Restaurantkritik 16.April 2022

Großstadtnest

Mit dem Igniv in Zürich hat Andreas Caminada nach Bad Ragaz und St. Moritz bereits sein drittes »Nest« (so die Übersetzung des Begriffs) in der Schweiz eröffnet. Mittlerweile ist sogar ein erster Ableger im Ausland dazugekommen, im noblen St. Regis Hotel in Bangkok. Der Start in Zürich verlief denkbar schlecht. Drei Wochen nach der Eröffnung im Februar 2020 setzte die Pandemie ein. Erst nach einer gut zwei Monate andauernden Zwangspause durfte die Crew endlich durchstarten. Passend zur Location im Herzen Zürichs, ist das neuste Mitglied der Igniv-Familie wohl auch das bisher durchgestylteste.
Die Gestalterin Patricia Urquiola schuf eine Optik, die an Noir-Krimis aus dem »Golden Age« Hollywoods denken lässt. Irgendwie sexy und verrucht wirkt die Mischung aus schweren, petrolfarbenen Samtvorhängen, auf denen als dicker Neon-Schriftzug »Miniskirts Forever« prangt, den gemütlichen runden Tischen, um die sich einladende, farblich an reife Pfirsiche erinnernde Sofas schmiegen. Rundherum sind viele kleinere Tische angeordnet, was dem Igniv einen lässigen Charme verleiht. Wir fühlen uns von dem Look an Humphrey Bogart, Lauren Bacall und Raymond Chandler erinnert. Zum Glück funktioniert das heutzutage auch ohne die nebligen Rauchschwaden der damaligen Zeit.

Ein Novum des Zürcher »Nests« ist die zum Restaurant gehörende Bar direkt am Eingang, wo man Snacks aus der Igniv-Küche bekommt. Der eigentliche Speisesaal befindet sich einige Treppenstufen weiter unten.

Während der Mittagsbetrieb im Restaurant bereits brummt, nippen wir in der leeren Bar in Ruhe an unseren hervorragenden Konter-Cocktails von Philipp Kössl, als uns die Amuses serviert werden …

Zarte Forelle ist mit säurebetontem Rotkohl und subtil scharfem Senf kombiniert. Wir befürchten, dass der Fisch von den durchaus kräftigen Aromaten unterdrückt werden könnte, was sich jedoch als Irrtum erweist. Dank der exzellenten Proportionen und der akkuraten Würzung funktioniert diese Kombo erstaunlich gut.
Rind, Rote Beete und Zwiebel bereitet uns dagegen kein Kopfzerbrechen. Dennoch sind wir positiv überrascht, wie filigran Zeindlhofer diesen oftmals eher deftigen klassischen Dreiklang inszeniert. Vor allem rohe Zwiebeln sind in einem Fine-Dining-Kontext - gerade zu Beginn eines Menüs - oft etwas problematisch. Doch hier sind sie wohldosiert, zeigen nichts von der oftmals störenden Schärfe und dem unangenehmen Nachhall. Sie ergänzen das saftige Fleisch sowie die Süße der Bete vortrefflich und sorgen für einen herzhaften Kontrast.
Als letztem Teller der Vorspeisenfolge widmen wir uns der Foie Gras mit Physalis und Malz. »Save the best for last«, wie man Neudeutsch so schön zu sagen pflegt. Hier stimmt einfach alles. Der Schmelz der Leber und die pointierte Fruchtsäure der Andenbeere harmonieren naturgemäß prächtig. Als richtiger Clou erweist sich allerdings das Malz. Einerseits bringt es eine gewisse Nussigkeit ins Spiel, die man gerne mit Foie und Frucht verbindet, andererseits ist der Unterbau viel komplexer als etwa bei einer Haselnuss oder dergleichen. Dezent rauchig, süß, entfernt nach Brot und eben nussig schmeckt das, und hebt diesen Teller auf eine Stufe, die wir beim Annoncieren des Gerichts nicht erahnten. 
Dabei haben wir eine der Komponenten noch gar nicht erwähnt, nämlich die grandiose Laugenbrioche. Das hat auch seinen Grund, denn der Teller funktioniert auch ohne sie – zugleich ist das Gebäck von solcher Güte, dass wir es unbedingt pur genießen wollen. Dem Service fällt unsere Begeisterung direkt ins Auge, weshalb wir noch mit ein paar Exemplaren für den Heimweg überrascht werden. So geht Service.

