Restaurantkritik  1.Juli 2022

Da Terra – Neue Welt

Unser nächster Stop in London führte uns an einen Ort, den wir vor genau zehn Jahren erstmals besuchten. Damals, im April 2012, beherbergte das edle Town Hall Hotel im hippen, zum Glück noch nicht vollständig gentrifizierten Stadtteil Bethnal Green das tolle Restaurant »Viajante« von Nuno Mendes. Lange her, aber immer noch sehr präsent.
2019 eröffnete der in Brasilien geborene Rafael Cagali in den Räumlichkeiten das »Da Terra«, zunächst in Partnerschaft mit dem Italo-Argentinier Paulo Airaudo. Die beiden hatten sich während ihrer Zeit im »Fat Duck« kennengelernt. Der erste Stern kam umgehend. Während Airaudo bald weiterzog und nun zwischen San Sebastián und Hongkong ein kleines Gastro-Imperium mit internationaler Küche aufbaut, erhielt das »Da Terra« 2021 den zweiten Stern. Durch diese Auszeichnung erschien es endgültig auf unserem Radar.

Inhaber und Küchenchef Rafael Cagali, Sohn eines aus Italien stammenden Vaters und einer portugiesisch-spanisch-italienischen Mutter, hat bemerkenswert diverse Stationen absolviert. Außer im »Fat Duck« stand er in der »Villa Feltrinelli« am Gardasee, bei Martin Berasategui und in Simon Rogans »Fera« am Herd. In seinen Menüs im »Da Terra«, so hörten wir, kommen vor allem Einflüsse seiner brasilianischen Heimat zum Tragen. Das klingt spannend, insbesondere nachdem wir am Vorband im »Sollip« eine Küche mit koreanischem Einschlag probiert haben.
So stehen wir an diesem Freitagmittag also wieder vor dem Town Hall Hotel, einem imposanten Gebäude im Edwardianischen Stil, das auch als Kirche durchgehen könnte. Das Restaurant im Hochparterre hat zum Glück nichts von einer Kathedrale. Es herrscht eine warme, gelöste Atmosphäre, mit Fischgrätparkett, dezenten Designerstühlen und runden Tischen, die wie Leinwände bespannt sind. Hier und da ein paar Pflanzen sowie kleine Ninja-Turtle-Figuren aus Cagalis Sammlung. Mit der offenen Küche auf der einen und einem Kamin auf der anderen Seite hat der Raum etwas von einem großzügigen Altbau-Apartment.

Da es ein festes Menü gibt, kann es direkt losgehen. Als erste Einstimmung wird in einer ausgehöhlten Limette ein kühler, süßsäuerlich-herber Caipirinha-Schaum serviert, dem einige Pomelo-Segmente leichten Biss verleihen. Erfrischend, sehr nett.

Anschließend werden drei Happen auf dem Tisch drapiert. Ein hauchdünnes Knusperkörbchen mit gehacktem Merlan gefällt durch eine geheimnisvolle, sanft exotisch anmutende Würze und das delikate Spiel von schmelzendem Fisch und knuspriger Hülle. Ähnlich schön funktioniert der Beef-Taco mit Kaviar, dank seiner präzise-pikanten Würze, dem klassischen Zusammenspiel von Tatar plus Kaviar und der originellen Knusprigkeit des Tacos. Das Highlight bildet indes der Taleggio-Donut mit Trüffel, heiß, fluffig, ein bisschen rustikal und trotzdem elegant. Ein starker Auftakt, der die Erwartungen nicht nur erfüllt, sondern noch weiter anheizt.

Zu recht, wie der erste Gang zeigt. Rohes Saiblingsfilet (von der Houghton Springs Fish Farm) ist mit hauchdünnen Streifen gelber Zucchini zu einer Art Blüte geformt. Am Tisch wird Tucupi angegossen, ein im Norden Brasiliens nach uralter Tradition gewonnenes Produkt aus dem fermentierten Saft von Bittermaniok. Ähnlich einer Ceviche wird der Fisch von diesem kühlen Sud »gegart« und aromatisiert. Deshalb soll man bis zum Verzehr eine Minute warten. Zur Überbrückung dieses Zeitraums steht ein knuspriges Teigkissen mit milder Fischfüllung bereit, auch das eine sehr schöne Idee.
Sodann der marinierte Fisch, zartschmelzend, unterlegt mit knackiger Zucchini, aromatisch oszillierend zwischen sanften Bitterstoffen, feiner Süße und Jodigkeit. Die geheimnisvolle Finesse und die elegante Andersartigkeit dieser Geschmackswelt jagt uns einen Schauer über den Rücken. Dieses überraschend komplexe und träumerisch köstliche Gericht ist nicht weniger als Weltklasse.

