Restaurantkritik 18.Januar 2022

Zwischen gestern und heute

Langjährige Leser unserer Seite werden es wissen: Die Restaurants von Juan Amador sind in der Sternefresser-Geschichte von besonderer Bedeutung. Im Jahr 2005 kam es in seinem Langener Lokal während einer alkoholseligen Nacht überhaupt erst zu der Idee, eine Website mit Berichten über Spitzenrestaurants zu gründen. Es sollte zwar noch einige Jahre dauern, bis daraus jene Seite wurde, die sie heute ist – doch in dieser Nacht ward Sternefresser.de geboren. 
In den folgenden Jahren avancierte das pittoreske Langener Fachwerkhaus für uns zu einem Treffpunkt, wo wir Ideen schmiedeten und die Premiere so mancher Amador-Klassiker erlebten. Unvergessen vor allem der November 2007, unmittelbar vor dem damals dritten Stern, als eine neue Kreation namens "Rehrücken mit Purple Curry" auf der Karte stand… 
Wir folgten Amador nach Mannheim und schließlich auch nach Wien, erlebten Höhen und Tiefen. Ganz unvoreingenommen sind wir also nicht, wenn wir über sein Restaurant schreiben. Der letzte Bericht aus Wien (verfasst von einem Gastautor) stammt von 2018, kam also noch vor dem dritten Stern 2019. Manche von uns waren seitdem schon wieder hier, privat. Diesmal reisten wir für eine offizielle Bestandsaufnahme an.

Drei Tage Wien liegen hinter uns, morgen geht es zurück nach Hause. Wir hatten außerordentliche Menüs bei den Mrazens, im Steirereck und der Umar Fisch Bar. Letztere besuchten wir erst an diesem Mittag, gefolgt von einer Shopping-Tour durch Mariahilfer Brillenläden, einem Verdauungsschläfchen im Hotel und einer schnellen Verkostung bei den Weinfreaks von Trinkreif. 
Dort stehen wir nun vor der Tür und warten auf den bestellten Uber. Der Tisch bei Amador ist für 19 Uhr reserviert, die Fahrt raus nach Wien-Heiligenstadt dauert eine Weile, und wir sind sowieso schon spät dran. In der App verfolgen wir, wie der Fahrer immer wieder falsch abbiegt, Runden dreht, sich entfernt, wendet und näherkommt, dann kurz der Ankunft wieder falsch abbiegt, Runden dreht… Normalerweise könnten wir über diese tatieske Aufführung lachen. Aber wir haben Hunger. Und_sind_spät_dran! 
Ein herkömmliches Taxi ist in der Millionenstadt Wien allerdings auch nicht so leicht aufzutreiben. Nun denn, mit gut halbstündiger Verspätung erreichen wir schließlich das Restaurant (per Taxi). Beim allerersten Besuch in Langen hatten wir schweißnasse Hände vor freudiger Aufregung, diesmal eher vor Stress. Schnell noch am Straßenrand das Deo aufgefrischt, Sakko übergestreift, und rein geht's.  
Die leicht rustikale Gemütlichkeit des Backsteingewölbes, der inzwischen angenehm lässige Service (das war nicht immer so…) und ein flugs serviertes Glas Krug lassen uns allmählich zur Ruhe kommen. Da es nur ein festes Menü gibt, können wir entspannen und uns ein paar Minuten später ganz auf die ersten Einstimmungen einlassen…

Die Küche startet mit einem langjährigen Amador-Klassiker: Tatar vom Simmenthaler Rind mit Ingwer-Beeftea. Die sehr fein geschnittene, mit einem Tick Sojasauce abgeschmeckte Fleischkugel erinnert von der Konsistenz fast an eine Crème – eine am Gaumen schmelzende Umami-Praline auf einem krossen Reiscracker. Köstlich. Der Beeftea wird über einen Ingwer-Eiswürfel gegossen, der langsam in der heißen Consommé schmilzt – mit jedem kleinen Schlückchen wird die Essenz etwas ingwerschärfer und bekommt dadurch trotz der Abkühlung etwas Wärmendes. Ganz hervorragend. Nur etwas mehr dürfte es sein, um den Verlauf in markanteren Schlucken zu genießen.

