Restaurantkritik 26.Januar 2022

Spielerisch im Schwarzwald

Die zwei Pandemiejahre sind wie ein schwarzes Loch, das sämtliche Erlebnisse verschluckt hat und die Erinnerungen seltsam unwirklich erscheinen lässt. Alles davor fühlt sich wie eine weit entfernte Galaxie an. Am deutlichsten wird das, wenn wir über neue Touren nachdenken. Plötzlich ist fast jeder letzte Bericht schon Jahre her. Also nutzten wir die etwas entspanntere Phase im Herbst für einen kurzen Trip nach Baiersbronn. Erst ins #temporaire zu Torsten Michel, tags drauf für ein ausgiebiges Mittagessen zu Claus-Peter Lumpp ins Bareiss. Einfach mal für 24 Stunden den ganzen Mist hinter sich lassen. 
Der Himmel strahlt bei unserer Ankunft in einem surrealen Blau über der Bareiss-Idylle. Drinnen der gewohnt herzliche Empfang, diesmal natürlich an die Prüfung des Impfstatus gekoppelt. Ein Klacks, den wir nirgends missen möchten.

Im gut besuchten Restaurant wird uns bewusst, wie sehr wir die Gediegenheit dieses Raumes doch schätzen. Klar, auch wir schwärmen gerne von den modernen Toprestaurants in Kopenhagen, Berlin oder New York, mit coolem Service, offener Küche und unkonventioneller Atmosphäre. Doch die barocke Üppigkeit des hiesigen Interieurs hat in diesen Zeiten etwas angenehm Rückversicherndes. Der königsblaue Teppich, die schweren Vorhänge, das ornamentierte Holz, das gewaltige Blumenbouquet...
Perfekt ins Bild passt da der samtige Champagner von Eric Rodez ('Cuvée des Garnds Vintages'), zu dem wir einen Blick in die Karte werfen.  Das große Menü soll es sein, nur die Gänselebervariation ist uns heute etwas zu mächtig. Mit dem bestens aufgelegten Maitre Thomas Brandt verständigen wir uns darauf, der Küche die Wahl einer Alternative zu überlassen. Wirklich falsch kann man hier sowieso nicht liegen. Beim Wein begeben wir uns gerne in die Hände von Teoman Mezda, einem der angenehmsten und zugleich versiertesten Vertreter seiner Zunft.

Dann geht es auch schon los, mit der wohl berühmtesten Apero-Etagere Deutschlands. Wir beginnen ganz oben: ein lauwarmes Ministückchen Lauchtarte mit Apfelessiggel vereint buttrigen Teig, cremiges Lauchgemüse und subtile Fruchtsäure zu einem Meisterstück an köstlich-klassischer délicatesse; ein mit Massaman Curry und Sesam gewürztes Sushi setzt einen eleganten Kontrapunkt – aromatisch, wohlgermekt, nicht qualitativ. Weiter geht's mit krossem Brotchip mit gebeiztem, zartschmelzendem Saibling, bei dem Salzzitrone und Earl Gray kecke Akzente setzen; eine filigranes Tartelette mit orientalisch gewürztem Geflügelsalat und Granatapfel schließt das appetitanregende Wechselspiel aus "europäischen" und "asiatischen" Aromenwelten ab.

In angenehm zügigem Tempo folgt das erste Amuse: Schwarze Linsen sind von einer Scheibe konfierten Kohlrabis bedeckt, drumherum ein leichter Sud aus grünem Apfel und Schnittlauch. Das süßsäuerliche Geschmacksbild dieses Ensembles wirkt zunächst anregend, dann aber etwas zu süßlich. Zitrone und einige Tupfer Pommery-Senfschaum können das ein wenig ausgleichen, dennoch bleibt das Ganze für unseren Geschmack zu sehr auf der süßlichen Seite.

Beim zweiten Amuse wird eine gebratene Tranche vom Seeteufel von Bündnerfleisch getoppt – ein köstliches, bemerkenswert puristisches Spiel mit dem Berg-und-Meer-Thema. Der saftige Fisch bildet mit der hauchdünn geschnittenen Rindfleischspezialität ein kongeniales Duo, feinste gehobelter Fenchel baut den kontrastierenden Geschmackswelten eine aromatische Brücke. Einen ungewöhnlichen Akzent setzt die samtige Sauce, leicht fruchtig und hier genau richtig – kein Tropfen bleibt am Ende auf dem Teller.

Beim letzten Amuse handelt es sich um die Miniatur eines Lumpp-Klassikers: mit Vanille und Balsamico glaciertes Milchkalbsbries auf weißem Bohnenpüree. Das verführerisch gebräunte, butterzarte Bries ist von so außerordentlicher Qualität und so perfekt gegart, dass wir nach dem ersten Bissen kurz innehalten müssen... Doch die anregende Säure und die fruchtige Vanillenote wirken wie Beschleuniger, die schnell den nächsten Bissen herbeizwingen. Bei einer großen Portion wäre uns die Mischung aus Balsamico und Vanille auf Dauer wahrscheinlich zu süß, doch hier und jetzt ist das eine unglaublich süffige Petitesse.

