Restaurantkritik 16.September 2022

Dismiss-frutar

Beginnen wir diese Geschichte mit einem kurzen Rückblick, nämlich auf den ersten Besuch im »Disfrutar« im Mai 2017. Er gehört zu den unvergesslichen kulinarischen Erlebnissen unserer Reisen. Die einstigen Ferran Adrìa-Mitarbeiter Mateu Casañas, Oriol Castro und Eduard Xatruch zeigten damals, dass die sogenannte »Molekularküche« durchaus noch ihre Berechtigung besitzt, dass sie innovativ, wegweisend und genussreich sei kann. Damals nannte ich das »postmolekulare Avantgarde«. Es war berauschend.

Deshalb war der Wiederbesuch des inzwischen zweifach besternten Restaurants ein wesentlicher Anlass unserer jüngsten Reise nach Barcelona. [Nachtrag: seit November 2023 hat das Restaurant drei Sterne]. Bei Zweitbesuchen besteht zwar immer das Risiko einer gewissen Enttäuschung, doch einen Reinfall haben wir noch nie wirklich erlebt. Es gibt für alles ein erstes Mal.

Voller Vorfreude betreten wir an diesem warmen Juniabend das Restaurant im Eixample-Vierte. Ähnlich wie im »Suculent« tun sich hinter der schmalen Hausfassade überraschend große Räumlichkeiten auf. Jeder Tisch des hell gestalteten Restaurants ist besetzt, es herrscht eine lebendige, weltläufige Atmosphäre, im Vorübergehen schnappen wir neben spanisch verschiedene Sprachen auf. Der Service agiert smart, kundig und humorvoll, allen voran der ungemein charmante Sommelier. Beste Voraussetzungen.

Zu Beginn werden unsere Wünsche und Vorlieben abgefragt: soll es das Klassiker-Menü sein, oder das saisonale Menü mit aktuelleren Kreationen? Oder vielleicht eine Mischung? Wir entscheiden uns für das aktuelle Saisonmenü. Disfrutar heißt auf deutsch »genießen«. Dafür sind wir hier.

Es geht los mit einem Dry Martini in einer Pipette, sowie einer falschen Olive mit wächsern anmutender Hülle, die am Gaumen zerplatzt und ein flüssiges Inneres freigibt. Ein schöner kleiner Wachmacher, der angenehm kräftig nach Olive und Gin schmeckt. Man beachte das stilisierte Martini-Glas als Halterung.

Ein zeitgleich am Tisch geräuchertes Kokoswasser, als Begleiter für die ersten Snacks, ist weniger unser Fall, und etwas viel altmodische Show für einen simplen Räuchereffekt.

Sodann werden auf einem Holzbrettchen fünf Happen serviert – vom Service stolz als »Mikrowellen-Snacks« annonciert, denn sie wurden in einer handelsüblichen Mikrowelle zubereitet. Es handelt sich um soufflierten Parmesan, eine Art Parmesan-Toast mit Zitronenzesten, eine Soufflé-Kugel aus Yuzu mit Curry, eine Art Keks von Roquefort mit Walnuss und ein Parmesan-Gebäck mit Pesto. Letzterer Happen ist dank des intensiven Pesto der mit Abstand wohlschmeckendste Snack. Der Rest ist vor allem trocken und bröselig. Aus unerfindlichen Gründen ist an der Rückseite des Servierbrettchens ein Spiegel angebracht ist – womöglich um unsere irritierten Gesichter zu betrachten.

Richtig großartig schmeckt, bezeichnenderweise, mein Allergikerersatz für den Walnusskeks, entnommen aus dem Klassiker-Menü: ein Tomaten-Polvorón genanntes Mini-Küchlein mit Olivenöl (nicht im Bild). Die Textur ist wunderbar zart, wie ein extrem feiner und lockerer Mürbeteig, der Geschmack intensiv nach Tomate. Dieser Happen begeisterte uns schon beim letzten Besuch. Ganz kurz flackert die Ahnung auf, dass uns die Klassiker vielleicht doch glücklicher machen würden. Aber es geht ja erst los.