Anschließend gibt es drei kleine Happen: Beim filigranen Kaviar-Macaron (die Miniatur eines Amador-Vorspeisenklassikers) verflüchtigt sich die Hülle in Sekundenschnelle, setzt dabei einen feinen Säuerakzent und gibt den Stab an die "Füllung" aus geeister Beurre Blanc weiter, die den Mundraum mit feinwürziger Cremigkeit grundiert und so dem nussig-jodigen N25 Kaviar zum großen Auftritt verhilft – diese blitzschnelle Abfolge ultraeleganter Aromen jagt uns einen Schauer über den Rücken. Ein Cracker mit Pilzen und Rehleber trägt den Titel "Waldspaziergang", was hier frappierend gut passt: die knusprige Petitesse schmeckt erdig, würzig und "wild", ein paar Kräuter hellen das Ganze wie eine überraschend auftauchende Waldlichtung auf. Dann gibt es noch eine Pastrami-Schnitte, die mit Senfgurke und Kren einen augenzwinkernd rustikalen Abschluss bildet.

Bei der Royal Auster mit Kaffee, Passionsfrucht und Spinat treffen wir auf eine altbekannte Komposition in veränderter Darreichung: In Langen gab es statt der Auster ein Stück krosser Rotbarbe mit rohem Baby-Spinat, etwas Passionsfrucht und einer mild abgeschmeckten Kaffeesauce – Meeresaromen, Fruchtigkeit, Säure, dunkle Bitternoten und grüne Frische in kongenialer Feinabstimmung. Hier nun ist alles kompakter, verdichteter, hat durch die fleischige Auster mehr Kraft und lebt von einem vollen Mischgeschmack. In Konzeption und Wirkung ist das vollkommen anders als das "Original", aber nicht weniger ausgezeichnet.

Der letzte Snack besteht aus einem Würfel Tuna-Toro (von Balfegó), darauf eine Art Karamell-Chip, ein Sardellenfilet, ein Tupfer weißes Bohnenpüree, Wasabi und zwei winzige Basilikumblättchen. Ziemlich viel los, auf so kleinem Raum – doch was sollen wir sagen: Der Thunfischbauch wird von den diversen Würzelementen regelrecht beflügelt. Es schmeckt salzig und süßlich, cremig und knusprig, herzhaft und doch frisch. Hier beweist Amador seinen Ruf als Meister feinster Nuancen, mit einem –wie es der Kritiker Bernd Matthies einst formulierte– "genialischen Gespür für Proportionen".

Das eigentliche Menü umfasst sechs Gänge und startet mit Stücken vom Kaisergranat, die in einem Sud aus Melone ruhen und mit Iberico-Schinken garniert sind. Diese Variation des Vorspeisenklassikers "Melone mit Parmaschinken" plus Kaisergranat erinnert uns an eine Kreation aus dem Bianc, die uns sehr gut gefiel. Hier ist die Idee nochmal eine Nummer stimmiger umgesetzt – eleganter, leichter, weniger fruchtsüß und mit präsenterer Schinkenwürze. Der Kaisergranat ist von exzellenter Qualität, hat knackigen Biss und krustentiersüßen Meeresgeschmack; grüne Mandeln, Tomaten und etwas Olivenöl setzen entscheidende Akzente, brechen das klassische Geschmacksbild auf und verleihen dem kurzweiligen Gericht eine komplexe Mediterranität. Eine Komposition, in der man sich verlieren kann... À part gibt es noch eine Art Carabinero-Krapfen mit Krustentiermayo. Heiß, vollmundig, köstlich.

