JAN – ganz gelassen
Keine deutsche Restaurant-Neueröffnung dieses Jahres wurde unter Essensverrückten mit so großer Spannung erwartet, wie das JAN in München. Bereits im Sommer 2021, kurz nach seinem überraschenden Abgang aus dem Atelier im Bayerischen Hof, hatte Jan Hartwig ein eigenes Restaurant angekündigt. Ein bisschen erinnerte uns das an Eckart Witzigmann, der einst das Tantris verließ, um sich mit der Aubergine selbständig zu machen.
Bis so ein Projekt umgesetzt ist, dauert es natürlich eine Weile. Doch allein die Perspektive stimmte erwartungsfroh. Sie unterstrich auch Münchens Status als derzeit wohl umtriebigste Fine-Dining-Metropole Deutschlands, von der Verjüngungskur des Platzhirschs Tantris über die Eröffnung des »Mural Farmhouse« bis hin zur spektakulären Neubesetzung im Alois. Als Anfang Oktober 2022 schließlich der Eröffnungstermin des JAN publiziert wurde, stand ein zeitnaher Besuch ganz oben auf unserer Agenda.
Als eines der wenigen deutschen Spitzenrestaurants hat es auch zum Lunch geöffnet, was unserer Planung sehr entgegenkommt. Doch erstmal laufen wir an diesem sonnigen Mittag schnurstracks am Restaurant vorbei. Ein Blick aufs Handy, Kehrtwende – wo soll das hier sein? Tatsächlich weist in der Luisenstraße 27 nur ein im Eingangsbereich verstecktes Schild auf das Restaurant hin. Selbstbewusstes Understatement.
Drinnen setzt sich die bemerkenswerte Zurückhaltung fort. Kein subventionierter Pomp, sondern sympathische Schlichtheit. Viel helles Holz und strukturierter Kalkputz an den Wänden geben den Räumlichkeiten eine warme Atmosphäre, dazu runde Esstische aus gekohlter Eiche und dezente Polsterstühle. Die minimalistische Designsprache und die klare Linienführung haben beinahe etwas Japanisches.
Von japanischer Strenge kann indes keine Rede sein. Es ist viel los, und das junge, überwiegend weibliche Serviceteam strahlt Motiviertheit und beste Laune aus. Alles fühlt sich hier leicht, luftig und nach ungezwungener Genussfreude an. Der Besuch eines neuen Restaurants hat immer etwas Aufregendes, heute so deutlich wie nur selten.
Die Aperitifkarte (ein vorbildliches Detail) bietet diverse Optionen von Sherry bis Champagner; gleichzeitig wird die Menükarte gereicht, seltsamerweise ohne Preise, sowie eine Karte mit optional hinzubestellbaren Gerichten – es scheint für derlei Verlockungen also auch in Deutschland ein Publikum zu geben. Angesichts eines bevorstehenden Abendessens entscheiden wir uns beim Menü für die etwas kürzere Variante (195 €). Zählt man die gelisteten Kleinigkeiten vorab und danach mit, was vielerorts längst üblich und angesichts des Aufwands nur legitim ist, sind das immerhin zwölf bis dreizehn Kreationen.
Derweil steht zum Aperitif auch schon die erste Kleinigkeit auf dem Tisch. Eine knusprige Tartelette mit Foie gras au Chantilly und gehobelter Pekannuss hat traumhaften Schmelz und ein delikates, beinahe flüchtiges Leberaroma, aufgefrischt durch die luxuriöse Säuerlichkeit von ein paar Tropfen Balsamico, pointiert durch die warme Alkoholnote von Armagnac-Rosine. Sehr klassisch, ungemein köstlich.
Den Nachhall dieser exzellenten Petitesse am Gaumen, widmen wir uns der sehr überschaubaren, aber von Sommelier Jochen Benz ansprechend zusammengestellten Weinkarte. Sie ist nach Rebsorten sortiert, was angesichts der (derzeit noch?) sehr geringen Anzahl an Positionen Sinn macht, und nebenbei auch die Suche erleichtert, da wir sofort die Chardonnay-Abteilung ansteuern können. Wir starten mit Bernhard Hubers »Alten Reben« (2015, 115 €).