Als Begleiter für die nächsten Kreationen zum Thema Trüffel und Kaviar wird ein mit Trüffel aromatisierter Wodka serviert. Das eiskalte Getränk schmeckt sehr intensiv nach dem Edelpilz, beinahe wie ein Trüffelöl, nur mit deutlicher Alkoholnote. Für einen kleinen Schluck ist das interessant, doch wirklich mein Fall ist es nicht.

Zu essen gibt es dazu eine Coca-Pizza ohne Mehl. Coca bezeichnet ein katalanisches Fladenbrot. Hier wurde es aus glutenfreiem japanischem Teig hergestellt, der sich dank spezieller Behandlung wie superfeiner Blätterteig verhält. Belegt ist die lauwarme Schnitte mit reichlich Trüffel, etwas Burrata und Olivenölperlen. Und sie schmeckt grandios! Knusprig und federleicht, nach exzellentem Trüffel, seidiger Burrata und feinstem Olivenöl. Geht doch!

Der nächste Gang nennt sich Feste Bläschen aus geräucherter Butter mit Kaviar und besteht aus einem dünnen, rechteckigen Cracker, auf dem eine Nocke Kaviar sowie ein schaumartiges Gebilde aus geräucherter Butter drapiert sind. Hergestellt wurde dieses Gebilde mit jener Art Gerät, die Sauerstoff in Aquarien pumpt. Darauf muss man als Koch erst einmal kommen.

Da das Butter-Konstrukt bei Berührung sofort schmilzt, rät der Service zu schnellem Verzehr. Am Ende schmeckt das Ganze wie ein guter Kaviar-Cracker, bei dem das hauchzarte Butterfett eine geschmacksvertiefende Wirkung entfaltet. Die elegantere Version eines Crackers mit Kaviar und Crème fraîche, wenn man so will. Dennoch, so gut das auch schmeckt, bleibt das Gefühl, dass der technische Hintergrund nicht recht in Relation zum Endeffekt steht.

Es folgt ein Klassiker, nein, der Klassiker des Hauses: Panchino. Das »chinesische Brot« ist ein luftig-leichtes, heißes Schmalzgebäck, gefüllt mit Sauerrahm und Beluga-Kaviar. Letztes Mal erhoben wir diese Kombi aus fluffigem Teig, seidigem Rahm und salzigem Kaviar zu einer Götterspeise. Diesmal beißen wir erwartungsfroh hinein und… es schmeckt anders. Viel süßer. Zu süß! Fast wie ein Kreppel. Der Kaviar geht gänzlich unter.

Tatsächlich erläutert uns der Kellner nicht ohne Stolz, dass das Panchino »verbessert« worden sei, indem man den Teig mit Honig versetzt. Wir nehmen das zur Kenntnis und fragen uns, wie man bei einem so ikonischen Gericht auf derartige Ideen kommen kann. Veränderung um der Veränderung willen. Als würde Clemens Rambichler seine Kaviartorte plötzlich mit Zuckerguss veredeln.

Als nächstes wird ein aufwändiges Arrangement zum Thema »Mandeln« auf dem Tisch drapiert. Zwischen Mandelbaumzweigen findet sich eine konfierte grüne Mandel, die mit der Schale gegessen werden kann. Sie schmeckt weich, zugleich knackig und überraschend mild. Außerdem ist da ein zartes, weißes Polvorón-Gebäck in Mandelform, sehr gut.

Die Hauptrolle spielen allerdings zwei unterschiedlich stark geröstete Mandeln, die auf einem kleinen Felsbrocken liegen. Mit einem Stein soll man sie eigenhändig knacken: es handele sich bei dieser Methode um eine typische Kindheitserinnerung zahlreicher Spanier. Wir machen das also, und essen zwei Mandeln. Nun denn.