Gang zwei: gefüllte Zucchiniblüte. Eigentlich ist die Blüte weniger "gefüllt", sondern umhüllt saftigen Saint Pierre und knackig-zarte Schwertmuschelstücke. Anders, als so oft, ist die Zucchiniblüte hier jedoch nicht nur Zierde, sondern entwickelt einen verblüffenden Eigengeschmack, leicht "grün" und minimal süßlich. Das passt bestens zum elegant mediterranen Ensemble aus Petersfisch und Muscheln; irgendwo kommt eine appetitanregende Säure her, und eine schaumige, mit nussigem Kürbiskernöl verfeinerte Sauce setzt einen überraschenden Akzent in Richtung Österreich – originell und hervorragend.

Beim nächsten Gang zieht die Küche die Aromenschraube mächtig an. Eine prächtige Tranche Atlantik-Steinbutt stammt von einem 8-Kilo-Exemplar und hat für sich genommen bereits eine bemerkenswerte Kraft. Getoppt wird sie von Röstzwiebeln (man beachte auch die hauchdünne Kugel), flankiert von glasiertem Kalbsbries und Steinpilzen hervorragender Qualität. Alles keine Leisetreter, die sich mit dem Fisch zu einem intensiven, dennoch erstaunlich eleganten Ensemble fügen. Dazu eine dichte, seidige Sauce, die wir mit Wonne auslöffeln. Nach den angenehm leichten und aromatisch eher subtilen Gängen kommt dieses süffige "Mar i Muntanya" genau richtig. Auffallend ist, dass man dieses Gericht regelrecht "klassisch" nennen kann – was wir ausdrücklich als Kompliment meinen.

Der Hauptgang trägt den Titel "Erinnerungen an Oaxaca" und wird von einem kleinen Taco mit geschmortem Iberico, Avocadocreme und etwas Salat eingeleitet. Eigentlich ist das eine schöne Idee, nur hat der Taco-Fladen eine (für uns) unangenehm teigig-weiche Textur, die alles andere überlagert. Auf Nachfrage erfahren wir, dass es sich um ein Originalrezept aus Mexiko handelt. Schmecken tut er uns trotzdem nicht, allerdings fehlt uns der Maßstab für eine angemessene Einschätzung und möglicherweise handelt es sich hier um eine individuelle Abneigung.

Der "richtige" Hauptgang besteht dann aus Pluma Ibérica de bellota (von Joselito) mit Mole, Bohnen und Avocado. Ähnlich dem Taco erweist er sich wegen eines Details zunächst als schwierig: Limettenschale. Sie verleiht dem Fleisch eine seltsam parfümierte, fast artifiziell anmutende Note – ein ähnlicher Effekt wie ihn auch Limettenblätter in Thai-Gerichten haben können, wenn sie nicht durch Schärfe oder Fischsauce ausbalanciert werden. Solche Konterparts fehlen hier leider, also versuchen wir, die Limette bestmöglich vom Fleisch zu bekommen – und siehe da: so schmeckt das Ganze plötzlich viel runder. Zartes, aromatisches Pluma, eine dichte Sauce und teils würzige, teils frische Beigaben verleihen dem Gericht eine ähnliche Süffigkeit, wie beim Steinbutt. Wohltuend auch, in einem Dreisterner einmal nicht Wagyu, Reh oder Lamm als Hauptgang zu bekommen.

Nach dem Mexiko-Hauptgang bleibt es beim Pré-Dessert karibisch, mit einem Cuba libre, allerdings in schneeweiß: Unter einer Gelee-Haube aus Pedacola, einer weißen Cola aus dem Mühlviertel, verbergen sich diverse Zubereitungen (u.a. ein Granité) aus Ron Zacapa, Pedacola, Limette und Eberraute (auch Colakraut genannt) – erfrischend, fruchtig, süß und sehr gut. Früher waren die Desserts oft ein Schwachpunkt in Amador-Menüs, nicht so diesmal.

