Restaurantkritik 15.Dezember 2021

Tempo im temporaire

"Termin beim Eichamt" lautete 2015 die Überschrift unseres Berichts über die Schwarzwaldstube. Der Text selbst hat wegen des zwischenzeitlichen Ausscheidens von Harald Wohlfahrt nur noch gastrohistorischen Charakter. Dass die Überschrift noch gilt, zeigten ein paar Besuche bei seinem Nachfolger Torsten Michel, besonders eindrucksvoll Ende 2018.

Seit dem verheerenden Brand im Januar 2020 residiert die Schwarzwaldstube bekanntlich in einer Übergangslösung, mit eleganter Souveränität temporaire genannt. Für April 2022 ist die Eröffnung des neuen Gebäudes angekündigt. So lange wollten wir nicht warten. Außerdem interessierte uns das temporaire auch räumlich – Drei-Sterne-Küche in einem provisorischen Bau über der Parkgarage? Irgendwie schwer vorstellbar. Doch es ist wirklich gut gelöst. Der Weg zum Restaurant, über einen kiesgesäumten Steinweg zwischen Rasen und Hecken, hat etwas Festliches. Und wüsste man nichts von den Umständen, käme man auch drinnen nicht auf den Gedanken, in einer "Interimslösung" zu sitzen. Das temporaire sieht nicht nur aus, wie ein "richtiges" Restaurant, es fühlt sich auch so an.

An diesem Donnerstagabend ist es –wie immer– komplett ausgebucht. Nur dank eines glücklichen Zufalls wurde überraschend noch ein Tisch für uns frei. Bei einem Glas Champagner (Blanc d'Argile von Vouette & Sorbée) stöbern wir ausgiebig in der Karte – ein Ritual, dem man in der heutigen Spitzengastronomie viel zu selten frönen kann. Die Entscheidung fällt angesichts des verlockenden à-la-Carte-Angebots nicht leicht, genau das macht den Spaß aus. Wir diskutieren verschiedene Optionen, aber am Ende wird es dann doch das Degustationsmenü, mit einem Zusatzgang. Schnell noch mit dem nahbar-weltmännischen Sommelier Stéphane Gass über die Weine ausgetauscht – et voilà, es kann losgehen.

Als Apero-Trio gibt es: einen Löffel mit Ceviche von wilden Garnelen, wobei das Krustentier zwischen pikantem Jalapeñosud und grünem Apfel allerdings etwas untergeht; ein zweiter Löffel ist mit einer elegant-rustikalen Kombi aus Tatar vom Pommerschen Rind mit Gurkenrelish, Eigelbmayonnaise und Gartenkresse bestückt; bei einem Algencracker mit gebeizter Meeräsche wird die Meeresaromatik durch einen Tupfer Zitronencrème und einen Hauch Peperoni schön nach vorne gebracht. Insgesamt ist das ein netter, gleichwohl etwas verhaltener Auftakt.

Dafür hat das Amuse es in sich: Je ein Stück vom Thunfischbauch und -rücken sind mit krauser Glucke und Shoyumarinade angerichtet, obenauf ein Löffel Imperialkaviar. Die unterschiedlichen Cuts vom Tuna  –einmal mager, einmal fett– sind von phänomenaler Güte, wie wir sie hierzulande äußert selten erleben. Die Marinade bleibt angenehm dezent, akzentuiert den Fisch mit leichter Süßsalzigsäuerlichkeit, während der Kaviar eine luxuriöse Frische beisteuert. Der Clou sind allerdings die Stückchen von krauser Glucke, einem Pilz, der bei uns Kindheitserinnerungen an familiäre Herbsttage im Wald weckt. Hier bringt er feingeschnitten etwas Biss und eine erdige Umami-Note ins Spiel. Dieser Gaumenkitzler ist ein kleines Meisterstück, nicht weniger. Notebane: Der Thunfisch kommt von Balfego, was seltsamerweise nicht auf der Karte steht; stattdessen steht dort "Kishū", warum auch immer.

Der erste Gang des Menüs besteht aus einer herbstlichen Terrine, hier Mosaik von Entenleber und gegrillter Taubenbrust genannt, umhüllt von Geflügelgelee, gewürzt mit Muskat und Macis. Das sieht mächtig aus, erweist sich jedoch als überraschend filigrane, geradezu leichte Angelegenheit – elegant gewürzt, von zarter Textur und (fast schon zu) mildem Geschmack. Dazu gibt es eingelegte Früchte in angenehm dezentem Honigweincoulis und einen samtigen Würfel gebratener Foie gras (es hätten gerne zwei sein dürfen). Etwas warmes Keulenfleisch mit Trüffeljus setzt mit seiner delikaten Deftigkeit einen schönen Kontrapunkt zur feinen Terrine. Das nennen wir mit Freude "klassisch".