Nach dieser etwas bemühten Einleitung folgt das eigentliche Gericht: Beim Seehecht »Empedrat« mit Mandeln handelt es sich um die Abwandlung eines traditionellen katalanischen Salats aus weißen Bohnen und Kabeljau. Hier nun wurde Seehecht gepökelt, sous-vide gegart wurde mit Olive, Tomate, Pimentos de Padrón und Mandeln angerichtet. Die Besonderheit besteht darin, dass die Mandeln 14 Stunden lang sanft gekocht wurden, wodurch ihre Konsistenz der weißer Bohnen gleicht; weißer Bohnensaft soll die Illusion perfekt machen. Das schmeckt alles recht gut und recht rustikal. Der Fisch geht etwas unter, doch die gehäutete Tomate hat schönen Schmelz und vollen Geschmack – ich ertappen mich dabei, mich an solchen Kleinigkeiten festzuklammern.

Vor allem aber frage ich mich, welchen Zweck die Verfremdung der Mandeln als Bohnenersatz haben soll. Warum nicht einfach sehr gute Bohnen verwenden? Wenn ich bedenke, welche Offenbarung im Menü vor fünf Jahren eine Inszenierung unterschiedlich ausgereifter Mandeln war, allen voran die fantastischen Glasmandeln, wirkt das hier forciert, plump – und kulinarisch sinnlos.

Noch mehr Mikrowellen-Snacks! Ein knuspriges Pilzblatt wurde nicht in Öl frittiert, sondern aus Klebereis-Teig hergestellt (mit Pilzbrühe anstelle von Wasser), in der Mikrowelle gegart und zum Schluss mit Steinpilzbutter bestrichen. Das Blatt schmeckt deutlich nach Pilz, ist aber vor allem trocken und bröselig, ein wenig so, als würde man auf getrocknete Spinnweben beissen.

Ein papierdünnes Piniensprossen-Tempura (hinten im Bild) wurde ebenfalls mit dünnem Klebereis-Teig in der Mikrowelle gegart. Das Ergebnis ist recht trocken, aber der Piniengeschmack nicht uninteressant.

Nebenbei erfahren wir, dass das Küchenteam in den vergangenen Monaten mit dutzenden Mikrowellen-Snacks experimentiert hat – ins Menü seien nur die Highlights gelangt … das klingt wie eine Drohung.

Aber auch diese Snacks waren nur ein Vorspiel. Das eigentliche Gericht besteht aus gedünsteten Pinienkernen mit Pilz-Jus und Tannenzapfen. Wo letztere verarbeitet sind, schmecken wir nicht. Auch die Pinienkerne haben durch das Dünsten ihren Geschmack (und ihren reizvollen Biss) weitgehend eingebüßt, der Pilz-Jus transportiert immerhin einen Hauch Umami. In Summe schmeckt das alles einfach nur fad. Auffallend ist, dass hier offenbar keine hochwertigen mediterranen Pinienkerne Verwendung finden, die man an ihrer Zapfenform erkennt, sondern die billigere und geschmacksärmere Variante aus China.

Weichgekochte Mandeln, weichgedünstete Pinienkerne, ein honigsüßer Krapfen, staubtrockene Cracker – und die größte Innovation besteht in der Verwendung einer Mikrowelle. So lautet die Zwischenbilanz nach neun Gängen.

Zur nächsten Kreation wird eine Lupe gereicht, damit man die feine Struktur eines Zwiebelbrots bewundern kann, das mit einem Gastrovac-Hochdruckkocher hergestellt wurde. Das ungefähr tischtennisballgroße, schneeweiße Gebilde erinnert optisch an Luftschokolade, ist federleicht und hat sanften Biss. Es schmeckt durchaus angenehm nach Zwiebel und verflüchtigt sich am Gaumen in Sekundenschnelle. Das ist technisch verblüffend, und geschmacklich eine nette Nichtigkeit.

