Restaurantkritik  8.März 2022

Silbergold?

Ein kleines Bergdorf mitten im Nirgendwo. Gute zwei Stunden Autofahrt von Zürich. Klingt nach Erholung pur. Doch nach einem grandiosen Dinner im Widder mit viel zu kurzer Nacht und einem ausgiebigen Lunch bei Roger Kalberer sind wir erstmal froh, die kurvige Route durch die Schweizer Alpen unbeschadet hinter uns gebracht zu haben.
Wir sind zwar noch kurz irritiert über das schwere neue Zufahrtstor, das uns die letzten Meter zum Hotel aus unerfindlichen Gründen versperrt, doch sobald wir die geschwungenen, ans New Yorker Guggenheum Museum erinnernden Linien des Hotels 7132 sehen, macht sich eine erste Entspannung breit. Diese fördern wir mit einem längeren Aufenthalt im warmen Thermalwasser, gerahmt von spannenden Formen des Architekten Peter Zumthor sowie einem Bergmassiv, das sich ganz langsam ins Dunkel der Nacht zurückzieht. Majestätisch. Dann ab aufs Zimmer, kurz frisch machen und weiter ins Silver, dem eigentlichen Grund unseres Besuchs.
Als wir das letzte Mal hier oben waren, hat noch Sven Wassmer die Brigade geleitet. Nach einem für Schweizer Verhältnisse lauten Abgang hat Mitja Birlo, ehemaliger Sous von Wassmer, die Küche übernommen und die hohen Bewertungen (2 Sterne, 18 GM Punkte) zwischenzeitlich bestätigt. Den Bielefelder zog es nach seiner Ausbildung in die Traube Tonbach. Von dort ging es weiter nach London zu Nuno Mendes ins Viajante, bevor er schließlich in Vals landete. Von der Weltstadt in die tiefste Bergprovinz – scheint zu funktionieren.

Als wir das Restaurant nach sechs Jahren wieder betreten, sind wir aufs Neue angenehm überrascht von der scheinbar komplett aus der Zeit gefallenen Innenarchitektur. Wie eine Mischung aus sehr dunklem Sci-Fi-Film und "Lost Highway". Was uns ebenfalls sofort auffällt, ist die Musik, nämlich 90er Jahre Hip Hop in dezenter Lautstärke. Wie passend, dass Restaurantleiterin und Sommelière Florentina Shenari das Dinner mit einem Glas Roederer einleitet (2012er Cristal). Wir nippen, nicken und sind ready.

Den Auftakt macht eine Brezel mit Kürbis. Isst sich weniger ungewöhnlich als es sich liest. Denn die Süße des Kürbis kontrastiert die würzig-salzige Intensität des Laugenteigs. Einerseits. Andererseits hat Birlo noch eine ordentliche Prise Schärfe in den Kürbis gepackt, die vor allem die Salinität wieder akzentuiert. Spannend.

Kohlrabi mit Buchweizen bietet unkompliziertes Essvergnügen und changiert gekonnt zwischen lebendiger Säure und crunchiger Nussigkeit. Im Röllchen liegt Lumare Saibling, obenauf sein Rogen, und als Würzelement kommt Salzzitrone zum Einsatz. Dieses marokkanische Grundnahrungsmittel bringt eine komplexe Säurestruktur ins Spiel, die den delikaten Fisch umschmeichelt, statt ihn einfach plump zu würzen. Schön.

Ein letzter Gruß aus der Küche folgt in Form von Kalmar (aus der Bretagne) mit Dashi und Paprika. Tintenfisch kann ja gerne etwas "kaubedürftig" sein, hier ist er aber butterzart. Dashi und Paprika sind betont rauchig inszeniert, sodass kurzzeitig Bilder von einem improvisierten Grill am Mittelmeerstrand vor unserem inneren Auge vorbeihuschen. Das wirkt im ersten Moment vielleicht ein wenig plakativ, ist aber so auf den Punkt gebracht und bei aller Wucht so harmonisch, dass wir mit jedem Bissen mehr Gefallen daran finden. Und nachdem die Teller längst abgeräumt sind noch diskutieren, was für ein Grower das doch ist. Richtig, richtig gut.

