Restaurantkritik 20.Oktober 2021

Family Business

Die Planung einer Fressreise ist eine durchaus komplexe Angelegenheit. Auch wir neigen immer wieder dazu, den Aufwand eines mehrtägigen Programms zu unterschätzen: Es gilt Öffnungszeiten und Urlaubstage zu beachten, Verfügbarkeiten abzugleichen und Reservierungsfenster abzupassen; und eine gewisse Dramaturgie soll das Ganze ebenfalls haben. Nicht selten erleben wir, dass alles perfekt steht, dann aber die allerletzte Reservierung nicht am Wunschtermin klappt. Das hat nicht selten einen Dominoeffekt. Und plötzlich geht alles von vorne los.
Bei Wien hielten sich die Komplikationen in Grenzen: 3 Tage, 6 Restaurants, keine Sprachbarrieren, keine allzu knappen Reservierungsfenster. Easy. Für den Eröffnungsabend hatten wir im Mraz & Sohn reserviert – nach einer langen Anreise schien uns die entspannte Atmosphäre und das unkompliziert-köstliche Essen dort genau richtig.

Interieur-Fotos: © Lisa Edi

Manche Faktoren liegen allerdings jenseits aller Einflussmöglichkeiten. Zum Beispiel die Deutsche Bahn. Und siehe da, einmal mehr erwies sich das Unternehmen als deux ex machina. Verbindung: Frankfurt-Wien, reguläre Fahrtzeit 6,5 Stunden. Kurz vor Nürnberg stoppt der ICE auf freier Strecke. Ein vorausfahrender Güterzug hat die Oberleitung abgerissen. Eine Stunde vergeht. Dann zwei, dann drei. Mit der Ankunft um 16:45 Uhr wird das nichts mehr. Machen wir es kurz: nach einem Abschleppmanöver und zwei Zugwechseln geht es um 19 Uhr ab Passau Richtung Wien, Ankunft: 21:30 Uhr. Der Tisch bei Mraz ist um 20 Uhr reserviert. Die Taktung in der Küche erlaubt leider keinen großen Aufschub. Der aus Hamburg eingeflogene Kollege ist zum Glück längst in der Stadt. Das heißt: virtuelles Fernfressen!
Ab viertel nach acht trudeln im rammelvollen ICE die WhatsApp-Nachrichten samt Fotos ein...:

20:22 – »Artischockenpuffer mit Rosenblättern, dazu ein Artischockenherz mit Umeboshi. Wahnsinnskombi: Mraz hat die eigentlich ungenießbaren Artischockenblätter extrem kross frittiert, zusammen mit Rosenblättern – schmeckt erdig, ganz leicht "blumig", kein bisschen fettig. Allein das krachende Geräusch beim Abbeissen ist der Wahnsinn. Verveinepulver poliert das Ganze auf. Das Herz ist saftig, mit gutem Biss, leichter Süße und Säure von der Umeboshi. Das fordert den Champagner (Gimmonnet 2014 Non Dosé), der hält aber mit. Rustikales Casual Fast Fine Dining at it's best. Bekommst Du nachher auch noch, ist versprochen! (Auch den Champagner ;P)«

20:35 – »Steirischer Wassermelonensalat mit Habaneros: Der perfekte Konter zur intensiven Artischocke davor. Wassermelone von Top-Qualität, Mraz pimpt sie mit steirischem Kürbiskernöl und süßlichen Habaneros. Klingt trivial, funktioniert wunderbar. Changiert zwischen erfrischender Süße, Nussigkeit, Erdigkeit und minimaler Schärfe. Die Kombi notieren wir für den nächsten Sommer!«

Im ICE warten wir unterdessen vergeblich darauf, dass angesichts der fünfstündigen Verspätung wenigstens ein paar Erdnüsse verteilt werden... da kommt die nächste Nachricht gerade recht. Nicht!

20:49 – »Hier duftet es plötzlich verführerisch nach frischem Brot oder Foccacia. Ganz stark röstig, fast ein bisschen verbrannt. Macht Appetit!« …

20:52 – »Das war Pizza! Lukas nennt sie "Siracharita". Belag: selbstgemachte Siracha, Estragon und Mozzarella. Erinnert an seine Eskapaden in Berlin (Blutwurstpizza!) und schmeckt verdammt gut. Schön knusprig, guter Teig, man merkt allerdings, dass sie nur abgeflämmt ist. Der Estragon kommt gut. Nur die Schärfe von der Siracha ist heftig... zu heftig, für mich zumindest. Da hilft auch der cremige Mozzarella nicht.«

21:05 – »Bilderrätsel :D Sieht das Teil nicht wie ein Artischockenboden aus? Ist aber eine Rolle aus Mangold, Kartoffel und Spinat, außerdem getrockneter Rhabarber, obendrauf ein Klecks Eggnog aus getrockneten Steinpilzen. Klingt wild, schmeckt bissl schräg. Guter Biss von Kartoffel und Mangold. Spinat hat ja immer was leicht verkochtes, ist er hier zwar nicht, doch der weiche Eindruck bleibt. Der Eggnogg schön süffig. Alles zusammen erinnert in Textur und Geschmack entfernt an Fisch. Verblüffend und "interessant", aber richtig warm werde ich damit nicht.«