Weiter geht es mit Saint Pierre, der mit Lorbeer gespickt und gebraten wurde. Sehr schön, dass man die Lorbeerblätter selbst entfernen muss, sodass ihr typischer Duft noch sehr präsent ist. Die saftige Tranche ruht auf zartem Fenchelgemüse mit einer sanften Gartenkräuter-Emulsion. Senfkörner, mariniertes Fenchelgrün und Dillspitzen geben dem Ganzen eine kräftige Süffigkeit. Es schmeckt unglaublich köstlich, vollmundig und zugänglich, dabei nie trivial, sondern durchdacht und immer wieder überraschend. Ein Favorit des Abends.

Nach dem eher spätsommerlich komponierten Fisch wird es bei den glasierten Medaillons vom bretonischen Hummer wieder Herbstlicher. Die bemerkenswert zarten Stücke baden in einem leichten Kürbissud, der mit Ingwer aromatisiert wurde – eine nussig-fruchtig-würzige Kombi von klassischer Harmonie, deren aromatische Vielschichtigkeit sich mit jedem Löffel etwas mehr erschließt. Ein elegant abgeschmecktes Kürbis-Orangenchutney und karamellisierte Kürbiskerne runden das Geschmacksbild dieses unkomplizierten Wohlfühlgangs ab. An solchen vermeintlich simplen Gerichten lässt sich die handwerkliche Größe einer Küche vielleicht am besten erkennen.

Das Herbstfeeling steigert sich beim nächsten Gang. Wie Maître David Breuer uns in seiner ansteckend gut gelaunten Art erzählt, wurden die Pilze aus dem Nordschwarzwald von Torsten Michel höchstpersönlich gesammelt – das sei eine liebgewonnene Freizeitbeschäftigung des Chefs. Im Detail liegen auf dem Teller: Rötliche Gallerttrichter, Trompetenpfifferlinge, Braunkappen und flockenstielige Hexenröhrlinge – das klingt märchenhaft und mystisch, nach Wilhelm Hauff und Holländermichel. Und schmecken tut es magisch! Die Pilze haben Saft und Kraft, changieren zwischen knackig, schmelzend und im genusspositiven Sinne "glibberig". Dazwischen hauchzarte, winzige Kartoffelgnocchi (kaum größer als Risoni-Nudeln) und ein sanft gegartes Landhuhn-Eigelb (das leider deutlich flüssiger sein dürfte); außerdem eine seidige Rotweinsauce und gehobeltes Eigelb für ein bisschen Extra-Umami. Wir müssen an die französischen Pilz-Magiere Régis und Jacques Marcon denken. Aber ein solches Pilzgericht hier zu essen, an diesem Ort im Schwarzwald, in dieser Güte, entfaltet einen besonderen Zauber.

Nun kommt der eingeschobene Extragang, auf den wir uns besonders freuen. Es gibt Lamm. Aber kein Filet oder Keule, nein. Besser. Auf dem Teller liegen Lammniere, Lammleber und Lammbries, darunter ein Bett aus Graupen mit Lammfüßen und Lammzunge. Selbst in Frankreich dürfte ein solches Innereien-Fest Seltenheitswert haben. Man muss das mögen – und wir sind Fans! Knackig die Nierchen, saftig die Leber, knusprig-schmelzend das Bries; alles mit prägnantem Eigengeschmack. Herrlich. Füße und Zunge vom Lamm geben den Graupen Kraft und Fülle, eingelegte Gartengurken bringen animierende Säure und belebende Frische. Ein gekräuterter Lammjus mit Senfkörnern umringt das barocke Ensemble, unterstreicht die kräftigen Aromen mit herzhafter Eleganz. Das ist ein Teller zum Schwelgen und darin Versinken.

Eigentlich haben wir nun fast die Sättigungsgrenze erreicht – doch mit der Präsentation des Hauptgangs gewinnt unser Appetit, oder besser: unsere Lust wieder an Fahrt. Wilde Wachteln aus dem Burgenland, mit Kräutern und Wacholder gebraten. Wohlgemerkt: richtig wilde Wachteln – keine ausgesetzten Zuchttiere. Zum Tranchieren gehen die appetitlich glänzenden Vögel zurück in die Küche…

Derweil geraten wir mit David Breuer ein wenig ins Plaudern über den Neubau. An gewohnter Stelle soll die Schwarzwaldstube dort ihren Platz finden, jedoch mit hohen Decken, viel Licht und Ausblick aufs Tonbachtal. Klingt toll. Nur den legendären Schriftzug "Französisches Restaurant" möchten wir auch dort keinesfalls missen!

