Restaurantkritik 19.Juli 2022

Kiezgröße

Das erste Mal seit Beginn der Pandemie präsentierte der Guide Michelin die neuen Sterne im März 2022 im Rahmen einer physischen Veranstaltung in Hamburg. Geladen waren nur eine Handvoll Gäste, und auch Pomp, Kitsch und viel Getöse blieben vorerst aus.
Gerade im Bereich der Neubesternungen schauten wir gespannt nach Berlin, regnete es doch in den letzten Jahren reichlich Macarons auf die Hauptstadt. Nicht so jedoch in diesem Jahr: Lediglich das »Bricole« durfte sich über einen Stern freuen, und selbst das hatte wohl keiner so richtig auf dem Zettel.

Seit 2017 betreiben Küchenchef Steven Zeidler und Gastgeber Fabian Fischer (ehemals »Borchardt«) das kleine, muckelige Lokal im hippen Berliner Helmholtzkiez. Lag der Fokus anfangs noch auf Weinbar mit kleinen, französisch inspirierten Snacks, wurde daraus bald ein À-la-carte- und Menürestaurant, das sich in die Herzen und Mägen des lokalen Stammpublikums kochte. Selbst in der Pandemie bildeten sich regelrechte Trauben um den Außenverkauf, wo man mit Deftigem und Prickelndem to go versuchte, das Genussreichste aus der schwierigen Zeit zu machen.

Dass man sich aber direkt nach dem Lockdown über den ersten Stern freuen darf, das hätten die beiden jungen Gastronomen nicht gedacht, wie sie uns erzählen. Bereits vorher führte das Restaurant eine Warteliste, jetzt muss der Gast entsprechend mehr Vorlauf einplanen, um an einen der wenigen Plätze zu kommen. Passenderweise wohnt der Verfasser dieser Zeilen direkt um die Ecke, war schon früher als privater Gast im »Bricole« und freut sich heute darauf, herauszufinden, was sich seit dem letzten Besuch getan hat.

Die ersten Grüße werden aufgetischt: Eine vollmundige Vineta-Kartoffel im Salzteig mit Rauchmayonnaise und Imperial-Kaviar macht ordentlich Appetit. Das Tatar vom Bachsaibling mit Avocado schießt ein wenig über das Ziel hinaus – zu präsent sind hier die Knoblauchnoten. Gänzlich neben der Spur ist aber die Rote Bete mit gereiftem Ziegenkäse: Die Hülle ist nicht kaubar, sodass sie schnell den Weg aus dem Mund zurück auf den Teller findet.

Süffig-sommerlich dagegen der Rettich (eingelegt und mariniert) mit Buttermilch, Dill-Öl und Algenkaviar. Das üppige Stück des Kreuzblütengewächses hat ordentlich Biss und bleibt stets das Zentrum der Inszenierung; der leichte Sud schiebt sich cremig links und rechts vorbei. Ein sehr gefälliges vegetarisches Stereo-Panorama.

Beim Bachsaibling von »25Teiche« mit Eis vom grünen Apfel, Gurkensud und Misogurke ist die Gemüsekomponente der heimliche Star des Tellers: Mal erfrischend, mal herzhaft drängeln sich die Gurkenaromen stets in den Vordergrund. Der unscheinbare Saucenspiegel birgt ein prägnante Pfeffernote, die vom süßsauren Eis an den richtigen Stellen neutralisiert wird. Hätte der Fisch ein klein wenig mehr Temperatur, wäre er sicher präsenter – durchaus schade, schließlich haben uns die Produkte der 25Teiche-Fischfarm bei Berlin in der Vergangenheit – zuletzt im »Rutz« – schon oft überzeugt.

Das A5-Wagyu aus Kagoshima mit Zwiebelchutney, Perlzwiebel und Ponzu ist dann schlichtweg sensationell. Eigentlich bezieht die Küche Wagyu aus Schottland, das war aber zur Zeit unseres Besuchs nicht aufzutreiben – also schwenkte man kurzerhand um auf das japanische Original, das durch die Garung bei 1.000 Grad auf dem Konro (einem japanischen Holzkohlegrill) an vortrefflicher Güte noch gewinnt. Das äußere Kollagen des Fleisches hat sich zu einem herrlichen Röstaromen-Knusper verdichtet, das saftige Innere schmilzt dann regelrecht auf der Zunge und hinterlässt nichts weiter als eine enorm befriedigende, fettschmelzige Umami-Wucht. Von den Beilagen probieren wir isoliert, die sind gut, brauchen wir aber bei Fleisch in dieser Perfektion nicht.

