresserlebens. So hieß es Hotelbett statt gehypter Theke, Grüner Tee statt Grand Cru und Gripostad statt Kaviar. Nun denn. Einen Tag später waren wir zum Glück wieder fit genug für das Highlight namens Oaxen Krog.

Bis zum letzten Abend hoffen wir auf einen nochmaligen Anruf aus dem »Frantzén«, der natürlich nicht kommt. Also brechen wir zum »La Ragazza« auf, mit etwas gemischten Gefühlen, denn der Tipp stammt von der gleichen Webseite wie das herb enttäuschende Operakällaren. Wir wissen, dass es während der Pandemie eröffnete, doch über den Küchenstil und den Chef wissen wir praktisch gar nichts. So laufen wir im historischen Viertel Gamla stan auch erstmal an dem unscheinbaren Lokal vorbei – in letzter Zeit ein running gag im wahrsten Wortsinn. Tatsächlich hat die Fassade mehr von einem Eckbistro, wirkt aber durchaus einladend.

Dieser Eindruck bestätigt sich beim Betreten des kleinen Lokals. Das Interieur verbreitet ein sanft nostalgisches Flair zwischen Pariser Bistro und römischer Trattoria. Das festgelegte Degustationsmenü (ca. 160 €) umfasst rund zehn Gänge und lässt mit seinen knappen Formulierungen keine größeren Rückschlüsse auf die Küchenrichtung zu. So der so, fühlt sich alles schon jetzt irgendwie gut an. Mit dem jungen, charmant-smarten Sommelier tauschen wir uns kurzweilig über die Weine und unsere Erlebnisse der vergangenen Tage aus, dann kann es losgehen.

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Der erste Gang besteht aus einem Zweierlei von norwegischer Jakobsmuschel. Da ist einmal eine Tartelette aus norwegischen Kaisergranatscheren mit einer Emulsion aus fermentierten Tomaten und eingelegten Koriandersamen, darauf Spähne vom geräucherten und getrockneten Jakobsmuschelrogen. Dieser knuspernde, saftige, zarte Happen strotzt vor Meereskraft und Umami, fächert seine Aromen blitzschnell und dennoch elegant auf. Wundervoll.

Noch besser wird es auf dem Hauptteller (wenn diese Unterscheidung hier überhaupt Sinn macht). Da ruht eine rohe, in drei mundgerechte Stücke geschnittene Jakobsmuschel in einer Marinade von Ponzu, hergestellt aus fermentiertem schwedischem Gemüse. Die schiere Qualität der Muschel ist atemberaubend. Fest und doch zart in der Textur, geschmacklich nussig und süßlich-jodig in jener durchscheinenden Art, die man nur bei den besten Exemplaren findet. Die Ponzu-Sauce unterstreicht diese Qualitäten mit subtiler Würze und verleiht dieser unglaublich »rein« und klar schmeckenden Kreation eine kaum greifbare Komplexität. Was für ein Auftakt!

Auch der zweite Gang besteht aus zwei kleineren Kreationen. Eine knusprige Topinambur-Schale ist mit gegrillter Artischocke und weichem Artischockenfleisch gefüllt, Mandeln setzen in der erdigen Aromenwelt überraschende Akzente, eine Würze aus verblüffend sich ähnelndem Estragon und Lakritze überrascht mit dezenten Anisnoten. Alles ist millimetergenau abgestimmt zu einem würzigen, knusprigen, köstlichen Happen.

Dazu gibt es in einem kleinen Steinguttöpfchen eine fluffige Sauce aus Roscoff-Zwiebeln, die zarte Stücke von Noir de Bigorre-Schwein umhüllt, angemacht mit chinesischer Fünf-Gewürz-Mischung. Umami pur, aber nicht plump. Dazwischen knacken Macadamianüsse, während kanadischer Apfelessig die Üppigkeit auffrischt und dem chinesisch-französisch angehauchten Ensemble einen Touch von Süßsauer-Wohligkeit verleiht. Magisch.