21:22 – »Reinanke, hausgemachter Cream Cheese, Mandelmilch, Kaviar: Das Gericht zum Wein aus Lanzarote. Der ist zunächst pure Asche im Glas, wandelt sich zusammen mit dem ersten Bissen nicht nur selbst, sondern auch den Gang. Der Fisch bekommt mehr Struktur und die Komponenten werden besser gegliedert. Ohne den Wein wäre das eine cremig-süffige Melange, köstlich, aber auch mächtig  – mit dem Rofe Blanco bekommt es Leichtigkeit und Frische, schmeckt elegant und ausdifferenziert. Verblüffend.«

Derweil fährt der ICE in den Wiener Hauptbahnhof ein. Quälend langsam. Nervöses Ausharren an der Tür... geh' auf!! Im Affenzahn die Rolltreppe runter... Blick aufs Handy: Steinpilze mit Speck und Bananenessig... Sprint zum Taxistand, 21:33 Uhr, der Fahrer kennt das Restaurant, ein Glück! Dort wird gerade ein Wachtel-Curryei aufgetischt...

21:52: Die Tür zum Mraz geht auf! Großes Hallo... die ganze Crew scheint hier mitgefiebert zu haben!
Eine Minute später sitzen wir endlich gemeinsam am Tisch, der Champagner steht schon bereit, auf dem Plattenleger liegt "Falco 3", die Atmosphäre im Restaurant ist umwerfend – laut, lebhaft, genussfreudig. Nun beginnt ein Lauf, der selbst in der Sternefresser-Historie einmalig ist: Innerhalb von 14 Minuten werden vier Gänge nachgeholt, das Best-of der letzten zwei Stunden: Erst die Reinanke (natürlich mit dem Wein), dann die Artischocke...

...dann der Steinpilz mit Bananenessig und Speck von Wiesner: Der prächtige, geröstete Pilz hat einen fast atemberaubend intensiven Geschmack, welcher durch den glasig schmelzenden Lardo noch befeuert wird. Eine tolle Inszenierung zweier außergewöhnlicher Produkte. Die feine Exotik des Essigs mildert die Wucht etwas ab und verleiht diesem meisterhaft reduzierten Gericht etwas Geheimnisvolles.

Eine süffige Petitesse ist das gebackene Wachtelei: außen leicht knusprig, innen wachsweich, überzogen mit einer delikat abgeschmeckten Currysauce samt "Wienergarnitur" für den kleinen Extrakick. Das ist nicht sonderlich komplex, dafür angenehm warm und wohlig. Und dramaturgisch kommt diese Kreation mit ihrer hauchfeinen Süße genau richtig, nach dem kraftvollen, salzigen Steinpilz.

Nun kommt der Hauptgang. Auf dem Teller liegt eine halbe Bratwachtel, überzogen von einem appetitlich glänzenden Apfellack. Das erinnert uns an den Hauptgang im Saison in San Francisco, wo wir eine halbe Wachtel mit BBQ-Lack bekamen, der allerdings übermäßig süßlich-rauchig schmeckte und das tolle Produkt auf Dauer killte.
Von einer solchen Unwucht kann hier keine Rede sein. Der Lack (eine Reduktion aus Topaz-Äpfeln) hat genau das richtige Maß an fruchtiger Süßsäuerlichkeit, um das zarte Wachtelfleisch zum Glänzen zu bringen. Ergänzt wird er durch eine Paste aus Schnittlauchöl und fermentiertem grünen Szechuanpfeffer – das Aroma erinnert an Limette und bringt eine dezente Blumigkeit mit, macht das Ganze sanft exotisch und anregend frisch. Dazu gibt es eine Sauce aus altem Gouda, luftig in der Konsistenz und intensiv im Geschmack. Natürlich legen wir das Besteck irgendwann beiseite – dieses herrlich zupackende Gericht ist für die Hände gemacht. Finger Lickin' Good...

Als Abschluss des würzigen Menüteils gibt es in japanischer Manier eine Wiener Misosuppe, gekocht aus den geräucherten Reinanken-Karkassen, als Einlage junger Schafskäse statt Tofu (und mit der gleichen, seidigen Textur) und Kapuzinerblättern statt Wakame-Algen. Das schmeckt gut, aber auch sehr intensiv, rauchig und dadurch (allzu) mächtig. Hier hätte etwas japanische Dezenz gut getan.