Die Aubergine »Sous-vide« mit Joghurt-Gurkenemulsion, Avocado-Rauch-Mayo und Kartoffel steht fleischlichen Hauptprodukten in nichts nach: hauchzart und saftig thront der nussige Geschmack des Gemüses über allem und wird lediglich umspielt von Frische und dezentem Rauch. Die obenauf liegenden frittierten Zwiebeln geben passende texturelle Abwechslung; ein absolut zugängliche Casual-Fine-Dining-Blaupause.

Ein klein wenig Frankreich in Prenzlauer Berg: Der confierte Winterkabeljau mit Miesmuschel-Beurre-Blanc und eingelegtem Spitzkohl ist eine Referenz an frankophile Handwerkskunst. Der in Albaöl gegarte Fisch ist herausragend und bringt – im Gegensatz zur Forelle ein paar Gänge zuvor – mehr Hitze mit, gewinnt dadurch also an Präsenz. Als klassischer Begleiter umhüllt die (etwas zu dünne) Beurre Blanc jedes Stück Fisch, die cremigen Muscheln setzen hier und da salzige Akzente. Ein wunderbarer Klassiker.

Der Hauptgang gibt sich kleinteiliger: Das Brandenburger Perlhuhn mit gefüllter Wirsingroulade, confierter Rote Bete und Malzessig reiht sich wie eine kleine Dekonstruktion neben- und hintereinander. Die Qualität des Huhns von der Familie Lange der »Fasanerie« in Brandenburg ist von erster Güte, aber auch die Zubereitung – glasig bis rosé – bringt dem Tier die nötige Portion kulinarischen Feingefühls entgegen. Wir schieben alle Komponenten des Tellers ein wenig zusammen, mischen die Sauce und die intensive Hühnerfarce und freuen uns über das nahezu ablenkungsfreie Hühnersolo; lediglich das Stück in Hühnerfett gegarte rote Bete kriegen wir nicht so recht in die texturelle Gleichung integriert, vielleicht wäre hier eine Creme dankbarer.

Das Dessert, Mandarinensolero, Nussbutter-Schokoladensud, Joghurt und Getreide, liest sich erstmal ziemlich süß, ist aber viel eher flüchtig-fruchtig, bietet unregelmäßigen, passenden Cerealien-Biss und kühle Schokonoten. Wie oft erleben wir im Casual-Fine-Dining-Kontext zuckerverliebte Selbstüberschätzungen; dies ist der essbare Gegenbeweis, nahbar, unverkopft, köstlich.

Abschließend gibt es natürlich noch ein paar prima gearbeitete Petits Fours.

Während uns Gastgeber Fabian Fischer noch den einen oder anderen Tropfen kräftigeren Alkohols in kleine Gläser füllt, sinnieren wir über das Verspeiste. Steven Zeidler kocht unaufgeregt französisch und zaudert bei aller Liebe zur Regionalität nicht, das eine oder andere Produkt ein paar Kilometer durch die Welt reisen zu lassen, wenn die Qualität es rechtfertigt; dass wir uns hier, am urigen Holztisch inmitten »unseres« Kiezes, ein derart sensationelles Stück japanischen Rindfleisches einverleiben durften, hätten wir vorher nicht gedacht.
Aber auch bei Huhn, Forelle oder Kabeljau: Insgesamt fielen uns nicht zuletzt die Produktqualitäten und die sorgsamen Garungen positiv auf, wenngleich an anderer Stelle handwerkliche Ecken und Kanten wie die unkaubare Rote-Bete-Hülle oder die zu schwach gebundene Beurre Blanc die sprichwörtliche Luft nach oben lassen. Überzeugen konnten die etwas komplexeren Kreationen, allen voran der Rettich sowie die zarte Aubergine und ihre frischen Begleiter – Mustergerichte für dieses lässige, unaufdringliche Casual-Fine-Dining-Restaurant, das diese Bezeichnung tatsächlich verdient und nicht erst seit dem Stern stolz auf seine Küche, seine Weine und seine Gäste sein kann.

Chris Lippert

Wein

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Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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