Kein Igniv-Menü ohne Salat. Heute gibt’s Lattich mit Harissa, Kimchi und Eigelb. Der Chef ist ein Freund eines gewissen Schärfekicks und durchaus intensiver Geschmacksträger. Wir sind beidem ebenfalls nicht abgeneigt, fragen uns aber, ob das in diesem Fall nicht etwas zu viel des Guten ist. Denn der von Haus aus sowieso mit nicht gerade viel Eigengeschmack gesegnete Lattich wird unter der Wucht seiner Mitspieler so komplett begraben, wie der Fußball-Torschütze unter einer Jubeltraube. Hier wäre weniger definitiv mehr. 

Die Rauchschwaden sind schon von Weitem zu erkennen. Dass sie sich schnurstracks auf unseren Tisch zubewegen, löst nicht eben Freudenstürme aus. Als vermeintlicher Übeltäter erweist sich ein Tischgrill, auf dem drei Kaisergranate aus dem dichten Dunst auftauchen. Neben dem Rauch sind die dicken Schwänze noch mit etwas gepoppter Gerste aufgepeppt. Erstaunlicherweise macht sich der Rauch geschmacklich gar nicht so stark bemerkbar, zeigt sich gut eingebunden und verpasst der Langoustine einen sommerlichen BBQ-Anstrich, der ihr gut steht. Auch die Gerste ist clever eingesetzt, akzentuiert sie doch einerseits die Nussigkeit des Schalentiers und bringt andererseits etwas texturelle Abwechslung an den Gaumen.
Wir fragen uns allerdings schon, ob es denn wirklich soviel Rauch sein muss. Denn so gut eingebunden er im Gericht ist, so störend ist er für die nächsten Minuten olfaktorisch. Wir riechen danach, die Weingläser ebenfalls, es gibt kurzzeitig kein Entkommen. Wir wollen uns gar nicht ausmalen, wie es abends im proppevollen Restaurant ist, wenn vielleicht mehrere Tische gleichzeitig dieses Gericht serviert bekommen.
Ganz benebelt vernachlässigen wir die dazu gereichten Hummer-Liebstöckel-Creme mit Cedrizitrone sträflich und dippen nur noch das letzte Stückchen Kaisergranat ein. Schande über uns.

Die Geschichte des Herbstsalat mit Molke ist schnell erzählt. Herbstliche Gemüse in unterschiedlichen Ausführungen (roh, gekocht, gepickelt, frittiert), etwas Dörrbirne, dazu eine süffige Sauce mit präsenter Säure, die das Ganze trägt. Schmeckt gut, nicht mehr, nicht weniger.

Zeigt sich der Salat geradezu bescheiden, wird beim ersten Part des »Surprise«-Gangs - Beignet mit Kaviar - geklotzt. Nicht nur des schwarzen Goldes wegen, sondern auch handwerklich. Denn der kleine Krapfen ist von einer nahezu ätherisch anmutenden Leichtigkeit und Eleganz, die wir so erst sehr, sehr selten erlebt haben (aus dem Stegreif kommen uns nur Andreas Caminadas Flagschiffrestaurant in Fürstenau sowie das Toya in Faulquemont in den Sinn). Doch nicht nur technisch ist das ein brillanter Happen, sondern auch und vor allem geschmacklich: Kaviar mit Blini in modern und richtig, richtig gut. Man kann gewisse Klassiker durch einen kleinen, cleveren Kniff eben doch noch besser machen.

Die Fortsetzung der Überraschung besteht aus Alpenlachs mit Muschelvelouté und Lauch. Man begibt sich hier im Zürcher Nest durchaus mal in relativ rustikale Gefilde, ohne dabei aber die Haute Cuisine aus den Augen zu verlieren. Jedenfalls muten die zahlreichen Zwiebelgewächse, unter denen der Fisch begraben ist, ziemlich deftig an. Doch der von feinem Fett marmorierte Lostallo Lachs vermag sich dank seines überraschend kräftigen Eigengeschmacks relativ problemlos zu behaupten. Mit welchem Feingefühl hier trotz der scheinbaren Rustikalität gekocht wird, zeigt die elegante Velouté, die sich samten um jeden Bissen schmiegt – und es dank ihrer buttrigen Üppigkeit sogar schafft, diesem Teller eine gewisse Noblesse zu verleihen.

Auch bei den Hauptgängen setzt sich Zeindlhofers Hang zu kräftigen Aromen und mutiger Würzung fort Angefangen bei der wunderbar zarten Taube mit punktgenau justierten BBQ-Aromen, die von süß-sauren Zwetschgen vortrefflich begleitet wird.

Auf ähnlich hohem Niveau bewegt sich der saftige Lammnacken mit Backerbsen, fermentiertem Knoblauch und einem Chilisud, der so gut abgeschmeckt ist, dass sogar der höchst schärfeempfindliche Kollege ihn ohne Schweissperlen auf Stirn genießen kann.