Beim nächsten Happen handelt es sich um die »Disfrutar«-Variante eines spanischen Klassikers: Yemas de Santa Teresa bezeichnet eine Art Praline aus kandiertem, wachsweichem Eigelb. Hier ist das Eigelb mit Zwiebelkaramell überzogen. Das schmeckt gut – einerseits süß, zugleich aber mit einer dezenten Umami-Note von der Zwiebel.

Und weiter geht's... Mit einer einzelnen Stange weißer Spargel, umhüllt von einem hauchdünnen Spargelstreifen – denkt man. Wir versprechen uns knackigen Wohlgeschmack, doch der Spargelstreifen ist nicht um eine Stange, sondern um ein Sorbet aus weißem Spargel gewickelt. Oben heraus schaut lediglich die echte Spargelspitze, gebettet auf Mandaringel. Dazu gibt es ein Pulver aus Macadamianuss sowie gefrorenes Pulver aus Holunderblüten. Das ist alles ein bisschen zu weich und zu süßlich, und auf denkbar harmloseste Weise »schmackhaft«.
Amüsant finden wir, dass »falscher« Spargel hier als Innovation betrachtet wird, offenbar in Unkenntnis von Juan Amadors »virtuellem Spargel« aus dem Jahr 2008.

Einen Lichtblick bietet der nächste Gang. Zwei geröstete Mini-Tintenfische sind mit Blutwurstsauce und multispherischen Erbsen angerichtet, die wie eine knallgrüne Perlenkette aussehen. Hier spielt die Küche erneut auf irgendein Traditionsgericht an, was sich auch in der rustikalen Aromatik bemerkbar macht: es schmeckt überwältigend intensiv, speziell auch nach den zahlreichen eher faden und süßlichen Gängen. Ich merke, wie gerne ich das alles hier richtig toll fände, und das Gericht ist auch nicht schlecht. Doch es ist nichts, wovon ich einen Nachschlag verlangen würde.

Die Präsentation der nächsten Happen lässt ein Retro-Feeling aufkommen: In einer Schale umnebelt Trockeneis allerlei Seetang und eine »goldene« Austernschale. Diese enthält einen klassischen, leicht gefrorenen Margarita, der gut schmecken könnte, wenn nicht der strenge Geschmack von Codium-Seetang beigemischt wäre; ein Salz-»Air« hat keine nennenswerte Wirkung.

Daneben findet sich ein knuspriger Seetang-Raviolo mit Shiso, Essigpulver, Dashi-Gelee und eingelegter Gurke. Auch das schmeckt vor allem herb und streng, und weckt wenig schmeichelhafte Hafenbecken-Assoziationen.

Und weil Trockeneis immer gut ankommt, wird es gleich noch mal eingesetzt. Man soll in eine dampfende Kiste greifen, ohne zu wissen, was sich im Trockeneisnebel verbirgt. Glibberiger Seetang sorgt kurz für haptische Verwirrung, dann greift man etwas Festes. »Angst« lautet der Titel dieses Ganges, doch wirklich aufregend ist das Spielchen nicht…

...schlussendlich fischt man eine gekochte Palamós-Garnele aus dem Trockeneis, die man vollkommen pur verspeist. Eine feine Produktschau, wenngleich es dem Krustentier an Würze fehlt. Den Kontrast bildet ein Löffel mit ultraintensiven Jus aus Huhn und Garnele. In seinem produkfokussierten Purismus ist das zweifellos einer der besseren Gänge des Abends.

Unter der Überschrift »Die Gans die goldene Eier legte« kommt dann ein jüngerer Klassiker des Hauses auf den Tisch. Der märchenhafte Titel umschreibt ein Spiegelei, bei dem das Eigelb durch sphärifizierten Krustentierjus ersetzt wurde; die Hülle des »Dotters« ist golden eingefärbt. Beim Anstechen verteilt sich der Jus auf dem Eiweiß, das mit Mini-Garnelen kross gebraten wurde – eine Anspielung auf klassisches spanisches Krabbenomelett. Der Jus ist mit Kokosmilch, Tamarinde, Limette und Erdnuss gewürzt und erinnert an Satay-Sauce, süßlich, gefällig und gehaltvoll. Man kann das gut essen, doch es schmeckt einerseits zu fad und zugleich etwas plump.

