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Restaurantkritik  6.Dezember 2022

Aira – Petite France

Es ist schon ziemlich idyllisch hier draußen, in Djurgården, dem wohl nobelsten und mit Sicherheit grünsten Stadtteil Stockholms. Die Insel, einst königliches Jagdrevier, ist Heimstatt von Museen und Botschaften, dazwischen einige Villen und viele, viele Parkanlagen. Und gleich zwei ambitionierten Restaurants. Noch. Vor wenigen Tagen besuchten wir hier das zauberhafte Oaxen Krog, welches leider zum Jahresende schließt. Heute geht es zum fünf Autominuten entfernten Aira, das im Jahr 2020 eröffnete und sofort eine beachtliche internationale Aufmerksamkeit generierte. Es liegt malerisch an einem kleinen Jachthafen, als wir eintreffen strahlt die Sonne vom blauen Himmel, am Wasser ein paar Möwen, an den Stegen schöne Boote, im Hintergrund Bäume und Wiesen. Das ist fast ein bisschen zu Bullerbü, um real zu sein. Sei's drum, wir haben drei feuchtfröhliche Tage und Nächte hinter uns, da tut dieser kleine Ausflug vor dem Abflug richtig gut.

Durch eine gewaltige offene Küche, wo zahlreiche Köche hochkonzentriert ihrer Arbeit nachgehen, gelangt man in den lichtdurchfluteten, mit sanft nostalgischer Eleganz gestalteten Gastraum. Bemerkenswert ist der architektonische Aufbau. Passend zum Standort soll das Gebäude an ein Bootshaus erinnern, bei dem eine mittige Servicestation aus Kirschholz, Kupfer und Marmor sozusagen die »Einfahrt« bildet und den Gästebereich in zwei überschaubare Hälften unterteilt. Der Service ist förmlich, das Umfeld mondän. Der Große Gatsby hätte hier sicher seine Freude gehabt.
Man merkt jedenfalls, dass bei dem Projekt nicht gekleckert wurde. Der Aufwand dürfte die Ambitionen der Küche widerspiegeln. Küchenchef Tommy Myllymäki ist außerhalb Schwedens vor allem durch seine Teilnahmen am Bocuse d'Or bekannt, wo er 2011 Silber und 2015 Bronze holte. Manche Szenekenner prognostizierten dem »Aira« einen Michelin-Einstieg mit zwei Sternen. Es wurde dann doch »nur« einer. Das könnte ein wenig bitter gewesen sein, denn auf diese Einstufung ist das Projekt ganz klar nicht ausgerichtet. Uns sollte das nicht abhalten, was wir lasen und sahen genügte, um unseren Appetit anzufachen.

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Das feste Degustationsmenü startet mit einer Reihe von »Canapés«. Als erstes gibt es eine recht große Dill-Croustade, filigran gearbeitet und mit marinierter Langoustine gefüllt, welche an sich gut schmeckt, sehr schnell allerdings in einer zu großen Menge Nussbutterschaum untergeht.

Besser proportioniert ist eine Nori-Tartelette mit mildem Rindertartar, dem Forellenrogen eine charmant-maritime Note hinzufügt. Verschiedene Blüten sind nicht –wie so oft– nur Zierrat, sondern setzen durch ihre Menge deutlich wahrnehmbare »grüne« und floralen Akzente. Ungewöhnlich und gut.

Die nächste Kleinigkeit kombiniert französisches Handwerk in Forme eines Choux au Craquelin (Windbeutel) mit einem schwedischen Produkt, nämlich Wrångebäcks-Käse, der einen herben, leicht grasigen Geschmack mitbringt. Ein knuspriger Käsewindbeutel also, das könnte wunderbar schmecken, wird hier aber von einer alles andere überlagernden, seltsam artifiziell wirkenden Trüffelcreme aus der Bahn geworfen.

Eine Tartelette mit Hühnerlebermousse, Portwein und Apfel beruhigt die Papillen mit einer klassisch-gefälligen Mischung aus Herzhaftigkeit und Süße. Die etwas feste Geleehülle macht das Mundgefühl nicht ganz so angenehm, trotzdem schmeckt die Kleinigkeit solide und unterstreicht die bisher sehr deutliche französische Prägung der Küche.
Apropos Frankreich, eine kleine #sidebottle haben wir in der gut bestückten und zivil kalkulierten Weinkarte auch gefunden, nämlich einen 2018er Bourgogne Blanc der Domaine Vincent Dancer (1400 Skr, ca. 128€).