Das gilt noch mehr für das Hauptdessert mit der Bezeichnung Peche Melba 2.0: zwei cremige, kühle Kugeln auf Basis von Himbeere, weißem Pfirsich und Vanille sind mit frischen Himbeeren garniert und ruhen in einem Pfirsich-Vanille-Sud. Ein paar Knusperelemente setzen Texturakzente; allein den etwas künstlich schmeckenden Badeschaum hätte man sich sparen können. Auch wenn kein "echter" Pfirsich im Spiel ist (was wir bedauern) schmeckt dieses zwischen Mousse, Eis und Creme changierende Ensemble verblüffend nach dem Original, nur leichter und feiner. Separat gibt es den Peche Melba noch in Gestalt eines heißen, leicht krossen Krapfens, und genau dieses Temperatur- und Texturspiel zum kühlen weichen Hauptteller bringt den entscheidenden Spannungskick.

Die Petits Fours setzen zum Abschluss nochmals einen etwas klassischeren Akzent: Im Vordergrund ein Eis-Lolli aus Matcha, Kalamansi und Ivoire-Schokolade, dahinter in der Unschärfe Blueberry-Cheesecake, Baiser-Törtchen mit Joghurt und Brombeere, Glückskekse sowie bunt gesprenkelte Pralinen als 'Hommage an Jackson Pollock'. Schmeckt alles sehr gut, ohne übermäßig spektakulär zu sein.

Spektakulär wird es dafür noch einmal beim "Happy End": Popcorn-Eis mit Salzkaramell, Popcorn und Popcorn-Chip ist ein perfekter Abschluss, üppig, trotzdem frisch und (nicht zu) süß. Das buttrige, wie gefrorene Popcorn-Essenz schmeckende Eis weckt zunächst Kindheitserinnerungen an Rummelplatz und Weihnachtsmarkt; zusammen mit dem Salzkaramell müssen wir dann an den ersten Kinobesuch in den USA denken, 1989 in New York war das, wo wir erstmals salziges Popcorn probierten. Süße Nostalgie. Ein mehr als glückliches Ende, in der Tat.

Bei Juan Amador (hinter der Säule), so unser Eindruck, hat sich ein sanfter Wandel vollzogen. Seine Gerichte sind ruhiger geworden, ohne dadurch an Kraft und Spannung einzubüßen. Das gesamte Menü zeichnete sich einerseits durch die typische Präzision und zugleich durch eine lässige Kreativität aus, durchaus mit einer Tendenz zu Klassischem und –noch stärker, als früher– mit einem Fokus auf schiere, süffige Köstlichkeit. Die zeigte sich nicht zuletzt in den durchweg exzellenten Saucen – ein Bereich, der für uns schon immer zu Amadors größten Stärken zählte. Vom Image des postmodernen "Molekularkochs" (so beschränkt diese Charakterisierung schon früher wirkte) war höchstens noch bei den Desserts etwas zu sehen – andererseits ist selbst klassische Patisserie ja schon immer ein Spielfeld der Texturen und Verfremdungen gewesen. 
Der "68er" (Jahrgang) Amador scheint vom Jungen Wilden zum Elder Statesman zu werden – den Sturm und Drang überlässt er der nächsten Generation. Er weiß, was er kann, und seine Stärken spielt er souverän aus: Die Küche eines Mannes, der nach dreimal drei Sternen nichts mehr beweisen muss, ohne dadurch zum Stillstand zu kommen.
Noch eine letzte Flasche Mersault, dann wird es für uns hinaus in die laue Wiener Herbstnacht gehen. Spät ist es geworden. Eine weltbewegende Idee ward diesmal nicht geboren, auch wir werden schließlich nicht jünger. Vielmehr lässt die besonnene Köstlichkeit des Menüs, mit Reminiszenzen an frühe Meisterstücke und zeitlose Klassiker, auch uns zurückschauen auf all die Sternefresserjahre. Ein bisschen nostalgisch und ein bisschen stolz auf das, was wir erleben durften. In dem schönen Traum, der sich unser Leben nennt. Ans Aufwachen denken wir noch lange nicht.

Text: Kai Mihm

Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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