Beim Rindertatar mit Crème von Rinderfett, Pommes Soufflé und einem klebrigen Rinderjus wird mächtig an der Intensitätschraube gedreht. Vielleicht sind unsere Mägen bereits zu mitgenommen, doch jede Komponente scheint hier an die aromatische Schmerzgrenze zu gehen. Trotz der sehr guten krossen Kartoffelkissen ist uns das auch zu weich, zu cremig und zu fett. Wir lassen fast alles liegen.

Um uns herum ist die Stimmung prächtig (nicht dass sie bei uns schlecht wäre). Die meisten Tische scheinen das Klassiker-Menü bestellt zu haben. Das scheint zu schmecken. Wobei uns gelegentlich halbvoll abgeräumte Teller auffallen. An dieser Stelle sei nochmals ausdrücklich der überaus angenehme, mit viel Hingabe agierende Service erwähnt.

Zu einer Premiere kommt es bei einem Trüffel-Blini, das mit einer Creme aus Taubenfleisch gefüllt ist. Das Teil sieht so verlockend köstlich aus, dass ich es gierig auf einmal in den Mund schiebe – ein Fehler. Der unangenehm weiche, an Marshmallows erinnernde Blini-Teig ergibt zusammen mit der breiigen Taubenfüllung und den Terpentinaromen des Trüffels eine so abstoßende Mischung, dass ich bei vollem Mund mit einem akuten Würgereflex kämpfe. Das gab es in fünfzehn Jahren Sternefresser-Geschichte noch nie. Glücklicherweise geht der Spuckdrang nach wenigen Sekunden zurück, sodass ich die Chance bekomme, das Ganze mit einem großen Glas Wasser herunterzuspülen. Augen zu und durch.

Der Gedanke ist vielleicht etwas zu naheliegend, doch mittlerweile fragen wir uns, ob hier irgendwo ein versteckte Kamera platziert ist.

Jedenfalls ist nach diesem magenumdrehenden Intro meine Lust auf den Hauptgang relativ schwach ausgeprägt. Es gibt Taubenbrust mit süßlich-herbem Amazake (ein fermentiertes Reisgetränk), Nashi-Birne und einer »Umamisauce« mit Kombu. Das Fleisch ist makellos gegart, doch über die reine Qualität lässt sich nicht viel sagen, da es in der abermals äußerst intensiven Sauce ziemlich untergeht. Das schmeckt alles nicht schlecht, aber nach drei Gabeln ist es auch genug.

Vor den Desserts kommt es zu einem sehr interessanten Intermezzo. Der Sommelier stellt uns mehrere, stark alkoholreduzierte Weine vor, die im hauseigenen Labor zwecks einer alkoholreduzierten Weinbegleitung hergestellt werden – und zwar aus Weinen namhafter Produzenten. Kurz gesagt macht man sich bei dem Verfahren zunutze, dass Alkohol leichter als Wasser ist, und sich die Stoffe deshalb gut trennen lassen. Eine Vergleichsprobe zeigt eine verblüffende Geschmackstreue. Das ist nun wirklich innovativ und womöglich wegweisend.

Die Desserts, endlich! Die Erleichterung rührt aus der Hoffnung, dass zumindest die Pâtisserie mich noch begeistern wird. Den Anfang macht Gurke mit Hoisin: in einer Schale finden sich Gurkensorbet und eingelegte Gurkenscheiben, dazu Honig-Chantilly, Ingwer-Granita und ein Gel von süßlich-würziger Hoisin-Sauce, die man vor allem als Bestandteil von Pekingente kennt. Kleine Stückchen gepoppter Schweineschwarte erweitern das wohltuend frische Arrangement um eine herzhaft-knuspernde Note. Das ist in Summe relativ konventionell, schmeckt aber ganz ausgezeichnet.