Noch leicht benommen von diesem Erlebnis, wird schon der nächste Gang aufgetragen: zwei große, fleischige Shetland-Muscheln ruhen auf einem seidigen Muschel-Custard, umhüllt von einer Sauce aus fruchtig-herbem Sake Kasu. Etwas ploppender Saiblingskaviar sowie separat servierte Chips aus Seegras untermalen das füllige, jedoch nie überbordende Meeresfeeling dieses Gerichts. Das ist keine Brandung, sondern eine spiegelklare, ruhige See – und einmal mehr Weltklasse.

Es folgt ein Klassiker des jungen Restaurants. Huhn nose to tail, sozusagen: In einem tiefen Teller umgibt ein getrüffelter Hühnerjus ein von Trüffel- und Selleriescheiben bedecktes, weiches Eigelb, das beim Anstechen zerfließt und sich aufs Köstlichste mit dem duftenden Hühnersaft vermischt. Dazu gibt es buttrige Brioche zum Auftunken der wunderbaren Schweinerei. Die reine Wonne. Davor, danach oder zwischendurch kann man appetitlich gebräuntes Flügelfleisch und das geröstete Herz von einem Spieß knabbern und kross frittierte (aber recht geschmacksneutrale) Hühnerfüße naschen. In einer Eierschale findet sich noch ein hochintensiver, seidiger Flan aus Hühnerleber, wie gemacht für die letzten Reste der Brioche.
Diese Deklination gefällt uns sehr gut, insbesondere der dichte Jus mit Eigelb, allerdings würden wir uns hier noch mehr Wagemut wünschen. Warum nicht (auch) Magen, die winzigen Nieren oder gar den knusprigen Bürzel servieren?

Wie inzwischen fast überall, kommt das Sauterteigbrot als eigener Gang auf den Tisch. Zu recht, denn es schmeckt ausgezeichnet, warm und fluffig, mit schöner Kruste. Dazu werden gegrilltes Knochenmark mit Kräutern, zwei Buttersorten und ein ausgezeichnetes Olivenöl serviert. Das macht Spaß. Als Getränk gibt es Dosenbier von der Londoner Boxcar-Brewery, ein hübscher Gag, aber uns in diesem Moment zu schwer.

Zeit, sich ein bisschen umzuschauen. In der offenen Küche herrscht längst konzentrierte Geschäftigkeit. Das Publikum ist bunt, um uns herum sitzen Asiaten, Deutsche und Einheimische, die sich einen schönen Freitagmittag machen. Die 40 Plätze des Restaurants sind fast alle besetzt. Dazwischen wuselt das gut gelaunte Serviceteam. Schön hier.

Vor dem nächsten Gang präsentiert Rafael Cagali einen großen Kupfertopf mit Moqueca, Brasiliens berühmtem Fischeintopf. In einer leuchtend gelben Kokos-Schmorsauce sehen wir Fischstücke und Kaisgergranat-Köpfe, Paprikas, Okraschoten, Limetten und Koriander. Eine Art brasilianische Bouillabaisse.

Auf dem Teller sieht das Ganze dann deutlich filigraner aus. Ein saftige Tranche vom gereiften Heilbutt wird mit dünnen Palmherzscheiben, knackigem Okra-Ragout und Farofa serviert, einer brasilianischen Beilage aus Maniokmehl, die leicht rauchig und angenehm salzig schmeckt. Als Star erweist sich allerdings die fantastische Sauce auf Basis von Kokosmilch und Fischfond, gewürzt mit Limonenblättern, Ingwer, Koriander und einer hausgemachten Paste aus getrockneten Schrimps. Die Schlüsselzutat, so lernen wir, ist jedoch Öl von der Dendê-Palme, die im Norden Brasiliens angebaut wird. Sie verleiht dem Gericht Säure und gibt der Sauce ihre kräftige gelbe Farbe. "Moqueca ohne Dendê ist wie Carbonara ohne Guanciale", so Cagali.
Um die Üppigkeit der Sauce zu brechen, steht ein Schälchen mit eingelegten brasilianischen Mini-Chilis auf dem Tisch. Tatsächlich gibt deren säuerliche Schärfe dem Gericht den entscheidenden Kick, öffnet die Papillen für die Nuancen der Sauce und für die tiefe Aromatik des gereiften Heilbutts.
Es hat etwas Bewegendes, wie lässig in diesem Menü mit rustikalen Gerichten und typischen Zutaten jongliert wird, um sie in den Kosmos der Spitzenküche zu überführen.

