Restart, Teil 1: Ab ins Paradies
Nun sind wir also wieder unterwegs, auf der ersten Fresstour des Jahres 2021. Endlich. 217 Tage haben wir auf diesen Moment gewartet. Trotzdem wollen wir die Wahl unserer ersten Sternerestaurants nicht übermäßig stilisieren, denn seien wir ehrlich: Irgendwie fühlt sich alles schon fast wieder wie früher an. Die sieben Monate Gastro-Lockdown kommen uns auf einmal irreal vor, als hätte die Zeit stillgestanden.
So oder so: Gestern haben wir die "Rückkehr zur Normalität" mit einer ausgiebigen Weinprobe bei Bürklin-Wolf in der Pfalz eröffnet, gefolgt von einem Dinner im L.A. Jordan (Bericht folgt). So schön das beides war – es war erst die Einstimmung. Denn trotz allem wollen wir den Restart mit einem Fest begehen, mit einer schlaraffigen Orgie des Genusses. Was liegt da näher als das Waldhotel Sonnora?
Wir kommen Sonntagmittag an, unser Tisch ist für 12:30 Uhr gebucht. Die Fahrt war entspannt, der Empfang ist herzlich, das Schnelltest-Procedere schnell absolviert. Noch kurz ins Zimmer, frisches Hemd, dann ab ins voll besetzte Restaurant. Während des Lockdowns hat sich hier einiges getan. Clemens Rambichler und seine Frau Magdalena Brandstätter, inzwischen Inhaber des Anwesens, nutzten die Schließzeit für eine umfassende Renovierung, auch der Zimmer. Auf Instagram gab es erste Eindrücke. Vor Ort ist alles nochmal schöner. Das pompös-kitschige Interieur des Sonnora hatte zwar Kultcharakter, doch die Auffrischung tut dem Restaurant sehr gut. Es ist hell und klar, Kupfer, dezentes Blaugrau und vor allem Weiß bestimmen die Farbskala – gefällt uns großartig.
Nicht zuletzt freuen wir uns darüber, dass die Veränderungen keine Entkernung bedeuteten: die "Seele" des Sonnora ist immer noch da. Das zeigt sich auch in Details wie dem herrlichen "Restaurant"-Schriftzug (in Schreibschrift!) über dem Eingang; der Park hinterm Haus hat sich kaum verändert, und der berühmte goldene Schwan blieb natürlich ebenfalls unangetastet. Es fühlt sich so gut an, wieder hier zu sein.
Kurz nach dem Neustart gibt es bei unserem Besuch noch keine à-la-Carte-Auswahl, sondern "nur" das Menü – hätten wir sowieso genommen, volles Programm. Beim Wein hatten wir eigentlich Flaschen geplant, doch die neue Coravin-Weinbegleitung liest sich zu verführerisch.
Gerade wird der Champagner (Roses de Jeannes "Les Ursules") eingeschenkt, da kommt die erste Einstimmung: Schwertmuschel in Orangen-Zitrus-Marinade mit Blumenkohl. Das sind kräftige Mitspieler, mit denen das zarte Muschelfleisch fertig werden muss – und sie schafft sie alle. Es schmeckt frisch und fruchtig, leicht süßlich, mit cremiger Substanz vom Blumenkohl und einer filigranen Zitrussäure. Trotzdem bleibt die dünn aufgeschnittene Muschel stets das Zentrum dieser Petitesse. Ein kleines Meisterstück.
Amuse Nummer Zwei: Schottischer Label Rouge Lachs mit Ingwer und Wasabi. Hier fürchten wir wegen des Wasabi-Sorbets zunächst einen Kälte-Schärfe-Overkill – und müssen nach der ersten Gabel über uns selbst lachen, dass wir auf eine so abstruse Idee kommen konnten. Das Eis ist exakt austariert und bereichert den phänomenalen Lachs mit dezenter Schärfe und willkommener Frische. Ein Hauch Ingwer unterstreicht die hintergründige Exotik, winzige Radieschen-Würfel bringen texturelle Abwechslung. Perfekt.