Ein Cornet von schwarzem Sesameis schmeckt erwartungsgemäß nach gesüßtem schwarzem Sesam. Völlig okay.

Texturell etwas gewöhnungsbedürftig ist ein sehr weicher und ziemlich süßer Marshmallow-Taco, der mit einer karibisch anmutenden Füllung aus Mango, Vanillecrème, rosa Pfeffer und Minze punktet. Dazu gibt es einen Mango-Schnitz mit Litschi-Sorbet. Sehr gut.

Zum Abschluss werden noch einige Petits fours aufgetragen. Himbeer-Marshmallows, »falsche« Erdnüsse mit Schokolade, Schokoladen-Passionsfrucht-Bonbons, Matcha-»Felsen« und Ingwer mit Schokolade. Ich probiere alle, und sie sind allesamt gut, die Schokoladen-Passionsfrucht-Bonbons sogar hervorragend.

Um das naheliegende Wortspiel zu bemühen: Ein »Genuss« war das heute im »Disfrutar« nicht wirklich. Ich bin deshalb heilfroh, dass der sympathische Oriol Castro, der zu Beginn des Abends die eintreffenden Gäste begrüßte, nicht mehr anwesend ist, als wir das Restaurant verlassen. Ein Feedback, noch dazu mit Sprachbarriere, wäre jetzt nicht angebracht.

Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass man im »Disfrutar« fantastisch essen kann. Doch eine solche Diskrepanz zwischen Erst- und Zweitbesuch haben wir noch nie erlebt. Der Besuch im »Disfrutar« 2017 war wie ein »Yps«-Heft in den Händen eines Zehnjährigen in den Achtzigerjahren. Der jüngste Besuch dagegen war wie ein »Yps«-Heft in unseren Händen im Jahr 2022 – die Gimmicks wirken schal. Nun ist es nicht meine Art, so etwas einfach beiseite zu wischen. Ich habe auch nichts gegen Experimente, Herausforderungen und provozierende Abweichungen von gourmetbürgerlichen Wohlgeschmacksvorstellungen. Im Gegenteil.

Der Besuch im »Mugaritz« zum Beispiel erfüllte diese Attribute und gehört bis heute zu den prägenden Erlebnissen meiner Reisen. Immer wieder war ich dort genervt, dennoch ließ sich selbst bei kulinarisch grenzwertigen Gerichten der Forscherdrang erkennen; manches wurde rückblickend sogar wegweisend. Die Crux im »Disfrutar« bestand heute vielmehr darin, dass Wegweisendes kaum erkennbar war. Das Menü bestand überwiegend aus einer Aneinanderreihung von manieristischen Spielereien, kleinen Gags und Showeinlagen. L'art pour l'art. Der Besuch vor fünf Jahren war berauschend. Jetzt bin ich ernüchtert.

Kai Mihm

Weine

Vodka / Truffle

Autolysse, Le Brun de Neuville, Champagne

Time Machine Vintage 2016, Tamagawa, Chiba

Marko Loretxoa 2018, Oxer Bastagieta, Bizkaiako Txakdina

Biden 1999, Mii no Kotobuki, Fukuoka

Rausch Kabinett 2018, Geltz Zilliken, OmP Mosel

Mencia 2019, Jose Antonio Garcia, Bierzo

Fino Saca de Primavera Disfrutar & Compartir, Bodegas Tradición, Jerez

Cabernet Sauvignon Reserva 1997, Jean León, Penedés

Pale Cream, Urium, Jerez

#sidebottle: Remelluri Blanco 2012, Bodegas Remelluri, Rioja

Eure Meinung?

Spanische Avantgarde – Hass oder Liebe?

 

Hinweis

Bei dem Besuch handelte es sich um eine Einladung (exkl. Wein). Der Inhalt des Berichts bleibt davon unberührt. Details zum Umgang mit Einladungen und Pressekonditionen findet Ihr hier.

Das könnte dich auch interessieren