Hermanos Torres: Küchenzauber
Wir sind ziemlich erschöpft, als wir am Bahnhof Barcelona-Sants aus dem Zug steigen, zurück aus Girona. Vier ereignisreiche Tage liegen hinter uns, mit Dutzenden Gerichten, faszinierenden Begegnungen, langen Nächten und tausend Eindrücken. Am frühen Abend steht der Rückflug an. Vorher geht es für ein letztes Mittagessen in ein Restaurant, über das wir fast nichts wissen, außer dass es von Zwillingsbrüdern geführt wird und zwei Sterne hat: Das »Cocina Hermanos Torres« scheint zumindest außerhalb Spaniens unter dem Radar zu liegen – wie so mancher der 33 spanischen Zweisterner. [Update November 2022: inzwischen hat das Restaurant drei Sterne]
Die Wirkungsstätte der Gebrüder Javier und Sergio Torres befindet sich in einem gesichtslosen Wohnviertel etwas außerhalb der City. Ein gehobenes Restaurant würde man hier nicht unbedingt vermuten. Nach einem schweißtreibenden Marsch durch die Mittagshitze errreichen wir vor einer ehemaligen Industriehalle schließlich unser Ziel. Der niedrige Bau mit charmantem Giebeldach wirkt wischen den umliegenden Wohnblöcken beinahe zerbrechlich. Filigrane Fassadenmalerei, die einen stilisierten Wald zeigt, verleiht ihm etwas Märchenhaftes. Einmal mehr bestätigt sich der Eindruck, dass spanische Spitzenrestaurants oft auch besondere Orte sind.
Beim Betreten des Restaurants setzt sich das fort: man kommt in eine riesige, aus drei Blöcken bestehende Küche, um die sich die Gästetische verteilen. Das hat etwas von einer Arena, einem Boxring vielleicht. Ein wahrhaft spektakuläres Setting jedenfalls, das auch den Namen des Restaurants erklärt, denn man befindet sich tatsächlich in der Küche der Torres-Brüder. Entsprechend lebendig, aber keineswegs unbehaglich ist die Atmosphäre. Die junge Servicecrew trägt gut geschnittene Anzüge in marineblau und farblich passende Sneaker von Munich, einer hippen Marke aus Barcelona. Spanische Sternerestaurants sind oft etwas formell, doch hier strahlt alles eine unprätentiöse, urbane Coolness aus, die wir sonst nur aus London, Antwerpen oder den USA kennen.
Da es ein festes Menü gibt (235 €), werden lediglich noch einmal die Unverträglichkeiten abgefragt. Im kurzweiligen Dialog mit dem sympathischen Sommelier wählen wir aus der gut bestückten Karte eine Flasche Chassagne Montrachet von Vincent Dancer aus (2016 »Téte du Clos«, 210 €). Trotzdem wird er es sich im Lauf des Nachmittags nicht nehmen lassen, uns mit beiläufiger Nonchalance auch das eine oder andere Pairing hinzustellen.
Zu Beginn des Menüs wird eine Schale mit einer Sonnenblume aufgetragen, deren Blütenkern aus Eiscreme von Sonnenblumenkernen besteht, das mit einer Art Esspapier zu einem Sandwich geschichtet wurde. Das Eis schmeckt intensiv nussig, nur minimal süßlich und überraschend herzhaft. Das mit Blüten versetzte Esspapier steuert vor allem eine angenehm knackende Textur bei. Ein unkonventioneller und ansprechender Auftakt.
Es folgt ein weiteres Esspapier, Seegras-Kristall genannt, das hübsch anzusehen ist und mild nach Meer schmeckt, vor allem aber einen etwas trockenen Eindruck am Gaumen hinterlässt. Wohl deshalb wird dazu direkt am Tisch ein Drink gemixt…
… nämlich ein herb-fruchtiger Cocktail aus Tomatenwasser und Sherry, dem ein paar tropfen Tabasco den letzten Kick geben. Ganz hervorragend. Jetzt können wir durchatmen und ankommen, der Stress des überfüllten Zuges und des Fußmarschs fällt von uns ab. Bei einer solchen Tour gerät man irgendwann in einen Zustand zwischen Euphorie und Erschöpfung. Auf seltsame Weise schärft das die Wahrnehmungen und Empfindungen, die Eindrücke werden intensiver, die Urteile schärfer. Und immer wenn man denkt, dass man nicht mehr kann, beweist der nächste Restaurantbesuch das Gegenteil.
Wir nippen noch versonnen am Cocktail, da werden die nächsten Snacks aufgetragen. Auf einem hauchdünnen Cracker ist unter einem Hügel von geriebenem Trüffel und Parmesan knuspriger iberischer Pancetta verborgen, eine ganz exzellente Umami-Verdichtung, elegant und nicht zu überbordend. Fast noch besser gefallen uns dünne Scheiben von Iberico-Schinken auf krossem Fladenbrot, die durch etwas Gurke einen frischen und durch einen Hauch Ingwer einen originellen Touch bekommen.