Weiter geht es mit einem Hausklassiker: Auster "Gillardeau No. 3", in mundgerechte Tranchen zerteilt, mit einem Dressing aus Gurke, Dill und etwas Imperial Kaviar. Das ist in seiner klassischen Harmonie makellos gearbeitet, und bekommt hier durch kleine Herzstücke von Kopfsalat nochmal eine feine Zusatznote.
Mindestens genauso gut gefällt uns die Alternative: eine kühle Kartoffel-Lauch-Crème mit gelierter Rinderessenz und Imperial Kaviar (kein Foto). Im Grunde handelt es sich hier um eine delikate Variante der berühmten Tatar-Torte (siehe unten), und sie mundet nicht weniger köstlich. Dicht und intensiv, dennoch frisch und leicht.
Das letzte Amuse wird uns als "Fischstäbchen" angekündigt: Der ausgelöste Schwanz einer Langoustine Royale ist knusprig ausgebacken und kommt mit Koriander und Beerenauslese-Gewürzcrème auf den Teller. Tatsächlich blitzt beim ersten Bissen in die buttrig-aromatische Panade die Erinnerung an Captain Iglo auf – was wir als Kompliment meinen, denn genau solche Kindheitsassoziationen versuchen Köche doch meist vergeblich heraufzubeschwören. Doch schon in der nächsten Sekunde werden wir vom saftigen Kaisergranat ins Drei-Sterne Hier und Jetzt zurückgeholt – ein Gänsehautmomemt.
Nach dieser Kaskade grandioser Petitessen befinden wir uns in einem Zustand transzendentaler Glückseligkeit. Nun startet das eigentliche Menü...
Den Anfang macht eine Scheibe Gänseleberterrine, aromatisiert mit Perigord-Trüffel. Das bewährte Zusammenspiel von cremiger, würzig marinierter Leber und erdigem Trüffel wird durch einen süßlichen Coulis von Bari-Feigen abgerundet – perfekte Klassik in klassischer Perfektion. Das i-Tüpfelchen bildet dabei eine gelierte Ochsenschwanz-Essenz, mit der die Terrinenscheibe bestrichen ist, und die ihre eine ungeheure Umami-Dichte verleiht. Sie bereichert auch den heimlichen Star des Tellers, eine Vinaigrette mit gehackten Pinienkernen und feinsten Trüffelstückchen; diesem nussig-erdigen Konzentrat verleiht die Ochsenschwanz-Essenz Bindung, Kraft und Komplexität. Es sind solche Außergewöhnlichkeiten in den Details, die eine Küche wie im Sonnora so besonders machen.
Danach heißt es Luftholen, denn...
… jetzt kommt sie … die kleine Torte vom Rinderfilet-Tatar mit Imperial Gold Kaviar auf Kartoffelrösti. Wir hatten diesen Thieltges-Klassiker bereits beim letzten Besuch, und all jenen, die das "Tortenstück" ebenfalls schon gegessen haben, müssen wir sowieso nichts mehr erzählen – denn das vergisst man nicht. Für alle anderen: Es schmeckt genauso prachtvoll, wie es aussieht. Üppig und luxuriös, erweist sich die "Torte" als überraschend elegant und in ihrer Simplizität als ziemlich raffiniert. Das kühle Fleisch und der Kaviar gehen herrlich zusammen. Der Clou ist allerdings das lauwarme Rösti, das einen eleganten Temperaturkontrast setzt und vor allem Röstnoten und Knusprigkeit beisteuert. Dieses Teil ist und bleibt der Prototyp einer Götterspeise.
Jetzt gibt es noch einmal Kaisergranat, oder Französisch: Langoustine Royale. Das Exemplar hat fürwahr königliche Größe und ruht in einer schaumigen, mit indischem Curry aromatisierten Champagner-Nage, flankiert von einer kleinen Garnitur aus jungen Möhren, zarten Blumenkohlröschen und Zuckerschoten – keine Püreetupfer, sondern richtiges Gemüse, exakt gegart! Das ist feinste Klassik, die von besten Produktqualitäten und göttergleichem Saucenkönnen lebt.