Die nächsten Einstimmungen werden im Doppelpack serviert. Eine Croustade aus hauchdünn knusperndem Buchweizenteig ist mit einer Art Ragout von Zucchini und Feta gefüllt. Die anregende, dezent mediterrane Mischung aus »dunklen« Getreidenoten, frischer Gemüsigkeit, feinherbem Käse und einem Hauch Pfefferminze breitet sich wohlig am Gaumen aus, da blitzt unvermittelt die salzige Würze darin versteckter Anchovis auf und gibt dem Ganzen den entscheidenden Umami-Kick. Stark. Mit außergewöhnlichem Feingefühl wird hier eine eher rustikale Zusammenstellung zu einem hocheleganten Snack veredelt.
Ebenso gut schmeckt ein Limonen-Baiser, dessen süßsäuerlicher Crunch in Spitzpaprika und Pecorino einen raffinierten Konterpart findet. Auch diese Kombination hat mediterrane Anklänge, und ähnlich wie bei den vorherigen Snacks geht es um eine subtile aromatische Entwicklung zwischen Süße, Säure und Herzhaftigkeit. Und bei allen drei Kreationen passiert mittendrin noch etwas, kommt ein Geschmack durch, der überrascht und für einen vergnüglichen Aha-Effekt sorgt.
Als nächstes wird ein Porzellan-Ei serviert, in dem sich unter Stückchen superkrosser Hühnerhaut eine schaumige Melange aus Parmesan, Zwiebeln und mild geräucherter Spinatcreme findet. Geht man mit dem Löffel einmal ganz durch, sticht man noch ein Wachtelei an, und gerade wenn man denkt, dass diese süffige, warme Wohlgeschmackigkeit vielleicht etwas zu weich ist, spürt man plötzlich den knackenden Biss gerösteter Mandelstückchen – da haben wir ihn wieder, den tollen Überraschungsmoment. Ein fantastisches Gericht, das diesen beeindruckenden ersten Menüteil abschließt.
Beim ersten Tellergericht des Mittags sitzt eine beachtliche Menge N25 Kaviar auf einem seidigen Chawanmushi, drumherum drei Rum-Rosinen und halbierte Haselnusskerne. Wir kennen diese Kreation von unserem letzten Besuch im Atelier, damals noch ganz neu und als kleiner Küchengruß serviert (mit Pinienkernen statt Haselnuss). Auch in der jetzigen Größe entwickelt sich ein betörend harmonisches Aromenspiel zwischen Herzhaftigkeit und Süße, zwischen den subtil alkoholischen Noten der Rosinen und dem jodig-frischen Kaviar mit seiner eleganten Körnung. Allein das Chawanmushi erscheint uns am Ende einen Tick zu viel, wodurch das Cremige etwas zu sehr betont wird. Deutlicher ist dieser Eindruck in der Allergiker-Variante, wo die Haselnusskerne ersatzlos entfallen, obwohl etwas »Biss« ganz entscheidend sein dürfte. Das ist bedauerlich, gerade auch bei einem Gericht mit so wenigen und derart bewusst gesetzten Komponenten, dass wir letztes Mal die »Präzision eines Uhrwerks« attestierten. Dazu fehlt heute leider eine kleine Stellschraube.
Auch den nächsten Gang kennen wir noch aus dem Atelier. Ein Filet von bayerischer Forelle ruht in einer sämigen Sauce aus Molke mit Rapsöl. Der Fisch ist warm, aber diesmal nahezu roh belassen, wodurch einerseits die exzellente Produktqualität sehr gut zur Geltung kommt, was andererseits aber auch zu einer höheren Festigkeit führt. Im ersten Moment ist das irritierend, weil unerwartet, aber schon bei der zweiten Gabel sehr stimmig – nicht zuletzt dank der fantastischen Sauce, die sich als heimlicher Star erweist. Jede Menge fein gehackter Gartenkräuter setzen vielfältige Akzente, ploppender Forellenkaviar und winzige Gemüsewürfelchen geben dem samtigen Elixier »Biss«, machen es voll und rund. Wir würden wetten, dass auch ein paar Butterflöckchen im Spiel sind. Auf dem Fisch finden sich noch gewaltige, talerförmige Champignonscheiben mit wunderbar klarem, »waldigem« Pilzaroma. Alles kommt hier genau richtig zusammen.