Den Abschluss und zugleich das Beste der Canapés bilden stabförmige Kartoffelwaffeln, knusprig gebräunt und aromatisch, die man in eine Anchoviscreme mit Maränenrogen ditschen soll. Das gelingt aufgrund der geringen Oberfläche der Waffeln nur mäßig, sodass wir einen Löffel zu Hilfe nehmen. Geschmacklich frisch, angenehm salzig und herzhaft, ist das ein kurzweiliger Knabberspaß.

Das eigentliche Menü startet mit Tintenfisch-»Tagliatelle« auf Sauerampfercreme, getoppt von einem Löffel Kaviar. An sich ist das eine sehr stimmige Sache, bei der die knackig-zarten Tintenfischstreifen und der nussige Kaviar vom Sauerampfer »gewürzt« werden. Nur ist ähnlich wie bei der Croustade entschieden zu viel der mundfüllenden Creme im Spiel. Also fischen wir die »Tagliatelle« mit dem Kaviar heraus, sodass nur ein bisschen Creme daran hängen bleibt – nicht optimal, dennoch gut.

Weiter geht es mit Gelbschwanzmakrele in einer Marinade aus Lavendel- und Pfefferöl, verborgen unter dünnen Scheiben fermentierter Weintrauben. Das Fruchtige und das Herzhafte kommen hier auf fabelhafte Weise zusammen: Die Reichhaltigkeit des Fischs wird von der milden Süße der hauchdünnen Traubenscheiben aufgebrochen, die Marinade setzt Akzente zwischen provençalischer Duftigkeit und anregender Würze. Ein Gericht wie eine frühherbstliche Brise zwischen der See und den Weinbergen.

Der nächste Gang variiert meisterhaft einen Klassiker der französischen Küche. Ein wolkenzartes Quenelle, zubereitet aus Kabeljau, Scharlachgarnele, Königskrabbe und Sahne, ruht in einer Sauce, die es im wahrsten Wortsinne in sich hat: sie besteht aus Bier, Brotgewürzen und Butter, dazu noch fermentierte Tomate, Zitrone und Ringelblumenöl – ein samtiges Elixier, umami und feinsäuerlich, komplex und vollmundig. Doch es wird noch besser, denn beim Anschneiden der Quenelle läuft lasziv eine Füllung aus Kaviar und gehackter Königskrabbe heraus. Diese geballte Üppigkeit muss –und kann!– man sich auf der Zunge zergehen lassen. Eine Wucht. Allein die etwas zu kleine Portionierung verhindert, dass wir hier eine Götterspeise ausrufen.

Im nächsten Gang kommen nochmals Krustentiere und Tomaten zur Verwendung, allerdings gänzlich anders interpretiert. Zunächst macht uns die Annoncierung einer »leicht pochierten« Langoustine skeptisch, denn schwach gegarte Krebstiere empfinden wir meist als zu weich und »labberig«. Hier nun haben wir den raren Fall, dass die Qualität des Produkts und die Präzision der Garung auf stimmige Weise zusammenkommen. Die hervorragende Langoustine ist fest genug und doch ganz zart, sodass Biss und Schmelz Hand in Hand gehen. Eine Emulsion aus den Kopf-Innereien untermalt die maritime Intensität, eine Grundierung von Tomaten, Hibiskus und Basilikumöl verleiht dem sehr guten Teller eine verführerisch sommerliche Frische.

Danach wird es herbstlicher. Jakobsmuschel und Steinpilze bilden seit jeher ein ideales Doppel, bei dem sich wunderbar der mineralische Geschmack von Waldboden zu Meer verbindet. Diese Harmonie spielt die Küche voll aus, indem sie eine Scheibe gebratener Jakobsmuschel auf eine Rosette nicht zu dünner, mit Meersalz gewürzter Steinpilzscheiben setzt. Das würde bereits pur allerbestens funktionieren. Doch entdecken wir unter den Pilzen noch einen vor umami strotzenden, ideal reduzierten Hühnerfond… von irgendwoher kommt auch eine dezente Sherrynote, die das Ganze fruchtig-herb abrundet. Küste, Wald und Meer. Sehr stark.