Und es kommt noch besser. Der nächste Gang wird als Vitello Wagyunato annonciert, das charmanteste Kulinar-Wortspiel des Jahres. Spanischer Aquita-Reis, mit Essig gekocht, ist in einem tiefen Teller mit fermentierten Bärlauchkapern, rohen Scheiben von schwedischem Kalbfleisch und einer luftigen Emulsion aus dem Fettdeckel von A5-Wagyu geschichtet – Moment, nochmal: eine luftige Emulsion aus dem Fettdeckel von A5-Wagyu! Auf so eine Idee muss man erstmal kommen. Gekrönt wird das Ganze von spanischem Otoro, dünn aufgeschnitten wie Sashimi. Unser Kellner empfiehlt, mit der Gabel einmal ganz durchzugehen – und Junge, hat er recht! Der gesamte Mundraum wird übermannt von einer Welle aus Umami, Süße und Säure; da ist der zarte Biss vom Reis, die Samtigkeit der Emulsion und der üppige Schmelz vom Tuna. Drei, vier Löffel sind das nur, und jeder davon jagt uns einen Schauer über den Rücken. Was für eine Götterspeise.

Nach dieser japanischen Interpretation eines Italo-Klassikers wird es sehr konkret mediterran. Gehäutete schwedische Tomaten wurden mit Olivenöl, Salz und Essig gewürzt und bei 100 Grad im Ofen gegart, wodurch die unterschiedlichen Sorten eine samtig-saftige Beschaffenheit bekommen und ihre natürliche Süße herausgekitzelt wird. Auf dem Teller kommen noch Basilikumsalz, Liebstöckelöl und Piment d'Espelette hinzu, die sich mit dem klaren Saft schwedischer Wassermelonen zu einer würzig-frischen Vinaigrette verbinden. Das mutet alles ganz simpel an, und genau darin liegt das Geheimnis dieser beeindruckend puren Produktinszenierung.

Wir bleiben in Italien. Vier perfekt bissfeste Tortellini sind mit einer Mischung aus karamellisierten Pilzen, Blumenkohl und gereiftem Parmegiano-Reggiano gefüllt. Mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen. Nur vielleicht, dass die Brühe aus Pilzen, Grünkohl und Sherry-Essig gerne etwas großzügiger angegossen werden dürfte, Tortellini müssen schwimmen… Serviert werden die amüsant an kleine Brettspielfiguren (Ritter?) erinnernden Teigtaschen mit eingelegten Pilzen, gepökeltem Eigelb und französischem Herbsttrüffel, der in fein geraspelter Darreichung leider nicht seine volle Wirkung entfaltet. Insgesamt ist dieser Gang aufgrund solcher Details nicht ganz so rund, wie alles vorhergehende, trotzdem bleibt es ein hervorragendes Pastagericht.

Voll besetzt ist das Restaurant an diesem Freitagabend nicht, vollkommen unverständlicherweise, doch die Stimmung ist gut, an den meisten Tischen sitzen Paare, die es sich einfach gut gehen lassen. So glücklich wie wir ist jedoch garantiert niemand im Raum… Durch die große Glasfront werfen gelegentlich Passanten ein Blick herein, sichtlich interessiert. »Kommt rein!«, möchten wir ihnen zurufen.

Der Fleischgang des Abends besteht aus schwedischem Rehrücken, der zunächst angebraten und dann in einer himmlischen Sauce aus Sauternes, Portwein, Madeira und Rotwein sanft gegart wird. Diese Methode lernten wir erstmals vor vielen Jahren bei Thomas Bühner im »La Vie« kennen. Hier wird das von Sauce überzogene, appetitanregend glänzende Stück von karamellisierter Wacholdercreme gekrönt, bedeckt von etwas Trüffel. Ein vollmundiger Genuss, herbstlich und kraftvoll, flankiert von knackigem Rotkohl und fermentierten, feinherben Heidelbeeren. Alles auf den Punkt, genau wie es sein soll.