Das hausgemachte Brot wird als eigener Gang serviert, mit knuspernder Rinde und saftiger, aromatischer Krume. Dazu gibt es Steckrübenfrischkäse mit Liebstöckel, doch wir bevorzugen die eigens von einer dörflichen Produzentin in der Normandie importierte Rohmilchbutter. Bestes Brot und beste Butter, ein Hochgenuss.
Zeit, sich ein wenig umzuschauen. Das Restaurant ist nicht komplett besetzt, aber sehr gut besucht. Vierzig Plätze können maximal bespielt werden, eine beachtliche Zahl. Businessklientel oder Münchner Schickeria sehen wir nicht, sondern Freunde und Paare, die sich einen genussvollen Donnerstagmittag gönnen. Auch das ein schönes Bild.
Kurz darauf überrascht uns die Küche mit einem Gang von der Extrakarte. Ein stattliches Hechtnockerl sitzt in einer Champagnersauce, daneben eine großzügige Nocke Kaviar. Jochen Benz verrät, dass Jan Hartwig unter anderem auch Jakobsmuscheln in den Nockerlteig gibt, womöglich auch deshalb ist die Textur etwas fester, mehr wie ein zartes Klößchen. Beim Anschneiden läuft eine Füllung aus üppiger Kaviarbutter heraus und vermischt sich mit der seidigen Champagnersauce. Ja, das schmeckt genauso lasziv, wie es klingt. Elegant, aromatisch, von träumerischer Sanftheit. Der separate Kaviar müsste da –zumindest in dieser Menge– gar nicht sein, denn er droht aus dem Gang ein Kaviargericht zu machen. Dabei ist es doch das saucengetränkte Hechtnockerl, das ohne Rivalen im Mittelpunkt stehen sollte. Oder am besten gleich zwei davon…
Apropos zwei: der zweite Wein ist mittlerweile auch in der Karaffe, ein famoser 2010er Meursault von Jacques Prieur (275€).
Es folgt ein weiterer Fischgang, was man allerdings nicht ausmachen kann, denn das Filet ist mit einer schneeweißen Joghurt-Emulsion überzogen. Feine Saucenfäden von fermentiertem Knoblauch und Plankton verleihen der Präsentation etwas Malerisches. Aus der Karte wissen wir bereits, dass sich in der Umhüllung Felsenrotbarbe verbirgt, ein Fisch, den wir für gewöhnlich sehr schätzen. Gerne stellt man ihm auffrischende Aromen wie Fenchel, Paprika oder Kräuter zur Seite, hier nun wird der oft etwas strenge Rotbarben-Geschmack durch das Plankton sowie eine Dashi-Beurre-blanc noch verstärkt. Die Wirkung ist eher »interessant« als köstlich. Wir mögen die mutige Reduziertheit dieses Tellers, und etwas Couscous unter dem Filet mildert die »spröde« Aromatik ab. Doch wirklich unser Fall ist dieser Gang am Ende nicht. (Notabene: aktuellere Fotos zeigen das Gericht mit einer anderen Sauce)
Weiter geht es mit glasiertem Kalbsbries von fabelhafter Qualität und Zubereitung. Außen appetitanregend krossgebraten und von lustvollem Glanz, innen saftig und weich. Allein die intensive Rauchfischbrühe empfinden wir als Störenfried, da sie das zarte Bries ganz ungestüm in die Ecke drängt. Wir verspeisen es also weitestgehend ohne den wuchtigen Fond. Winzige Croutons und andere krosse Elemente setzen charmante Knuspereffekte, feine Staudensellerie-Streifen frischen die dunkle Geschmackswelt auf. Vollmundig ist das ohne den Sud noch immer, nur eben stimmig.