In einem Glas findet sich ein anregend herber, fermentierter Fond mit einer Kugel aus samtigen Bohnenpüree. Eine Praline aus Piparras, einer ecuadorianischen Chilisorte, mit leicht geräucherten, zarten Sardellenfilets bildet einen gleichermaßen kräftigen und delikaten Abschluss.
Beim ersten Gang handelt es sich um einen Klassiker der Torres-Zwillinge: Ein Tatar von gepökeltem Tintenfisch ruht in Geflügelfond und wird von einer Nocke gereiften Kaviars getoppt. Knackiger Schmelz, wärmendes Umami und die salzige Jodigkeit des Kaviar bilden eine einnehmende Harmonie. Der Produktfokus liegt hier auf allen drei Produkten, die einerseits für sich stehen und zugleich einen wundervollen Berg-und-Meer-Dreiklang bilden, elegant, puristisch, köstlich.
Wir haben in den letzten Tagen bereits im »Suculent« und im »Lasarte« ausgezeichnetes Tintenfisch-Tatar probiert, doch wenn wir uns entscheiden müssten, wäre diese Variante unser Favorit.
Nach einem Intermezzo mit knusprigem Brot und sehr gutem Olivenöl folgt unter der Überschrift »Barcelona, Brasilien« ein Variation des brasilianischen Fischeintopfs Moqueca. Ein schöner Zufall, denn erst im Frühjahr probierten wir dieses Gerichts im Londoner »Da Terra«. Die Torres-Brüder servieren den Sud in einem Ring aus klein geschnittenen Spaghettoni mit Muscheln, Königskrabbe und Garnelen; die typische gelbe Farbe erhält die Sauce hier nicht durch Dendê-Öl, sondern von Safran. Inwiefern der Geschmack dem Original entspricht, können wir kaum beurteilen, fest steht, dass es hervorragend schmeckt, nach saftigen Meeresfrüchten und kräftiger Sauce, die von den bissfesten Spaghettoni förmlich aufgesaugt wird. Kein Gericht zum filigranen Sezieren, sondern zum beherzten Zugreifen. Wunderbar.
Auch weißen Spargel hatten wir in den letzten Tagen mehrfach. Meist war er geschmacksarm und zu weich. Hier kommt das prächtige Exemplar aus Navarra, ist á la minute gekocht und perfekt bissfest – was unser Kellner erklärend anmerkt, denn in Spanien scheint die weichgekochte Variante üblich zu sein. Die Stange liegt auf einem sehr »rein« schmeckenden Jus aus iberischem Eichelschinken des renommierten Produzenten Fisan. Dieser ist mit kleinen Schinkenwürfeln, gerösteten Pilzstücken und Tropfen des aromatischen Schinkenfetts angereichert. Umami pur, aber nicht penetrant. Genüsslich wischen wir die Reste mit knusprigem Brot auf.
Gewissermaßen passend zum Spargel schiebt die Küche danach einen Extragang ein: ein kleiner Berg frischer Morcheln von exzellenter Güte sitzt in einer heißen, sämigen Foie-gras-Sauce, die genau die richtige Kraft hat, um die Pilze zu unterstützen, ohne sie zu übertünchen. Bei falscher Behandlung werden Morcheln schnell labberig-weich, hier haben sie saftigen Biss. Sago-Perlen, zarte Mandeln und ein paar Pistazien setzen texturelle Akzente. Eine fantastische Produktinszenierung.
»Aus dem Garten unseres Vaters« ist der nächste Gang überschrieben: Zwiebeln aus Fuentes, der einzigen spanischen Zwiebelsorte mit geschützter Herkunftsbezeichnung, werden über 18 Stunden hinweg karamellisiert und dann zu einer cremigen Suppe verarbeitet, süß und herzhaft zugleich. Dazu gibt es einen dünnen Crisp von gereiftem Parmesan, bedeckt mit Trüffelscheiben, auf denen wiederum gelierte Vinaigrette, Trüffelcreme und Zwiebelpüree angerichtet sind. Das klingt sehr gehaltvoll und intensiv, erweist sich jedoch als überraschend raffiniert – gerade auch weil der milde Sommertrüffel nicht alles dominiert. Nur deutlich heißer dürfte die Suppe sein, und vielleicht auch etwas weniger dickflüssig. In Summe nicht unser Favorit, aber immer noch sehr gut.
Der Fischgang des Menüs besteht aus Rotbarbe von der Costa Brava, zart und intensiv. Der Fisch liegt auf Püree von Wurzelgemüe, das keinen größeren Eindruck macht. Dafür begeistert eine sattgrüne, saucige Kräuteremulsion mit würzigem, frischem Wiesengeschmack, der die jodigen Meeresnoten wundervoll kontrastiert. Abgerundet wird dieser fabelhafte, so simpel anmutende Gang von einem krossen Brotchip mit inensiver Paté von Rotbarbenleber.
Inzwischen ist es Zeit für eine zweite Flasche. Zum Stöbern in der Weinkarte sind wir zu gemütlich-träge, also lassen wir uns im anregenden Dialog mit dem Sommelier einen raren, gereiften Godello von Rafael Palacios empfehlen; Details versäumen wir zu notierten, doch die Flasche ist eine echte Trouvaille.