Dass wir nicht wie erhofft im »Frantzén« sitzen juckt uns längst nicht mehr. Im Gegenteil.

Der letzte Gang des herzhaften Menüabschnitts kombiniert Kaisergranat und Wels. Das perfekt gegrillte, knackige Krustentier ruht auf einer hausgemachten, typisch pastösen XO-Sauce, bei der man die vielen wunderbaren Meereszutaten schmeckt, die darin verarbeitet sind. Der elegante, zartfleischige Fisch wurde in Zitronengras-Butter gebacken und liegt auf ein paar Kügelchen frischer Fingerlimette, was ihm Frische und Tiefe verleiht. Dazu hat die Küche aus einer Brühe von den Langoustinen-Karkassen mit oxidiertem Weißwein, Essig, Sahne und Butter eine Sauce von seidiger Eleganz produziert, von jener aromatischen Transparenz, die großes Handwerk kennzeichnet. Ein herausragendes Gericht, einmal mehr.

Fast etwas wehmütig kommen wir zum Dessert. Hier ist italienischer Robiola-Käse mit seinen frisch-würzigen Aromen von Schaf- und Ziegenmilch zu einer exzllenten Eiscreme verarbeitet wird. Die Nocke wird von geeistem und mit Ingwer aromatisierten Apfel bedeckt und sitzt auf köstlich karamellisiertem Apfel und Honig-Knusper – erfrischende Säure, wärmende Süße und dazwischen kühlende Cremigkeit. Dazu gibt es eine Art Kreppel, heiß und fluffig, üppig und zuckrig. Zum Augenschließen gut.

Der gebührend puristische Abschluss des Menüs besteht aus einem Stückchen Valrhona-Schokoladentarte, die in verschiedenen Schichten Milch- und Zartbitterschoklade mit pointierter Salzigkeit kombiniert (bei Verträglichkeit noch mit gerösteten piemonteser Haselnüssen und Walnussöl angereichert). Eine runde Sache.

Was hätten wir verpasst! Seien wir ehrlich: ins »Frantzén« geht immer jeder, doch wer hat das »La Ragazza« auf dem Schirm? Wir ahnten nichts, erwarteten nichts – und wurden mit einem Menü überrascht, das uns mit jedem Gang neue Glückseligkeit bescherte. Man kommt hier ohne Spielereien und Show, ohne zahllose Komponenten und »dekorative« Überflüssigkeiten aus. Hier geht es ums Wesentliche. Selten erleben wir eine Küche, die so fokussiert, wohlschmeckend und originell ist, der es sogar gelingt, mit ein paar Ofentomaten oder einem Stück Rehrücken mit Sauce derart zu begeistern. Das letzte Mal, dass uns ein fehlender Stern (oder zwei) so entgeisterte, war vor elf Jahren im Pariser »Agapé Substance«. Der Küchenchef des »La Ragazza« heißt Patrik Castillo Grönlund und sagte uns vorher nichts. Doch man sollte sich diesen Namen merken.

Um den Abend angemessen ausklingen zu lassen, gehen wir noch für einen Absacker ins rustikale Schwesterlokal nebenan. Es heißt »Le Burgundy« und der Name ist Programm. Wir stöbern ungläubig in einer Weinkarte, die in Sachen Auswahl und freundlicher Kalkulation ihresgleichen sucht. Bei einer Flasche Girardin (2016 Corton Charlemagne, 240 €) lassen wir den Abend Revue passieren. Wir haben in diesem Jahr wieder einige der gerühmtesten Restaurants Europas besucht. Doch eigentlich wissen wir schon jetzt, dass wir unser »Menü das Jahres« hier und heute erlebten.

Kai Mihm

Wein

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