Damit sind wir auch schon beim Hauptgang. Eine Wachtelbrust wurde unter einer Farce aus Keulenfleisch souffliert und mit Amaranth überknuspert. Das sieht toll, opulent auch. Umso überraschter sind wir, wie fluffig und leicht dieses Ensemble schmeckt, deutlich und sehr klar nach saftiger Wachtel, durch die Zubereitung aber doch ein bisschen »anders«. Auf einem Lauchtürmchen sitzt noch eine zarte Leber-Praline, die wir zerteilen, sodass die Hälften in der heißen Vin-Jaune-Sauce leicht anschmelzen, aber dennoch einen kühlen Kontrast zum Fleisch bilden.
Beim Dessert fahren wir unverträglichkeitsbedingt zweigleisig. Das »Ersatzdessert« besteht aus gerösteter Opalys-Schokolade mit Jasminreis – eine Art exotisch veredelter Milchreis-Variante, die den milchigen Geschmack der Schokolade und die duftigen Jasmin-Aromen zu einem Fernweh-Effekt vermählt. Etwas Combava-Limette unterstreicht den subtil tropischen Touch. Gepuffter Reis und ein Meringue-Blättchen erfreuen mit dezentem Knusperspaß, ein Pampelmusen-Sorbet grätscht mit herbsüßer Bitterkeit dazwischen. Das schmeckt nicht nur richtig gut, sondern beeindruckt auch durch den Umstand, dass ein so durchdachtes Dessert scheinbar mal eben als »Alternative« aus dem Ärmel geschüttelt wird.
Das reguläre Dessert des Menüs besteht aus einem Törtchen von 75%iger Bio-Schokolade aus Honduras, mit einem Schoko-Schmetterling charmant-altmodisch verziert. Der Service warnt, dass im Boden Haselnuss verarbeitet sei, doch das Törtchen glänzt so verführerisch, dass ich meiner Unverträglichkeit todesmutig trotze und zwei (kleine) Löffelchen probiere – ein Traum. Das Törtchen ist ihm wahrsten Wortsinne vielschichtig, zwischen edelbitterem Kakaoschmelz und samtigen Karamellnoten verbirgt sich irgendwo eine hauchfeine Knusperschicht, oder ist es der Boden? Ganz egal, der Effekt ist wunderbar. Dazu finden sich auf dem Teller eine süßsäuerliche Passionsfrucht-Praline und ein Pampelmusensorbet, dessen Bitternoten an die Schokolade anschließen. Hervorragend.
Den süßen Abschluss bildet eine Mini-Tarte-Tatin, die exquisit nach Vanille und Omas Bratapfel schmeckt, sowie ein fluffiges Profiterole mit Karamell-Kekscreme.
Zum Kaffee dann noch ein paar saftige Madeleines mit Blaumohn, schön gebräunt, wie aus dem Bilderbuch.
Die Bildschärfe lässt es erahnen: Bei den Pralinen konnten wir einfach nicht mehr…
Seit genau zwei Wochen hatte das JAN bei unserem Besuch geöffnet. Ein paar Details können sicher noch justiert werden, doch ein Charakteristikum hat sich nach unserem Empfinden auffallend verändert: Jan Hartwigs Kreationen, angefangen bei den Snacks, erscheinen uns fast durchweg »sanfter«, gelassener und (noch) reduzierter, als wäre Druck rausgenommen worden und eine Filigranität geblieben, die der Küche und auch dem Setting sehr gut steht.
Hartwig geht dabei einen bemerkenswerten Weg, er kultiviert eine Spitzenküche, deren französische Prägung sich in Gerichten wie Tourte de Pigeon (von der Extrakarte) und soufflierter Wachtel zeigt, welche er aber ganz selbstverständlich mit heimischen Gerichten wie Gulasch (!) in eine Linie stellt. Ähnliches kennt man von seinem einstigen Lehrmeister Sven Elverfeld, der die rustikalen Klassiker jedoch stärker abstrahiert. Hartwig ist da konkreter, zum Beispiel auch bei der optimierten, im besten Sinne »klassisch« anmutenden Forelle in Kräutersauce, die aufs Schönste an späte Gerichte von Eckart Witzigmann erinnert. Womit wir wieder bei der Münchner Szene wären. In der Stadt tut sich viel. Jetzt ist sie um eine hochkarätige Adresse reicher. Manche schrieben zur Eröffnung von einem »Comeback« Jan Hartwigs – aber… war er denn je weg?
Kai Mihm