Restaurantkritik  3.März 2022

Der Himmel vor Kopenhagen

Ankunft in Kopenhagen. Trotz winterlich-grauem Himmel und eisigen Regenschauern eine wunderschöne Stadt. Der letzte Besuch ist Jahre her, obwohl sich hier gastronomisch so viel tut, dass man problemlos alle sechs Monate wiederkommen und neues entdecken könnte. Der Anlass unserer Reise ist allerdings weder das Noma, noch das Geranium, noch das Alchemist (auch wenn wir letztere ebenfalls besuchen werden).

Nein, der Auslöser dieses Trips ist ein Restaurant, von dem wir seit seiner Eröffnung im Jahr 2017 regelmäßig hörten und lasen – und zwar immer Begeistertes: Das Jordnær, im Vorort Gentofte, etwa 20 Autominuten von der City entfernt. Fast immer ist beim Jordnær auch die bewegte Vergangenheit von Küchenchef Eric Vildgaard (38) ein Thema, dass er bereits als Jugendlicher einer kriminellen Gang angehörte und mit 26 durch das Kochen allmählich auf den rechten Weg fand. Zu seinen Stationen gehören das Noma, das Søllerød Kro und das Almanak. Die Begegnung mit seiner späteren Frau Tina spielte nach eigener Aussage bei seinem Bewusstseinswandel eine mindestens ebenso große Rolle. 2017 eröffneten die beiden das Jordnær, das direkt einen Stern bekam; 2020 folgte der Zweite.

Der Begriff Jordnær bedeutet so viel wie "bescheiden-bodenständig", und so fühlt sich das Restaurant auch an. Es befindet sich in einem eher unspektakulären Drei-Sterne-Hotel mit wenig glamourösem Eingang. Bestenlisten- und Sterneglamour stellt man sich auch in Kopenhagen anders vor. Aber genau das wirkt so sympathisch. Als wir mit dem Taxi leicht verspätet vorfahren, warten Tina Kragh Vildgaard und ein Mitarbeiter bereits mit Regenschirmen vor der Tür. Die Begrüßung ist dermaßen ungezwungen, herzlich und verbindlich, dass wir uns schon wohlfühlen, bevor wir überhaupt Platz genommen haben. Drinnen herrscht eine angenehme Mischung aus unaufdringlich eleganter Einrichtung und entspannt-genussfreudiger Atmosphäre an den Tischen. Das Restaurant ist voll besetzt, klar. Da es nur ein Menü gibt und auch die Weinbegleitung sich ansprechend liest, können wir direkt beginnen.

Los geht es mit einem Törtchen von norwegischer Königskrabbe, bedeckt mit Muschelgelée. Das sieht nicht nur bildhübsch aus –ein bisschen nach "Ronja Räubertochter"–, sondern ist von einer so atemberaubenden Feinheit, bei einer gleichzeitig so pointiert ausgespielten Aromatik, dass wir kurz inne halten müssen... wie bekommt man solche Verdichtung auf so kleinen Raum? Die elegante Meeresfrische der Krabbe wird vom Muschelgelee gepusht, etwas Sake, Wasabi und "grüne" Blüten peppen das Geschmacksbild keck auf, ohne aufdringlich zu sein. Eine Petitesse von märchenhafter Magie.

Eine schöne Intensitätssteigerung bietet Limfjord-Hummer mit Yuzu und Ikura, sprich: Lachskaviar. (Notabene: Bei Ikura handelt es sich um ein japanisches Lehnwort für Ikra, dem russischen Begriff für Fischrogen.) Dieses luxuriös funkelnde Törtchen lebt von einem so simplen wie genialen Dreiklang: da ist die ploppende Frische der Fischeier, die filigrane Knusprigkeit des Teigs und der süßliche Schmelz des Hummerfleischs. Alles zusammen ist von einnehmender Harmonie und geschmacklichem Reichtum. "Flieg' mich zum Mond" hat ein Bekannter von uns zu diesem Happen gesagt – für uns gilt: jetzt sind wir ganz hier angekommen.