Inzwischen sind die Wachteln fertig. Auf den Teller kommen die ausgelösten Bruststücke und die Keulen, angerichtet auf in Butter geschwenkten Rosenkohlblättern; dazu Steinpilze, gebraten und roh gehobelt. Am Tisch wird noch ein Wildgeflügeljus mit grünem Pfeffer angegossen. Allein der Duft dieses Tellers nach Wald, Pilzen und Röstaromen ist betörend. Dann der erste Bissen... ein Moment zum Augenschließen... Die heißen, saftigen Wachtelbrüste haben einen Eigengeschmack, wie wir ihn bei diesem Geflügel noch nie erleben konnten. Der Unterschied zwischen Wild und Zucht... Kohl und Pilze sind wunderbar klassische Begleiter, die uns gleichwohl vor allem als Saucenträger dienen, weil wir das Fleisch ganz pur genießen wollen, bis hin zu den winzigen Keulchen, die wir gierig abnagen. Ein Genuss für alle Sinne.

Etwas Käse von Maitre Antony? Zu verlockend, um Nein zu sagen.

Das Pré-Dessert besteht aus exzellenter, mit indischen Gewürzen aufgepeppter Mangoeiscrème auf einem kompakten Baba mit Muscovadozucker, dazu salziger Erdnusskaramell. Das schmeckt durch den Baba und die Erdnüsse zunächst recht schwer – bis sich der besondere Clou bemerkbar macht: geeister Espresso mit Kokosinfusion. Die Kaffeenote frischt das Gesamtbild auf, verleiht dem Dessert Tiefe und Komplexität. Gerade auch in Kombination mit den Gewürznoten vom Eis entwickelt sich ein träumerisch orientalisches Geschmacksbild. Das ist fast schon zu anspruchsvoll für ein Vordessert, aber sehr stark.

Beim Hauptdessert steht ein formidables Schokoladensoufflé im Mittelpunkt, so intensiv-schokoladig und zugleich so wolkenfluffig, dass wir es fast komplett verputzen. Aber nur fast, denn sonst müsste der zweite Teil des Desserts stehen bleiben, nämlich eine brutal gute "Schwarzwälder Kirsch"-Komposition, bestehend aus Sauerkirschsorbet, Kirschkompott, Manjari-Schokoladenganache und Mousseline von Kirschwasser. Am besten fährt man mit dem Löffel einmal durch, dann schmeckt es wie der Tortenklassiker unter dem Aromen-Brennglas – mit einer Verschiebung zugunsten der Kirsche und des Kirschwassers, die bekanntlich immer ein bisschen zu wenig sind. Ein mehr als hervorragender Abschluss.

Bei den Petits Fours halten wir uns zurück, ein Cannelés, eine Praline... mehr muss heute wirklich nicht sein. Oder besser gesagt: wir können einfach nicht mehr.

Ein solches Menü haben wir lange nicht erlebt. Damit meinen wir gar nicht mal die handwerkliche Qualität, sondern vor allem die Konzeption der Gerichte. Anders, als so viele Köche seiner Liga setzte Torsten Michel wiederholt auf Geschmacksbilder, die irgendwo zwischen herzhaft und rustikal liegen, ohne dadurch Eleganz oder Finesse zu verlieren. Er traut seinen Gästen Innereien und seltene Wildpilze zu, dazu kräftige Saucen mit Pfeffer und Senfkörnern. Dafür kam Fruchtiges oder Süßliches in diesem Menü praktisch gar nicht vor, nicht einmal zu den Wachteln, und selbst der Hummer war eher von Ingwerschärfe, als von Orangensüße geprägt. Mit strahlenden Augen und geradezu kindlicher Freude erzählte Michel bei seiner Runde durchs Restaurant vom Wildgeflügel, das ein Jägersmann ihm bringt – Locavorismus ohne Aushängeschild.

Und trotz aller Intensität und einer gewissen "Mächtigkeit" wirkte nichts forciert auf Wumms getrimmt, wie es viele jüngere Küchenchefs so gerne machen. Die intensiven Geschmäcker ergeben sich bei Michel aus den Produkten. Dass dies auch zu leiseren Tönen führen kann, zeigte sich bei der Terrine und dem Saint Pierre. Nicht zuletzt: wo bekommt man heute noch ein Menü, das sicht- und schmeckbar zur Jahreszeit passt?
Michels Küche ist klassisch, keine Frage; vielleicht sogar etwas "altmodisch", aber sicher nicht altbacken. So gesehen passt unsere frühere Überschrift doch nicht mehr. Ein "Eichamt" steht für vorgegebene Maße und feste Normen. Doch bei Michel herrscht Bewegung. Der anstehende Umzug in die neuen Räumlichkeiten lässt sich da fast symbolhaft lesen. Nach dem temporaire ist vor der Schwarzwaldstube. Wir können es kaum erwarten.

Text: Kai Mihm, Fotos: Thierry De Nullepart (Food)
Weitere Fotos:
René Riis (Restaurant), Julian Beekmann (Team)

Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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