Auch bei der Beilage aus Wildem Brokkoli, Estragon, Schwarzwurzel, Eigelb und Trüffel (re.) macht die Küche alles richtig. Süffig, schlotzig ist das eigentlich gar keine »Beilage« mehr, sondern taugt definitiv zum Standalone-Teller. Bei der Kartoffelcréme mit Steinpilzen (oben) hingegen schießt Zeindlhofer merklich übers Ziel hinaus: zu wuchtig, zu kräftig gewürzt, zu intensiv.
Abgerundet wird die letzte herzhafte Episode des Lunchs durch einen tollen Dörrbirnen-Toast, der den abwechslungsreich inszenierten Reigen komplettiert. Insgesamt eine starke Hauptgang-Sequenz.

Bei den Desserts haut die Küche nochmals richtig in die Vollen. Wir probieren zuerst die Schokolade mit Gewürzmilch. Die weiß zwar aufgrund einer vorweihnachtlichen Wonne grundsätzlich zu gefallen, ist uns auf Dauer jedoch ein bisschen zu monoton. Wir würden uns ein Element wünschen, dass für etwas Auflockerung und Frische sorgt. Da gefällt uns der Apfel-Taco mit Karamell deutlich besser. Das an Spekulatius erinnernde »Teigboot« ist wunderbar knusprig, ohne trocken oder krümelig zu sein. Fein abgestimmt zeigt sich auch das Zusammenspiel von fruchtig-saurem Apfel und zünftig zuckrigem, aber nicht klebrigen Karamelleis. Schön.

Zu einem Besuch im Igniv gehört immer auch ein Quarksoufflé. Diesen nicht ganz einfach zuzubereitenden Klassiker hat man sowohl im Mutterhaus in Fürstenau als auch in den Igniv-Küchen nahezu perfektioniert. Makellos gestiegen, luftig-leicht, durch den Quark angenehm säuerlich. Hochgenuss par excellence.

Unser Favorit ist allerdings der Sanddorn-Curd mit Shortbread-Glaze, Sanddornsorbet und Zuckerwatte. Sanndorn, die »Zitrone des Nordens«, schmeckt bekanntlich nicht jedem. Natürlich steht ihre pointierte Säure auch hier im Vordergrund, wird allerdings gekonnt gezähmt. Das Spiel zwischen Süße und Säure ist optimal ausbalanciert, die Fruchtigkeit prägnant, kurzum: saugut.

Zu guter Letzt widmen wir uns dem süßen Ei Royale. In diesem Fall eine gefrorene Masse, die im Kelch mit Feige und Rosé-Champagner serviert wird. Grundsätzlich gefällt das Zusammenspiel der dumpf-zuckrigen Feige mit der bitter unterlegten Herbheit des Schaumweins. Allerdings sind das Eis (logisch), der Wein (suboptimal) und vor allem auch die Feige so kalt, dass sich die Geschmäcker gar nicht richtig entfalten können.

Wir hatten das Vergnügen, in allen Igniv-Restaurants der Schweiz zu speisen, weshalb wir uns das Urteil erlauben, dass Daniel Zeindlhofer und Ines Triebenbacher sich mit ihren Teams hier nahtlos einreihen. Am Tisch versprüht die Servicecrew um die nie um einen Spruch verlegene Restaurantleiterin einen ansteckend lockeren Charme, der so gut zum lässigen Konzept passt, wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Das »Sharing«, könnte man sagen, findet im Igniv nicht nur zwischen den Gästen auf den Tellern statt, sondern zwischen allen Beteiligten im Restaurant.
Zeindlhofer und seine junge Truppe lassen sich ebenfalls nicht lumpen und zeigen sich bei unserem nunmehr dritten Besuch sehr souverän und streuen zwischendurch sogar einige kleinere und größere Höhepunkte ein.
Wohin das bestenfalls führen kann, haben die beiden älteren Schwesterrestaurants vorgemacht, als sie ziemlich unerwartet jeweils mit dem zweiten Michelin-Stern ausgezeichnet wurden. In Zürich gab es trotz Corona-Widrigkeiten binnen weniger Monate den ersten Macaron; dazu passt die neue Bewertung des in der Schweiz omnipräsenten Gault Millau mit nunmehr 16 Punkten.
Doch Bewertungen hin oder her: Das Igniv bereichert die mittlerweile sehr ansehnliche kulinarische Szene Zürichs um eine spannende Adresse. Das Beste daran: dank der angegliederten Bar muss man dieses Nest erstmal gar nicht mehr verlassen. Wir jedenfalls gönnen uns noch einen Drink. Nur einen. Fürs Erste.

Text: Thierry De Nullepart

Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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