Eine dritte Tartelette komplettiert die erste Welle an maritimen Petitessen. Diesmal besteht der "Belag" aus Hamachi Sunazuri, also dem fetten Bauch der Gelbschwanzmakrele, gewürzt mit etwas Shoyu, darauf Gastrounika Platinum Kaviar. Dieses Teil erinnert uns an eine nahezu identische Tartelette aus dem Brooklyn Fare in New York – "nahezu", weil Ramirez das Ganze noch mit eine Räucherforellencreme grundiert. Diese wegzulassen erweist sich als kluge Optimierung, denn dadurch wirkt das Ganze weniger mächtig. Das Verhältnis von Kaviar und Makrele ist ebenfalls stimmiger, der Geschmack beider Produkte kommt in betörender Klarheit zur Geltung. Ein Hauch Knusprigkeit vom extrem filigranen Teigboden und das zart florale Aroma winziger Shisoblüten lockern das maritime Geschmacksbild auf. Ein Traum.
Man könnte darüber streiten, ob das Vorbild hier referenziert werden sollte, aber feststeht, dass uns Vildgaards Variante besser schmeckt.

Es folgt ein Klassiker des Hauses: Eine Waffelrosette mit Gastrounika Baerri Selection Kaviar. Diese Waffelform wird gerne mit Japan assoziiert (was sicher auch mit Christian Baus kongenialer Verwendung zusammenhängt), hat tatsächlich aber eine lange Tradition in Skandinavien. Hier sieht das hübsch aus, allerdings fragen wir uns, was an Waffel mit Kaviar so spektakulär sein soll – bis wir probieren. Der Clou besteht nämlich darin, dass die Waffel von unten her mit einem cremigen Salat aus Fjord-Shrimps gefüllt ist! Der hauchdünne, superkrosse Teig und die zarte, köstliche Füllung spielen auf atemberaubende Weise zusammen. Alles ist perfekt justiert, und am Ende gelangt man als Höhepunkt zum Kaviar. Eine scheinbar simple Idee, perfekt umgesetzt. Es schmeckt irreal gut. Eine Götterspeise.

Etwas "leiser" wird es bei der Essenz von Matsutake mit Arganöl. Der Duft, der dem Schälchen entströmt, ist betörend, und er wird nochmal betörender, als am Tisch Weißer Trüffel auf das Süppchen gehobelt wird. Das schmeckt einerseits nach konzentriertem Umami, nach Wald und Moos, hat zugleich aber jene geheimnisvolle Flüchtigkeit, die es elegant und bezaubernd macht. Pure Magie. Wenn wir etwas kritisieren wollen, dann das es ruhig etwas mehr hätte sein dürfen. 
Doch schon jetzt verstehen wir den Hype um dieses Restaurant.

Nach diesem dunklen, erdigen Geschmacksbild gibt es eine Auffrischung in Form norwegischer Jakobsmuschel. Diese ist kleingeschnitten, in Form winziger Blüten, und in einem Sud aus Fingerlimette und Grüner Stachelbeere mariniert. So haben wir Jakobsmuschel noch nie gegessen. Die kleinen Stücke haben bemerkenswerten Biss und eine enorme Frische. Die nussige Süße wird durch die süßsäuerliche Marinade noch verstärkt –  es erinnert an Litschi. Auf Dauer schmeckt uns alles zusammen fast ein bisschen zu fruchtig-süßlich. Alles in allem ein sehr origineller und spannender Gang, aber kein uneingeschränktes Highlight.

Es folgt ein weiterer Klassiker: Eine gelierte Essenz vom Kaisergranat bedeckt ein extrem feines Kaisergranat-Tatar und wird mit Tomatenwasser begossen. Der Service erläutert, dass es sich um Marinda-Tomaten aus der Umgebung der Stadt Pachino im Südosten Siziliens handelt, wo der Boden reich an Salzen und Mineralien ist (ein schöner Zufall, denn die Gegend ist eines unserer liebsten Urlaubsziele). Vildgaard belässt das Tomatenwasser vollkommen pur und rein. Es schmeckt unglaublich intensiv, ganz leicht salzig und mit einem Hauch Säure. Würze kommt vom Krustentiergelee, das mit ein paar Tropfen Cognac und einem Tick zartbitterer Vanille abgeschmeckt ist. Traumhaft.
Olivenöl sowie kleine Blättchen Vogelmiere, würzige Lauchblüten und süßliche Pflaumenblüten runden das elegante, fruchtig-herb-süßliche Geschmacksbild ab. Und trotz der vertrauten Einzelkomponenten schmeckt es anders als alles, was wir bislang aus Tomaten und Krustentieren gegessen haben.