Das eigentliche Menü startet mit dem Überraschungsgang: In der Tellermitte thront eine abgeflämmte Jakobsmuschelrosette auf Kürbis-Birnenchutney, gerahmt von unterschiedlichsten Kürbiszubereitungen, Kürbiskernen, glasierten Maronen, gebratenen Herbsttrompeten, Birne und Verveine. Wir sind erst etwas unsicher, wie wir diese Vielfalt angehen sollen – und entscheiden uns für eine Art Frontalangriff: einmal mit der Gabel durch und von allem etwas mitnehmen. Das erweist sich als genau richtige Herangehensweise, denn die bunte Mischung herbstlicher Aromen macht den Charme dieses Gerichts aus. Das ist kein Teller zum Sezieren, sondern zum Sichhineinessen. Belohnt wird man mit einem Aromenstrauß zwischen Herzhaftigkeit und Süße, würzigen Pilzen und Maronen; dazwischen die nussige Frische der Jakobsmuschel und die milde Eleganz der unterschiedlichen Kürbissorten. Sehr stark.

Noch stärker wird es beim nächsten Gang, einem Cassolette vom Hummer, wobei die Bezeichnung etwas irreführend ist, da es sich nicht wirklich um einen Eintopf handelt. So oder so: Perfekt gegarte Schwanz- und Scherenstücke vom bretonischen Hummer sind mit Süßkartoffelpüree, einer dicht (aber nicht klebrig!) eingekochten Krustentierglace und etwas Estragon angerichtet – so weit, so hervorragend klassisch. Das i-Tüpfelchen zur Großartigkeit setzen die spielerisch mit Sesam "panierten" Süßkartoffelstifte und etwas Sweet Chili. Dadurch bekommt das französisch grundierte Gericht eine anregend exotische Note. 
Auf einem separaten Teller fügt ein ausgezeichnetes Hummertatar dem Ganzen eine weitere Ebene hinzu, kontrastiert die dezente Süßlichkeit des Haupttellers mit eleganten Bitternoten von Chicorée und Zitrusfrüchten, wobei ein Hauch Safran charmant das exotische Motiv aufnimmt. Im Wechselspiel setzt sich bei jedem Bissen ein anderer Akzent durch, einer besser, als der andere.

In eine gänzlich andere Geschmackswelt führt uns der in Olivenöl konfierte Kabeljau des nächsten Gangs. Anders, als bei den bisherigen Gerichten verzichtet die Küche hier komplett auf Süße, was an dieser Stelle im Menü genau richtig kommt. Das appetitlich glänzende Fischfilet thront auf knackigem Buchweizen-Staudenselleriegemüse und hat durch das Konfieren eine verblüffende Geschmackstiefe entwickelt. Das feinherbe Olivenöl wirkt wie eine Grundierung für die würzige Frische des Sellerie und den getreidigen Geschmack des Buchweizens. Eine reiche Estragonsauce verleiht Süffigkeit und Eleganz. Alles zusammen schmeckt wie ein herbstlicher Tag in der Bretagne, zwischen Feldern und Küste. Ein in seiner scheinbaren Simplizität herausragender Gang.

Beim letzten Bareiss-Besuch begeisterte uns ein Risotto mit Wachtel als Zwischengang. Diesmal bildet ein Steinpilzraviolo das italienische Intermezzo, die primo piatto, sozusagen. Das prächtige Teil liegt auf sautiertem Spinat in einer schaumigen Parmesansauce – das erinnert fast an eine Seerose. Zitronenthymian betont das mediterrane Flair und lockert das gehaltvolle Gericht etwas auf. Der Raviolo selbst gefällt uns gut, löst aber keine Begeisterung aus: wir empfinden den Teig als etwas zu stark und zu fest, worunter neben dem Mundgefühl auch die Wirkung der Füllung leidet. Dennoch ist das auf hohem Niveau und läuft dank der ausgezeichneten Sauce prima rein. Es könnte halt noch viel besser sein.

Das Bareiss gehört nach unserer Erfahrung zu jenen Spitzenrestaurants, bei denen die Hauptgerichte mit schöner Verlässlichkeit auch geschmackliche Highlights sind. Die Elsässer Taube bildet da keine Ausnahme. Auf dem Hauptteller liegen rosa gebratene Bruststücke, butterzart, saftig, geschmacksstark. Dazu gibt es geräucherte Maiscreme und kleine Stücke von geröstetem Mais und Babymais, sehr reizvoll wegen der Unterschiede in Biss und Intensität. Ein paar keck gesetzte Popcornstücke erweitern das Texturspektrum, eine Cassisglace oszilliert zwischen der Kraft eines handwerklich hervorragenden Jus und der feinherb-fruchtigen Üppigkeit vom Johannisbeerlikör. Dieser regelrecht puristisch anmutende Teller ist für sich bereits famos. 
Doch es gibt noch mehr...