Das Highlight dieses Gangs findet sich dennoch nebenan: Eine Tasse, gefüllt mit einer heißen, aromatischen Essenz, und zwar nicht einfach die Sauce des Haupttellers, sondern eine Suppe aus den Kaisergranat-Scheren, abgeschmeckt mit Beerenauslese und einem Hauch Zitronengras. Darin schwimmen dicke Stücke einer weiteren Langoustine – saftig, süffig, schwelgerisch.
Unscheinbar kommt der bretonische Steinbutt daher. Der Fisch wurde sanft gegrillt und ist unter einer dünnen Scheibe Wassermelone versteckt. Diese wiederum wurde mit einem kalten Sud aus Tomate, Wassermelone, Madagaskar-Pfeffer und Olivenöl "lackiert". Allein diese Kombi ist von einer Delikatesse, die vorzüglich zu diesem heißen Sommertag passt. Endgültig die Sonne an den Gaumen zaubert das mediterrane Strauchtomaten-Fumet mit Basilikum und Olivenöl; gesalzene Butter verleiht dem Sud eine geheimnisvolle Tiefe. Ein magisches Gericht.
Nun überrascht uns der Service mit einer spontanen Kreation der Küchencrew: Wagyu Roastbeef Kagoshima A5 mit gebratener Gänseleber. Da es sich um ein inoffizielles Gericht handelt, halten wir es kurz: Die Kombi von üppig marmoriertem Fleisch und gerösteter Leber (von unglaublicher Qualität) funktioniert fantastisch. Es ist, als würden die beiden "fetten" Produkte sich gegenseitig befeuern. Eine Vinaigrette aus gereifter Sojasauce kitzelt mit feiner Säure den Gaumen, etwas Kartoffelpüree und gedämpfter Frühlingslauch runden mild ab. Mehr braucht es nicht. Viel zu oft wird Wagyu überfrachtet. So wie hier könnte man es auch in Japan bekommen.
Gedankenverloren lassen wir den Blick schweifen, und auch um uns herum herrscht beste Laune: an den Tischen wird gelacht, geschlemmt und guter Wein getrunken. Man muss nicht nach Kopenhagen oder London reisen, um inmitten unbeschwerter Genussfreude zu sitzen. Das Sonnora war noch nie ein Ort der flüsternden Gediegenheit.
Der Hauptgang: Ein Stück Rehrücken aus Eifler Jagd ist mit Pistazie überkrustet, dazu gibt es einen gefüllten Polenta-"Kloß". Das schmeckt beim ersten Bissen etwas konventionell, fast brav. Dann kommt plötzlich die Pistazie zur Geltung, und es wird besser, immer besser. Jetzt der mit Ragout gefüllt Mini-Knödel – herrlich schmatzig, speziell mit dem seidigen Kumquat-Wacholder-Jus. An den Lamm-Hauptgang vom letzten Besuch kommt das zwar nicht heran, doch für sich genommen ist auch dieser Teller ein Gewinner.
Ein ähnlicher Effekt stellt sich bei der Etouffée-Taube ein. Sie wurde in Salbei gebraten und ist mit Aubergine, Gartenkräutern, orientalischem Gewürz-Jus und Paprikasauce angerichtet. Hier begeistert sofort die außerordentliche Qualität der Taube, mit ihrem klaren Geschmack und der krossen Haut. Die Beigaben wirken indes etwas althergebracht – Spannung kommt auch hier beim zweiten, dritten Bissen auf, wenn die diversen Aromen sich am Gaumen ausbreiten, zueinander reagieren und ein aufmerksames Hinschmecken fordern.
Eigentlich wollen wir den Käsewagen nur fotografieren. Andererseits, wenn er schonmal da ist, nehmen wir eine klitzekleine Auswahl.
Jetzt sind wir eigentlich satt. Betonung auf "eigentlich", denn unser Desserthunger ist trotz allem gewaltig.