Beim nächsten Gericht verbergen sich in einer samtig-schaumigen Creme aus geräuchertem Käse ein Wachteleigelb und Kalix Löjrom, schwedischer Maränenkaviar. Das schmeckt wärmend und wohlig, dicht und trotzdem wundersam leicht. Das kleine Eigelb zerschmilzt förmlich am Gaumen, während die winzigen, ganz leicht jodig-salzigen Kaviarperlen dem Gericht eine zusätzliche, luxuriös wirkende Dimension verleihen. Nach den komplexen und durchaus Konzentration erfordernden Gängen davor ist dies ein wundervoller Wohlfühlgang.

Weiter geht es mit norwegischen Fjord-Garnelen, ein Gang, den Vildgaard als "Hommage an René Redzepi" bezeichnet: Im Noma hatte er die Aufgabe, Unmengen an rohen Garnelen zu schälen – und zwar makellos. Wenn man einer Garnele den Schwanz abbrach, musste man sie schnell essen, damit der strenge Perfektionist Redzepi den Fehler nicht mitbekam. Hier nun kombiniert Vildgaard die rohen Garnelen mit Meerrettich und Dill. Die Würzzutaten sind exakt ausbalanciert und dienen einzig dazu, den unglaublich zarten Krustentieren eine Bühne zu bereiten, denn ihre Qualität ist atemberaubend. Süß, salzig, cremig und von einer überraschenden Intensität. Eine fantastische Zelebration eines Weltklasseprodukts.

Ganz ähnlich ist es beim nächsten Gang. Ein Ring aus Gastrounika Kaviar 'Huso Huso' ist lediglich mit etwas Misosauce und Öl aus schwarzem Johannisbeerholz angerichtet. Fertig. Und mehr braucht es auch nicht. Miso und Öl unterstützen die delikate Nussigkeit des Kaviars, verstärken seinen Eigengeschmack und setzen einen kaum wahrnehmbaren, salzig-herben Akzent. Besser haben wir die Inszenierung von Kaviar als Hauptprodukt selten erlebt. Zum Augenschließen gut. Eine sehr ähnliche Kreation im Geranium (mit Kürbiskernöl) wirkt dagegen fast rustikal. 
Später fragen wir uns, ob es auch hierzulande möglich wäre, ein Gericht von solch genialer Simplizität zu servieren.

Auch der nächste Gang ist ganz dem Hauptprodukt gewidmet. Scheiben vom Akami – dem mageren Rückenstück– der Gelbschwanzmakrele (Hamachi)  sitzen in einer Art Vinaigrette aus Ponzu und Sesamöl. Der Fisch ist einmal mehr von herausragender Qualität; die Würzsauce hat durchaus Intensität, vor allem vom Sesam, was die ebenfalls kraftvolle Makrele aber sehr gut verträgt.
Die Klarheit und Präzision von Vildgaards Gerichten wird mit jedem Gang beeindruckender. Warum nur sind wir erst jetzt hier gelandet?

Gutes Brot als eigener Menügang ist keine Seltenheit mehr, vor allem in Skandinavien. Allerdings setzt Eric Vildgaard nochmal einen drauf: Der kleine Laib sieht unscheinbar aus, fast ein bisschen trocken. Tatsächlich ist es das wohl buttrigste –und köstlichste!– Brot (oder eher eine Art Brioche) aller Zeiten. Der Gehalt an "Guterbutter" lässt sich anhand der Spuren im nächsten Bild erahnen...

…denn unglaublich, aber wahr: wir haben das Teil komplett aufgegessen! Es ging einfach nicht anders.

Der erste Hauptgang präsentiert norwegischen Kaisergranat, ein prachtvolles Exemplar, auf Binchotan-Kohle gegrillt. Über die unwirkliche Produktqualität in diesem Restaurant müssen wir keine Worte mehr verlieren. Reden wir von der Garung: (zu) viele Küchenchefs halten halbroh belassene, also innen sehr weiche Kaisergranate für die perfekte Darreichung. Man möchte sie alle hierherschicken (oder ins Maaemo), wo die Krustentiere zu perfekter Knackigkeit gegart sind – innen nicht mehr roh, aber auch noch nicht ganz durch. So bekommen sie elastischen Biss, haben Saft und entfalten ihren süßlichen Meeresgeschmack am besten. Vildgaard serviert dazu eine üppige, feinsäuerliche Yuzu-Kosho-Beurre-Blanc und eine Reis-Koji-Creme – die uns fast zu viel ist und das Gericht einen Tick schwer macht. Deshalb ein nur "fast" perfekter Gang.