Wenn die Teller etwas substanzieller werden, wird das Menü gemeinhin offiziell eröffnet. Birlo setzt dafür auf unpasteurisierten Kaviari »Kristal« Kaviar, fermentierte Maroni und Braune Butter. Hört sich nicht nur ziemlich üppig an, sondern zeigt sich auch am Gaumen ausladend. Doch aus der Üppigkeit steigt ganz langsam eine immer präsenter werdende, mystisch anmutende Orangennote auf. Ein verdammt cleverer Schachzug, der diesem Teller genau das gibt, wovon man nicht wusste, dass er es braucht. Denn auch wenn nur die drei Hauptkomponenten auf dem Teller liegen würden, sprächen wir hier bereits von einer sehr gelungenen Kreation. Trotz der der zweifellosen Mächtigkeit. Doch dieser kleine Twist hievt den ersten Gang ganz unscheinbar in die nächsthöhere Sphäre und sorgt dadurch für ein kleines Ausrufezeichen zum Auftakt.

Weiter geht’s mit Steinbutt (aus der Bretagne) mit Ponzu und Shiso. Hier herrscht Uneinigkeit am Tisch. Denn unter dem Grün versteckt liegt eine Crème. Soweit harmlos. Bei einem von uns ist sie scheinbar perfekt dosiert und bietet einen vortrefflich eingebundenen, erdigen Unterbau, der die restlichen Komponenten wunderbar unterstreicht. Auf der anderen Seite des Tisches ist die Crémeschicht allerdings um einiges dicker ausgefallen. Dadurch wird nichts mehr unterstrichen, sondern ziemlich wild über die restlichen Aromen drüber gepinselt. Auch das an sich tolle Mundgefühl von festem, saftigem Fleisch und knackigem Grün wird dadurch beinahe ad absurdum geführt. Schade.  Lassen wir diesen kleinen Fauxpas außen vor und konzentrieren uns auf den einen gelungenen Teller, ist das nämlich ziemlich stark.

"Ein bisschen Show muss sein" sang so ähnlich einst Roberto Blanco. Darum rollt die einzige Köchin der Küchenbrigade einen Servierwagen an den Tisch. Während eines charmanten Monologs bereitet sie für uns den Sellerie mit Rande und Schwarzem Pfeffer vor. Zur en papillote gegarten Sellerie gesellt sich eine sehr pfeffrig abgeschmeckte Randensauce. Auf dem Gemüse liegt zusätzlich eine mit Nussbutter gepimpte Crème vom Sellerie. Auch wenn wir Sellerie sehr gerne mögen, auch und gerade als Hauptkomponenten eines vegetarischen Gangs, will der Funke in diesem Fall nicht so richtig überspringen. Das liegt einerseits an der Konsistenz, die für unseren Geschmack etwas gar weich ausfällt. Andererseits können wir konstatieren, dass sich die beiden Gemüse zwar eigentlich gut ergänzen, die Sauce jedoch – vor allem auch aufgrund des Pfeffers – so intensiv daherkommt, dass keine richtige Symbiose entsteht. Oder anders gesagt, die Sauce überlagert den Sellerie. Gerade der übermäßige Einsatz des schwarzen Pfeffers erweist sich als doppelt schade, denn die zugrunde liegende Sauce hat ganz klar eine immense Qualität und könnte ein Höhepunkt des Menüs sein.

Von einem ganz anderen Kaliber ist das Presa vom Iberico mit Karotte und Federkohl. Der Nackenkern des iberischen Eichelschweins ist wunderbar pink gegart, fantastisch saftig und von einer unvergleichlichen nussigen Fettigkeit, die wir vielen anderen Tieren und Cuts der Hochküche vorziehen. Herrlich. Die Einfassung auf dem Teller changiert je nach Gabelbelegung zwischen erdiger Süße und belebendem Bittergrün, zeigt sich dabei jederzeit perfekt abgestimmt.
Auch den in der Schale dazu gereichten Gemüsesalat mit Chicharon (gepuffte Schweinehaut) wollen wir nicht unterschlagen, trägt er doch mit seinem Biss und pointierter Säure einen nicht unerheblichen Teil zum abschließenden Verdikt dieses Gang bei: grandios! Wir wollen uns in diesen Teller reinlegen, wie die Schweine darin suhlen, damit der Genuss länger haften bleiben. Genau dasselbe können wir auch über die kongeniale flüßige Begleitung sagen: 1999 Vega Sicilia Unico. Passt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge.