Als erstes wird in einer halbierten Kokosnuss ein Pina-Colada-Schaum serviert. Darunter verborgen: marmoriertes Kokos-Mango-Eis und Ananas "kreolische Art". Das ist luftig-leicht, kühl und erfrischend, von anregend karibischem Flair, ohne in Klischee-Exotik zu kippen. Hier geht es nicht um differenziertes Verkosten, sondern um ein wohliges Vermengen aller Komponenten, um reine Schlemmerei. Beim letzten Besuch war uns eine Variante dieser Kreation zu mächtig. Diesmal stimmt alles. Das Eis, der Schaum und die Früchte bilden ein vielstimmiges, immer intensiveres Aromenensemble, das uns mit jedem Löffel mehr betört. Nur selten sind Desserts ein so bewegendes sinnliches Erlebnis.
Danach fahren wir zweigleisig (mit Tellertausch, versteht sich). Einmal gibt es Délice von Himbeeren mit weißer Schokolade "Ivoire" und Joghurt-Estragon-Eis. Die Anrichte sieht richtig toll old-school aus: bunt, symmetrisch und verspielt, irgendwie nach Achtzigerjahre-Pop, ein dessertgewordener Cindy-Lauper-Song. Und wie schmeckt es? Eine rhetorische Frage... Himbeere und Estragon sind ein ähnlich perfektes Duo, wie Erdbeere und Basilikum – nur in edler. Hier wird diese Geschmackswelt mit feiner Hand ausgebreitet, erweitert um die säuerliche Frische von Joghurt und die cremige Geschmeidigkeit der Ivoire-Schokolade. Exzellent.
Das ist aber noch nichts gegen das zweite Dessert. Ein lauwarmes Tartelette von Guanaja-Schokolade mit Banane versetzt uns geradezu in Ekstase: so fein, so komplex im Geschmack und dabei so verblüffend leicht. Gerade auch die warme Temperatur steigert den Hochgenuss – wo bekommt man heute noch warme Desserts? Und dann in dieser Güte? Zum Törtchen gibt es Meersalz-Karamell, luftig-lauwarme Passionsfruchtsabayon und als Kontrast ein Passionsfruchtsorbet. Die barocke Üppigkeit dieses Desserts hat etwas Schwelgerisches... und es kommt sehr selten vor, dass wir den Teller am liebsten gar nicht tauschen würden – nur bei Götterspeisen wie dieser.
Dieser Abschluss hat uns dermaßen beflügelt, dass wir sogar die Petits Fours nahezu komplett verputzen. Insbesondere die verführerischen Fruchtzubereitungen haben es uns angetan: Zitronentarte, Walderdbeer-Tartelettes und halbierte Himbeer-"Macarons".
Was für ein Genussrausch. Genau so haben wir uns das vorgestellt. Und genau so kam es dann auch. Glücklich, beseelt und mit vollen Bäuchen spazieren wir durch den Wald hinterm Hotel, lassen die Eindrücke nachwirken. Die letzen sieben Monate sind plötzlich wie weggewischt. So gut, nein: so zutiefst befriedigend kann man in Deutschland kaum irgendwo essen. Wenn überhaupt. Im Sonnora wird eine Küche zelebriert, die wir eigentlich gar nicht mehr als "klassisch" bezeichnen mögen, weil sie dafür viel zu frisch wirkt. Nennen wir sie "traditionsbewusst". Oder einfach: Weltklasse.
Helmut Thieltges sprach vom Sonnora gerne als Schlaraffenland. Dieser Spirit ist noch deutlich spürbar, sichtbar, schmeckbar. Zugleich hat der Generationenwechsel etwas Zukunftsweisendes – und Anrührendes: Am nächsten Morgen nach dem Frühstück sehen wir die kleine Tochter des Hauses an der Rezeption spielen, lachen, glucksen, als sie ihren Papa sieht. Clemens Rambichler und Magdalena Bandstädter haben das Sonnora zu ihrem Reich gemacht, zu ihrer ganz eigenen Oase in der Eifel – und zu unserem Schlaraffenland. Als wir zum Auto gehen scheint sanft die Sonne. Der Himmel lächelt. Und wir auch.
Kai Mihm
Weine
Hinweis
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