Auch der Hauptgang ist ein Klassiker, den wir aus anderen Berichten kennen: Kabeljau von der Küste vor Langø’ wurde mit eingelegten Trüffeln pochiert. Kabeljau bringt bekanntlich nicht viel Eigengeschmack mit, und auch hier dient er vor allem als Basis für das ultraluxuriöse Topping aus Ossetra Imperial Kaviar und reichlich Trüffel. Vildgaard macht es sich damit fast ein bisschen zu einfach, denn: wie sollte das nicht funktionieren? Eben. Das macht es natürlich nicht weniger großartig. 
Dazu gibt es eine Feigen-Escabeche, verborgen unter einer schaumigen Beure Blanc auf Basis von Vin Jaune, dessen oxidative Note dem Ganzen einen unerwarteten, feinherben Touch verleiht. Groß, ganz groß.

Das erste Dessert, eigentlich eine Mischung aus Dessert und Käsegang, kombiniert eine feinherbe Creme von Ziegenmilch mit Gelee und Sauce von gegrillter Rote Bete und Schwarzen Johannisbeeren. Eine schöne Mischung aus erdigen und fruchtigen, bitter-süßlichen und "käsigen" Aromen – leicht und frisch, originell und elegant.

Das nächste Dessert variiert dieses Thema, diesmal aber eindeutig als Dessert: Ein großartiges Eis aus Schafsmilchjoghurt ruht in einem klaren Sud aus Weißer Johannisbeere und Holunder, eine Kombi, die zugleich herb und sehr süß schmeckt und das duftige, seidenzarte Eis bestens einbindet. Scheinbar simpel und sehr, sehr gut.

Beim finalen Dessert handelt es sich erneut um einen Klassiker des Hauses: cremiges Haselnusspraliné, Weißes Trüffeleis und gesalzenes Karamell. Der Gedanke beim ersten Löffel ist, dass diese Kombi etwas von einem Naturgesetz hat. So und nicht anders! Süße und Salzigkeit, seidiges Eis und voluminöses Karamell – und als Clou frischer Weißer Trüffel, der das Ganze mit seiner ätherischen Erdigkeit einlullt. Ein "Snickers de Luxe", wenn man so will. Notabene: die Allergikervariante mit weißer Schokolade statt Haselnusscreme funktioniert ebenfalls erstaunlich gut, da die Kakaobutter Anklänge von Nuss mitbringt. 
Vor allem das Eis ist so phänomenal, dass wir nach der Herstellung fragen. Trüffelöl ist hier sicher nicht im Spiel. Die Basis bildet eine Art neutrale Crème Anglaise, die aromatisiert wird, mit einem Verhältnis von, Achtung: 150 Gramm Trüffel auf 550 Gramm Eismasse. Diesen Wahnsinn muss man nicht verstehen. Man muss ihn schmecken.

Die Petits Fours werden in der Küche serviert, und sie bestätigen die hohe Qualität der Patisserie.

Alles, was wir im Lauf der Jahre über das Jordnær hörten, hat sich bestätigt – und noch viel mehr. Eric Vildgaard zeigte in seinem Menü ein Gespür für Feinabstimmungen und subtile Geschmackswelten, das uns zutiefst berührte. Bei 17 Gängen gab es keinen einzigen Ausfall, die Dramaturgie changierte zwischen Kraft und Zurückhaltung, immer wieder wurden im richtigen Moment die richtigen Akzente gesetzt. Die meisten Produkte konnten mit den besten der Welt mithalten, ohne dass sie um die halbe Welt geflogen wurden. Kaviar und Trüffel spielten eine zentrale Rolle, wirkten aber nicht wie ausgestellte Luxusprodukte, sondern waren mit zwingender Schlüssigkeit eingesetzt.
Vereinzelte Kreationen mögen vielleicht an Klassiker berühmterer Kollegen erinnern, nur: bei Vildgaard schmeckte es alles noch ein Quäntchen besser. Beeindruckend war nicht zuletzt der radikale Purismus zahlreicher Kreationen – und wir fragen uns, wann in Deutschland jemand auf diesem Niveau den Mut finden wird, sich in diese Richtung zu bewegen. Es ist diese äußerliche Zurückgenommenheit, diese feine Luxuriösität, die das Jordnær so besonders, ja: so bescheiden-bodenständig wirken lässt. Ein zauberhafter Ort, anders lässt es sich nicht sagen. Zwei Sterne hat das Restaurant bereits, und wir wagen die Prognose, dass es der nächste Dreisterner Skandinaviens wird.

Text: Kai Mihm

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