Es folgt eine Variation von der Valser Ente. Alles in angenehmer Snackgröße portioniert. Beginnend auf Zwölf Uhr (kaum sichtbar im Becher): eine über drei Tage hergestellte Consommé mit Liebstöckel; die Leber ummantelt von Kürbis; auf einen Knochen aufgespießte Brust; ein Dimsum von der Keule, dazu Kürbis mit dem Herz des Vogels und zu guter Letzt eine kleine Brioche.
Die grundsätzliche Idee dieser Snack-Sequenz gefällt uns sehr gut, wenngleich sich nicht alle Petitessen auf demselben Niveau bewegen. Ganz hervorragend ist die elegante Consommé sowie die exzellent gewürzte Brust. Das Teigtäschchen mit Dip gefällt uns geschmacklich ganz gut, der Teig dürfte allerdings ein wenig filigraner gearbeitet sein. Ebenfalls gut ist der kleine Happen Kürbis, der die volle Breitseite von Ente ein wenig auflockert. Gut, wenngleich eher an eine rustikale Paté als eine Crème von Foie erinnernd, ist die Leber, die wir auf die Brioche schmieren. Letzere ist die einzige echte Enttäuschung dieses kleinteiligen Ensembles. Sie war ein bisschen zu lange im Ofen, wodurch der Teig etwas krümelig daherkommt und das Innere nicht so saftig ist, wie wir uns das wünschen würden. Eine kleine handwerkliche Unachtsamkeit, die letztlich den Genuss aber nicht nachhaltig trübt. Insgesamt gefällt uns auch dieser Gang sehr gut.

Etwas überrascht sind wir dennoch, als nun wieder ein Servicewagen an unserem Tisch geparkt wird. Wir gehen zuerst davon aus, dass das unter ausführlichem Storytelling zubereitete Frozen Valser Joghurt mit Kikusui Junmai Sake und Wachholder als Papillenauffrischer dient. Auf Nachfrage wird uns allerdings bestätigt, dass es sich bei der Ente um den Hauptgang handelte und nun der Übergang ins finale Drittel folgt. Ein wenig erstaunt sind wir darüber schon, doch retrospektiv finden wir den ungewöhnlichen Hauptgang durchaus gelungen. 
Und die Idee, nicht einfach irgendein Stück Fleisch mit Sättigungsbeilage zu servieren, verdient sowieso immer Applaus. Doch zurück zur Tableside Action: Oftmals läuft man in solchen Situation Gefahr, dass das Storytelling zuungunsten des fertigen Gerichts an die erste Stelle rückt. Nicht so in diesem Fall. Denn das Ergebnis ist unfassbar gut. Von samtener Textur, leicht, herbstlich, frisch und durch den Sake mit einem subtilen Hauch Exotik und Komplexität versehen.

Wir haben mit angerichteten Käsetellern bekannterweise immer wieder gewisse Probleme. Leider macht da auch die Royale vom 18 Monate gereiften Valser Rustico mit Schwarzem Trüffel keine Ausnahme. Nach einem zwar keineswegs schweren aber aufgrund der schieren Menge an Essen doch forderndem Menü brauchen wir keine Käseroyale mehr. Auch der würzige Halbhartkäse an sich schmeckt uns nicht besonders gut. Was aber auch an der Zubereitung liegen mag. Wir wollen diesen Gang nicht unnötig schlechtreden, das würde ihm nicht gerecht. Für uns passt es in diesem Moment einfach nicht. So ist das halt manchmal.

Urschweizerisch und ultramodern zugleich wird’s inmitten der Alpen beim ersten Dessert: Birchermüesli, Valser Heidelbeeren und Alba Trüffel. Was beim Annoncieren so abwegig klingt, entlockt uns beim ersten Bissen eines unseres seltenen Grinseduelle, das in einem wohl im gesamten Restaurant hörbaren Jauchzer mündet. Wie geil ist das denn bitte?! Süffig, fruchtig, nussig, belebend kühl, kontrastiert von den wärmenden, intensiv duftenden Trüffeln, die hier so gar nicht dazuzugehören scheinen. Tun sie aber! Das ist kein Versuch, auf Teufel komm raus anders zu sein. Es ist ein dickes Augenzwinkern dabei, klar, aber vor allem zeigt es, dass vermeintlich nicht passendes passend gemacht werden kann. Absolut großartig!