Wesentlich besser gefällt uns eine spontan von Lukas Mraz eingebaute Überraschung: Fischbeuschelsuppe. Dieses Traditionsgericht der Wiener Küche wird meist um Weihnachten serviert und verwertet normalerweise die Innereien des Weihnachtskarpfens. Lukas Mraz erläutert, dass ihm das Rezept seiner Großmutter als Basis dient. Er verfeinert die Suppe mit Creme fraiche und frischt sie mit Yuzu auf, gibt Croutons dazu und rundet mit brauner Butter und Petersilie ab. Als Einlage dienen frischer Saiblingskaviar, Kopffleisch und Leber vom Saibling – und als besonderer Clou die Fischmilch, sprich: das Sperma des Saiblings. Zugegeben: wir müssen uns kurz überwinden. Doch mit dem ersten Löffel ist jede Aversion verflogen – die Suppe schmeckt grandios! Fein und leicht, trotzdem komplex, kraftvoll und wärmend. Wir schmecken die langjährige Tradition, die diesem Gericht innewohnt, und zugleich den modernen Twist, den Lukas Mraz ihm gegeben hat.

Wir sind zwar ziemlich satt, doch der von Markus Mraz gebaute Käsewagen darf nicht einfach an uns vorüberziehen.

Im kurzweiligen Dialog mit Manuel Mraz lassen wir uns eine Auswahl perfekt gereifter Sorten zusammenstellen. Dazu ein bisschen Charcuterie – irgendwie bekommen wir wieder Appetit...

Danach wird als kleine Showeinlage Gurkenkagigori direkt am Tisch geschabt, angereichert mit winzigen Gurkenstücken. Schmeckt erfrischend, leicht, nicht zu süß, um nicht zu sagen: angenehm herb, fast wie ein gefrorener Gin-Tonic. Für so ein Intermezzo aber vielleicht doch ein bisschen viel Action.

Ein Highlight ist das Hauptdessert, Palatschinken mit Marillenmarmelade: Die Marmelade wurde zu einer Art luftigem Parfait verarbeitet, obenauf ein frisch gebackener Palatschinken – kalt plus warm. Es schmeckt vollkommen authentisch und durch die Darreichung zugleich originell anders. Sonnig-süß das Marillenparfait, buttrig-braun der hauchdünne Pfannkuchen, mit leichtem Knusperrand. So geht das. Einziger Kritikpunkt: Wir hätten gerne die doppelte Portion gehabt.

Den Abschluss bildet ein Milcheis mit Le Coste-Olivenöl, dessen leicht herber Touch bestens mit den eingelegten Heidelbeeren harmoniert; beigemischt sind auch Stücke kandierter Oliven, die teilweise jedoch ziemliche Plombenzieher sind. Dessen ungeachtet ein ausgesprochen köstlicher Ausklang.

Als Petit Four gibt es ein Shiso After Eight, das beim Anbeißen zwar schön knackt, allerdings weder nach Shiso, noch nach After Eight schmeckt.

Was für ein Abend, was für ein Tag. Erst stundenlanger Stillstand, dann ein kleiner Menü-Marathon und schließlich ein gemächlicher Ausklang. In den vielen Jahren unserer Reisen haben wir das so noch nicht erlebt. Aber irgendwie passt das Verrückte dieses ganzen Ablaufs auch zur Stimmung und der Küche im Mraz & Söhne – eine Mischung aus Jazz und Rock 'n' Roll. Nachdem Vater Markus (3.v.re.) zunächst alleine am Herd stand, Sohn Lukas (li. hinten) sich in Berlin austobte und der studierte Jazzmusiker Manuel (6.v.re.) sich dem Gitarrenspiel und der bildenden Kunst widmete, wirkt das Trio seit gut zwei Jahren zusammen. Es hat etwas Herzerwärmendes, dieses Vater-Söhne-Gespann bei der Zusammenarbeit zu beobachten. Markus und Lukas in der Küche, der ältere Bruder Manuel als Maitre – natürlich ein viel zu formeller Begriff für die unprätentiöse Lässigkeit, mit der hier gearbeitet wird.

Zu diesem Eindruck passen auch Details wie das internationale, unglaublich gut gelaunte Team in der offenen Küche und die von Manuel ausgesuchte Musikbeschallung – immer auf Vinyl und immer ein komplettes Album. Dramaturgie statt Playlist. Man merkt, dass der Mann aus der Musikwelt kommt.

So straight und aus einem Guss ist inzwischen auch die Küche – und dabei vollkommen anders, als jedes uns bekannte Restaurant dieser Kategorie. Man mag darüber streiten, ob Pizza und Wassermelonensalat im Zweisterner angebracht sind. Man kann es aber auch lassen. Für die Mrazens scheinen die Guide-Bewertungen ohnehin zweitrangig zu sein. Sie kochen, was ihnen gefällt. Der Erfolg gibt ihnen recht. Und auch wenn manches vielleicht über das Ziel hinausschießt, wiegt die entschiedene Eigenwilligkeit jede Unebenheit auf. "Mainstream" ist hier gar nichts. Was für ein Erlebnis, gleich am ersten Abend... Willkommen in Wien!

Text: Kai Mihm, »C.S.«

Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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