Im Fleischgang gibt es Karree und Bauch vom Spanferkel, das –so die Menükarte– vom familiären Bauernhof in der Extremadura stammt. Aber auch ohne dieses Wissen wäre es eines der besten Stücke Spanferkel, die wir je gegessen haben. Die Schwarte unglaublich kross und so fragil wie Blätterteig; das Fleisch butterzart, trotzdem mit Struktur und viel Geschmack. Dazu braucht es gar nicht mehr, als einen hervorragenden Fleischjus, seidig und kräftig, aber nicht zu plumper Klebrigkeit reduziert. Gehäutete Kirschtomaten und krosse Brotbrösel sowie Pürees von Aprikose und Tamarinde rahmen das Fleisch mit einer quirligen Mischung aus Frucht, Säure und Knusprigkeit. Die verspielte Anrichteweise täuscht dabei fast über die aromatische Schlüssigkeit hinweg. Ein fantastischer Hauptgang.
Und weil er so gut war, bestellen wir einen Zweiten nach. Der Genuss dieses Mittags darf noch nicht zu Ende gehen. Natürlich ist das kein Problem, vielmehr freut man sich über unsere geradezu kindliche Begeisterung.
Eine kurze Weile später wird ein Teller mit geschmortem Zicklein aufgetragen, zart und saftig, mit Schmorsaft glaciert, einfach großartig. Dazu passen junge Rüben und Ziegenjoghurt ganz vorzüglich. Lediglich kleine Würfel Amaretto-Gelee und ein Kartoffelpüree mit Vanille erweisen sich als dermaßen süßlich, dass sie auch als Dessert durchgehen könnten. Ein kleiner Wermutstropfen, der in diesem Moment allerdings kaum ins Gewicht fällt.
Zwischendurch erreicht uns die Nachricht, dass sich unser Flug um eine gute Stunde verspätet; in diesem Moment ist das ein mehr als willkommenes »Ärgernis«, denn wir möchten noch lange nicht aufstehen. Deshalb lassen wir uns gerne zu einer kleinen Auswahl spanischer Käse überreden. Die Sorten haben wir nicht notiert, doch sie haben es in sich, insbesondere der gereifte Hartkäse ist von einer selten erlebten Intensität und Schärfe.
Weiter mit den Desserts, derer man uns drei ankündigt. Es geht los mit einer kleinen Schale, in der sich unter schneeweißem Feigenblatt-Schaum frische Feigen aus Collserola verbergen, deren verführerisch sommerliche Süße von den oxidativen Aromen eines Pedro Ximénez-Sherry umspielt wird. Überraschend finden sich unter dem Schaum auch eine Nocke Feigenblatt-Eis sowie Pomelo-Segmente. Das fordert zum Vermengen und Weglöffeln nach Herzenslust auf, und genau das tun wir auch. Herrlich.
Das zweite Dessert bietet eine Assemblage aus Walderdbeeren, Zitrus-Texturen und geeisten Kräutern. Hier stechen vor allem die kleinen, hocharomatischen Beeren und die herbsüßen Kräuter hervor; die etwas dominanten Zitrus-Komponenten dosieren wir umsichtig. Ein leichtes, frisches und dank der Kräuter durchaus nicht unoriginelles Dessert.
Das genaue Gegenteil vermuten wir zunächst bei einer Schokoladen-Variation aus Sorten des nachhaltigen Edelproduzenten Cacao Barry. Doch statt eines eintönigen Death by Chocolate erweist sich die Zusammenstellung von Mousse, Eis, Ganache und Knusperblättern als angenehm leichte und aromatisch abwechslunsgreiche Angelegenheit. Mal geht es mehr ins Zartbittere, mal ins Süße, mal mehr in Richtung Karamell… ganz ausgezeichnet.
Es ist eigentlich vollkommen verrückt, doch zum Espresso gibt es noch einige Petits Fours: Knusprige Carquiñoli-Brioche, Yuzu-Marshmellows, Minikuchen mit Zitrone und Mohn, Schoko-Trüffelbrötchen, Kaffee und Kaviar sowie Zartbitterpralinen mit Cara Crakine-Füllung. Um ehrlich zu sein können wir uns nicht mehr wirklich erinnern, sind aber ziemlich sicher, dass alles Probierte sehr gut war.
Inzwischen ist es Zeit zum Aufbrechen. Glücklich in Gedanken versunken sitzen wir im Taxi, lassen die Stadt und die Erinnerungen an uns vorüberziehen. Es war ein Trip mit herben Enttäuschungen und tollen Überraschungen. Zu letzteren zählt der Besuch bei den Hermanos Torres, mit ihrer unaufgeregten Küche zwischen Tradition und Moderne, biografischen Bezügen und Weltläufigkeit. Keine Avantgarde, sondern einfach gut. Ein bisschen unwirklich kommt uns das Restaurant mit seinem Interieur im Nachhinein vor. Wie ein solcher Trip immer etwas von einem Rausch hat, kräftezehrend, süchtig machend. Jetzt hat die Realität uns wieder. Erstmal. Die nächsten Pläne sind längst geschmiedet.
Kai Mihm