Ungewohnt spät im Menü, nämlich vor dem Hauptgang, wird nun Brot serviert. Womöglich zeichnet sich hier ein Trend ab, denn an selber Stelle im Menü kam es im Hertog Jan auf den Tisch, und wie dort handelt es sich um ein exquisites Brioche-Feuilletée …

... das zusammen mit dem buttrigen schwedischen Ziegenkäse eine schöne Begleitung zum Lammrücken bildet. Dieser wurde über Holzkohle gegrillt, ist von kernig-zarter Beschaffenheit und mit den minimal rauchigen Noten von auffallend ausdrucksstarkem Geschmack. Dazu gibt es Spitzkohl, einen dichten Kräuterjus und kräftige Würze von kalabresischer 'Nduja-Wurst. Ein erfrischend reduzierter, produktfokussierter Hauptgang, präzise, originell und vorzüglich.

Der reizvolle Käsewagen präsentiert eine kleine Auswahl verschiedener heimischer Sorten, doch wir beschränken uns auf zwei kleine Stücke. Die Sorten haben wir offen gestanden nicht notiert, doch sie waren ausgezeichnet.

Beim Pre-Dessert ist Japan aufgrund der Hauptzutaten eine naheliegende Assoziation. Es besteht aus einer Tartelette mit Shio Koji Granita, unter dem sich eine Mischung aus Mirabellen und Stachelbeeren verbirgt. Auf reizvolle Weise kombiniert die Pâtisserie hier herzhafte und fruchtig-süße Geschmackswelten, leicht und frisch, durch die Beigabe von Flieder und Holunder von einer sommerlichen Blumigkeit. Sehr schön.

Einen unerwarteten Knaller landet die Küche dann noch einmal mit dem Hauptdessert zum Thema Apfel. Warme Crème Chiboust ist mit Stücken von geschmortem Ingrid-Marie-Apfel angerichtet, verführerisch weich und von spitzbübischer Süßsäuerlichkeit, obenauf buttrig knuspernde Crumbles und ein fantastisches Calvados-Eis. Dazu wird ein hausgemachter Apfellikör serviert. Das schmeckt nach Winter und Kaminabenden, nach Omas cremig gefülltem Bratapfel und Opas duftendem Apfelbrand, an dem wir Kinder nur kurz schnuppern durften. Ein Gänsehautmoment, damals wie heute. Hier haben wir ein vollkommen klassisches Dessert, in Vollkommenheit umgesetzt.

Zum Abschluss des Essens wird man in den angrenzenden Wintergarten gebeten. »Kaffee? Digestif?«. Gerne, und gerne gleichzeitig…

In zwei Etappen fährt der Service schließlich noch diverse Petits Fours und Pralinen auf. Hier bleibt vor allem eine Art Gebäck-Sandwich mit Pistazie in Erinnerung.

Die Sonne scheint noch immer vom blauen Himmel, als am späten Nachmittag das Taxi vorfährt. Wir sind in Stockholm, doch in den letzten Stunden fühlten wir uns eher nach Frankreich versetzt. Das meinen wir gar nicht negativ, denn es tut durchaus gut, auf einer solchen Reise zwischen den ganzen nordischen und modernistischen Küchen auf eine Haute Cuisine zu stoßen, die Klassisches in zeitgemäßer Manier umsetzt. Die Verbindung zum Nordischen setzen die vorwiegend heimischen Produkte. Interessanterweise zeigten sich Unausgewogenheiten vor allem bei den Canapés, mit dem eigentlichen Menü nahmen Präzision und Wohlgeschmack auffallende Fahrt auf. Das Quenelle und vor allem das Apfeldessert zählen zweifellos zu den kulinarischen Highlights des Jahres. Man will im »Aira« auch sonst ganz hoch hinaus, das sieht und spürt man. Ein bisschen gibt es noch zu tun, das Rüstzeug ist vorhanden. Per aspera ad astra. Und auf uns wartet jetzt der Flieger.

Kai Mihm

Wein

-Jean-Baptiste Hardy, Muscadet Fief de Chaintre 2020, en magnum, Loire
-Knoll, Riesling Smaragd Ried Kellerberg 2015, Wachau
-Lieu Dit Santa Ynez Valley, Chenin Blanc 2019, California
-Château de Montfaucon Lirac, Vin de Madame la Comtesse 2016, Rhône
-Monte Bernardi, Chianti Classico Riserva Sa'Etta 2018, Toskana
-Schloss Lieser, Riesling Auslese Brauneberger Juffer Sonnenuhr GK 2018, Mosel
-House-made apple liqueur, Djurgärden

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