Beim nächsten Gang zollt Cagali Italien Tribut. Ein großer Raviolo mit Pekingente sitzt in einer Molkesauce. Das schmeckt sehr gut, vor allem wegen des makellos gearbeiteten Ravioloteigs mit Brunnenkresse, aber nicht sonderlich spannend. Speziell vom Fleisch der Pekingente hatten wir uns mehr Kraft versprochen. Den gewissen Pep bekommt das Ganze durch eine separat servierte Komponente: auf einem Tellerchen liegen dünne Scheiben gereiften Entenschinkens, dessen salziges Umami den Raviolo regelrecht beflügelt. Die Weltklasse manch vorheriger Gänge wird nicht erreicht, aber das Niveau bleibt hoch.

Im Hauptgang wird ein Stück Short Rib vom Hereford-Rind serviert, dunkel und intensiv, saftig und zart. Dazu gibt es ein Stück Maniok, das naturgemäß recht neural schmeckt und vor allem als Träger der Sauce dient, einer Abwandlung der südamerikanischen Kräutersauce Chimichurri. Hier ist sie leichter, frischer und eleganter, als das Original, trotzdem bleibt sie exotisch und einen schönen Tick »anders«. Ein paar frische, überraschend ausdrucksstarke Kräuter setzen kecke Akzente, in einem separaten Schälchen sorgen kleine Stücke glasiertes Kalbsbries für Kurzweil. Ausgezeichnet.

Der Käsegang trägt den Titel »Romeo & Juliette«, vermutlich weil die Hauptdarsteller so perfekt passen, obwohl niemand sie zusammengebracht hätte: Käse und Guave. Ein kreisrund ausgestochenes Stück Tymsboro –ein unpasteurisierter Ziegenweichkäse aus Südengland– wird von einer dünnen Schicht Guavengelee getoppt. Tatschlich sind der cremige, leicht salzig-nussige Käse und die süßsäuerliche, geheimnisvoll-exotische Frucht ein match made in heaven. Dazu gibt es einen hauchdünnen Lainsamen-Cracker. Einmal mehr hat das große Klasse.

Beim ersten Dessert variiert Cagali den Klassiker Baba au Rhum, den er nicht mit Rum begießt, sondern mit Cachaça, einer brasilianischen Spirituose aus Zuckerrohrmost. Getoppt wird der Baba au Cachaça von einer Nocke exzellentem Pistazieneis und einer großzügigen Portion N25 Kaluga Kaviar. Nimmt man von allem etwas auf den Löffel, ergibt sich eine außergewöhnliche Mischung aus süßen und salzigen, buttrigen und bitteren Noten; es schmeckt nussig und jodig, herb und fruchtig. Im ersten Moment ist das durchaus etwas herausfordernd, doch schon beim zweiten Löffel nur noch fabelhaft.

Leichter zugänglich ist das zweite Dessert aus Yorkshire Forced Rhubarb, einem Rhabarber mit geschützter Herkunftsbezeichnung. Hier wird er geschmort und mit Kokosflan serviert, bedeckt von hauchdünnem Rhabarberkaramell und beträufelt mit 40 Jahre altem San Giacomo Balsamico. Die sanfte, süße Exotik der Kokosnuss und der säuerlich-fruchtige Rhabarber bilden ein ansprechendes Duo, dazwischen knuspert das Karamell, hier und da kommt der edle Balsamico mit seiner fruchtigen Säure durch. Das schmeckt gut, sehr gut sogar.

Abschließend noch ein paar Petits Fours: ein Cornet mit sehr gutem Mais-Softeis, ein süßlich-pikantes Gelee von der Açai-Beere, und eine sehr zarte Praline von Macaé-Schokolade und Passionsfrucht. Wir wissen nicht, ob es hier einen eigenen Pâtissier gibt, aber wer immer es ist, macht seine Sache hervorragend.

Die Küche aus Ländern der »Neuen Welt« ist in Europas Spitzengastronomie nie wirklich angekommen, Ausnahmen bestätigen die Regel. Umso mehr hat uns die Eleganz und Subtilität beeindruckt, mit der Rafael Cagali (vorne re.) brasilianische Gerichte und Produkte in einen handwerklich und kompositorisch europäischen Kontext stellt. Es ist lange her, seit wir eine so eigenständige Interpretation einer »Heimatküche« probiert haben, die dennoch stets mehrheitsfähig bleibt.
Manchmal, das verbindet das »Da Terra« mit dem »Sollip«, dürften die Gerichte ruhig noch etwas radikaler und fordernder sein. Cagali scheint hier und da noch ein wenig vorsichtig zu kochen, als wolle er nicht verschrecken. Nicht auszudenken was erst geschieht, wenn er loslässt. So oder so: bei fast jeder unserer Essensreisen gibt es dieses eine Restaurant, wo wir bereits während des Menüs denken: »Genau dafür sind wir unterwegs!«. Diesmal befand es sich im Town Hall Hotel.