Auf dem ersten Satellitenteller liegt braisierter Romanasalat mit Taubeninnereien und einer herbstlichen Vinaigrette (die uns an die Kürbisvorspeise erinnert). Die Frische das noch knackigen Salats und die selbstbewusst kräftigen Innereien spielen bestens zusammen. Das hat Wucht, ohne überbordend zu wirken. Besonders gefällt uns, dass die Innereien nicht in einem Ragout versteckt, sondern im Ganzen serviert werden. So kommen sie angemessen zur Geltung.

Fast noch besser schmeckt uns allerdings der Inhalt des zweiten à-part-Tellers: Ein Stückchen buttrig gebräunter Royalbrioche dient als Sockel für zartes Ragoût von der Taubenkeule, getoppt von etwas Lebercreme, kess mit einem rohen Filetstreifen verziert. Den Clou dazu bildet eine Gänselebersauce, mit ihrer alles umarmenden Üppigkeit. 
Das Tolle an diesen zwei Extras ist, dass sie für sich genommen prächtig funktionieren, aber auch aromatische Verbindungslinien zum Hauptteller ziehen.

Den Käse lassen wir heute aus und gehen direkt zum Dessert über. Das Thema ist Brombeere und Zartbitterschokolade. Auf dem Hauptteller liegt ein hauchdünn-knackender, mit wolkenleichter Creme gefüllter Schokoring, im Innenraum neckisch knuspernde Crumbles, obenauf marinierte Brombeeren mit Zitronenthymian und ein schmeichlerisches Safran-Limetteneis. Die Zartheit, die Feinabstimmung zwischen Süße und Säure, die Texturspiele... alles an dieser Komposition ist betörend. Klassische Pâtisseriekunst in Perfektion. 
In einem weiteren Schälchen findet sich eine Zubereitung mit hervorragendem Brombeersorbet und leichter Pistaziencrème, außerdem sattreife Brombeeren und süße Meringue – fast schon ein Dessert für sich. Auf einem Extralöffel wird noch ein Happen Brombeercrème serviert, frivol angereichert mit Sauerampfer und Port: der Süßwein zum Dessert, wenn man so will. 

Stefan Leitner war unser Pâtissier des Jahres 2018; mit dieser Kreation hat er uns eines der besten Desserts des Jahres 2021 beschert.

Und zwar so gut, dass wir uns kurzerhand noch ein kleines Zusatzdessert gönnen: das Törtchen aus Weißer Schokolade, Passionsfrucht und Kokosnuss ist ebenfalls nicht weniger als herausragend – von träumerischer Exotik, süß und üppig, trotzdem federleicht.

Die Petit fours sind von entsprechend hoher Qualität (von links nach rechts): Exoticmarshmallow; Heidelbeerpraline mit Zartbitterschokolade; Pistazien-Palinéschnitte mit Sanddorn; Zitronentarte; Financier mit Aprikose. Ultraklassisch allesamt, und viel besser kann man das nicht machen.

Als der Pralinenwagen anrollt, müssen wir schweren Herzens abwinken. Es geht einfach nichts mehr.

Das war jetzt genau richtig... die kurze Reise in den Schwarzwald, der Abend bei Torsten Michel und nicht zuletzt dieser Mittag bei Claus-Peter Lumpp: die souveränen Ruhepole der deutschen Spitzengastronomie. Hochspannend waren diesmal auch die merklich unterschiedlichen Ausprägungen der beiden Küchen (zumindest unserer Menüs). Michel mit einer deutlich herzhaften und im besten Sinne bodenständigen Klassik; Lumpp mit einer französisch-mediterraneren Ausrichtung, verspielter und gerne mit fruchtigen Akzenten. Besser kann man sich innerhalb dieser grundsätzlich klassischen Stilrichtung kaum ergänzen.

Und wenn das Interieur des Bareiss etwas Rückversicherndes hat, dann trifft das erst recht auf unser heutiges Menü zu – Claus-Peter Lumpp (4.v.l.; daneben Stefan Leitner) bleibt sich treu, bei den verwendeten Hauptprodukten wie auch bei der Richtung, in die er sie interpretiert. Er mag inzwischen der altgedienteste Drei-Sterne-Chef Deutschlands sein, trotzdem schmeckten wir diesmal wieder (anders als beim letzten Besuch) eine Lust an nonchalanter Kreativität, mit einer Küche, die einerseits zum Zurücklehnen und Genießen einlädt, mit den Extratellern, den subtilen Querbezügen und den kleinen Abweichungen aber auch fordert. Es gibt in Deutschland sicher "modernere" Küchen, aber nur wenige, wo man genau diese Balance so gut hinbekommt.

Jetzt müssen wir los, der blaue Himmel ist einer magischen Vorabendstimmung gewichen. Beim Essen überlegten wir, bei wem in Deutschland wir ebenfalls seit Jahren nicht mehr waren. Ein Ort in Köln fiel uns ein, ebenfalls mit französischer Küche, gerne mit Extratellern. Ein entfernter Verwandter des Bareiss, wenn man so will. Man sieht, auch wir bleiben unseren Vorlieben treu... demnächst mehr.

Kai Mihm

Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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