Dass man in der Silver-Pâtisserie Humor hat, zeigen auch die Crêpes mit Orange und Estragon. Liest sich erstmal unspektakulär, entpuppt sich aber bei genauem Hinhören als weiterer kleiner Schabernack. Denn vorgestellt wird das zweite Dessert als Crème Suzette. Also ein Bastard aus Crème Brûlée getoppt von einer Crèpe Suzette. Mit der üblichen Begleitung aus Orange und einem neckischen kleinen Akzent in Form der subtilen, herben Anisnoten des Estragon. Und natürlich einem ordentlichen Schuss Cointreau. Clever, lustig und lecker.

Zum Schluss erliegt man im Silver nicht der Versuchung einer nichtssagenden Friandises-Orgie, sondern serviert genau ein Petit Four: Valser Wachteleierlikör-Pralinen. Ja, richtig gelesen, Eierlikör aus Wachteleiern. Ein totales Novum für uns, dass für allerlei Hirngespinste am Tisch sorgt, wie viele Wachteln dieser Züchter denn im Stall haben muss.  Als wir bei siebenstelligen Fantastereien angekommen sind, brechen wir die Diskussion ab und widmen uns dem Genuss der Mini-Eier. Erneut sehr gut und ein gelungener Abschluss.

Unser Fazit könnte eigentlich ganz simpel ausfallen: wir mögen das Silver einfach. Angefangen bei der gelungenen Küche natürlich, über den betont lockeren Service, die gute Musik bis zur einnehmenden Atmosphäre. Besonders gefällt uns, wie Mitja Birlo unbeirrt sein Ding durchzieht. Wir mögen solche Charakterköpfe, die man auch im Menü "wiedererkennt" und die sich nicht anbiedern.  Das funktioniert freilich nur, wenn auch das Essen überzeugt. Und das tut es. Birlos Gerichte zeichnen sich durch ihre Eigenständigkeit aus und durch den Mut, so abzuschmecken, wie er selber gerne isst. Dass er damit über die Länge des Menüs auch ein, zwei Mal übers Ziel hinausschießt – geschenkt. Insgesamt besticht seine Küche durch teilweise ungewöhnliche Kombinationen, die aber nie forciert wirken, sondern sehr durchdacht und clever sind. Die immer präsente Frische lässt fast alle Teller angenehm leicht wirken und erinnert uns entfernt an die Schule Sergio Hermans.

Besonders erwähnenswert ist auch die Dramaturgie, die eher einem Konzert, als einem herkömmlichen Sternemenü gleicht. Will heißen, dass es keine konstante Steigerung gibt, sondern ein stimulierendes Auf und Ab, das uns bei Laune hält und für Abwechslung sorgt. Das Einzige, was uns ein wenig fehlte, sind die unumstößlichen Höhepunkte. Zwei haben wir notiert (Iberico, Birchermüesli), doch wir sind uns sehr sicher, dass in diesem Chef das Potenzial für noch mehr Glanztaten schlummert. Deshalb wollen wir mit unserer nächsten Reise nach Vals nicht wieder sechs Jahre warten. Denn der Trip mitten ins Nirgendwo lohnt sich, da das Gesamterlebnis Silver bereits jetzt eher golden schimmert.

Text: Thierry De Nullepart

Wein

Weine:
Dom Pèrignon Brut Millésime Jeff Koons, 2004 Champagne, Frankreich 
Thomas Studach Chardonnay, 2014 Malans, Schweiz 
Château Lynch Bages Grand Cru Classé, 1994 Pauillac, Bordeaux 
Vega-Sicilia Unico, 1999 Ribera del Duero, Spanien 
Batic Cabernet Franc, 2018 Vipava, Slowenien 
Ahearne Wild Skins, 2018 Hvari, Kroatien 
Cidre du Vulcain ̈Turgowy ̈, 2019 Freiburg, Schweiz 
Château d`Yquem, 1998 1er Cru Classé Supèrieur Sauternes, Frankreich

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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