Kai Mihm

Wein

Fragen an die Suffmeisterin (aka Sommelière) Maria Boumpa

Anzahl der Positionen?
Wir haben derzeit etwas mehr als 180 Weine auf der Liste und wollen diese auf etwa 250 erweitern.
 
Konzentrieren Sie sich auf bestimmte Regionen oder Stile?
Das Menü im »Dat Terra« ist eine Reise, und wir wollen, dass die Weine die Komplexität der Speisen ergänzen. Wir haben ein paar Klassiker im Angebot und wollen auch kleinere Regionen, Erzeuger und einige Naturweine präsentieren. Unsere Karte ist umfangreich, aber wohlüberlegt, denn das Hauptziel ist es, den Gästen etwas Neues vorzustellen.
 
Welcher Wein ist der günstigste und welcher der teuerste auf der Karte (und wie viel kosten sie)?
Dobogo Tokaji Furmint (£48), ein ungarischer Weißwein, ist unser günstigster Wein, er hat einen mineralischen Charakter und einen cremigen Abgang. Unsere teuerste Flasche ist ein italienischer Wein vom legendären Emidio Pepe, Trebbiano D'Abruzzo (£800). Emidio ist ein Pionier des biodynamischen Weinbaus in Italien, ein reichhaltiger und unverwechselbarer Weißwein mit Noten von Mandeln und weißen Blüten.
 
Die ungewöhnlichste Rarität?
Der Mas De Daumas Gassac, Vin de Laurence ist unsere ungewöhnlichste Rarität. Es handelt sich um einen Süßwein, der früh geernteten Sercial mit spät geernteten Muscat Petit Grains aus dem Gassac-Tal im Languedoc mischt.

Welchen Wein haben Sie seit der Eröffnung des Restaurants nach Covid am häufigsten verkauft?
Es gibt keinen bestimmten Wein, aber die Leute trinken mehr österreichische Rotweine und sind offener für Weine mit wenig Intervention.
 
Ihre denkwürdigste Entdeckung der letzten 12 Monate?
Osteuropa hat eine reiche Weinbaugeschichte, auch wenn viele Weine in den letzten zehn Jahren übersehen worden sind. Es gibt einige neue Erzeuger, die die Szene aufmischen, und unsere Lieferanten haben uns vor kurzem einige polnische Weine vorgestellt, die einen ganz besonderen Stil und eine ganz besondere Textur haben. Ich mag den Silesian Cuvee - eine Mischung aus Hibernal, Bianca, Johanniter und Solaris. Er ist sehr aromatisch und erfrischend. Wir haben den Winnica Turnau Riesling (in alter Eiche vergoren und gereift) in die Weinbegleitung aufgenommen, ein faszinierender Wein mit Geschmacksnoten von Melone und Jasmin.
 
Ihr persönlicher Lieblingswein? Und weshalb?
Ich bin ein großer Fan griechischer Weine, und es gibt einige, die mir besonders gut gefallen: Es Argyros Cuvee Monsignori ist ein großartiger Wein aus Santorin - die Rebstöcke sind 200 Jahre alt, und ich liebe Thymiopoulos Earth and Sky Naoussa, einen biodynamisch angebauten Xinomavro. Bei den französischen Weinen genieße ich einen Chardonnay von der Domaine de Marnes Blanches im Jura, der in der Nase Noten von konfitierter Zitrone, Rosmarin und Thymian aufweist.  Er hat einen sehr runden und würzigen Abgang und passt hervorragend zu unserem Moqueca-Gericht.

Was war der ungewöhnlichste Weinwunsch, den Sie je von einem Gast von einem Gast erhalten haben?
Ein Gast wünschte sich ein Glas Château d'Yquem Sauternes in der Erwartung, dass er trocken sein würde, also habe ich ihn durch unsere glasweise Weinkarte geführt, um etwas zu finden, das seinem Geschmack entspricht. Der Gast entschied sich dann für einen halbtrockenen Grauburgunder aus dem Elsass, der leichter und nicht so süß ist wie ein klassischer Dessertwein.

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