Restaurantkritik 27.Januar 2021

Schweizer Memorandum

Restaurantbesuche sind für uns ganzheitliche Erlebnisse, das zeigt sich im aktuellen Lockdown wieder besonders deutlich. So gerne wir die oft liebevoll konzipierten Gastroboxen auch bestellen, führen sie auch vor Augen, dass "Essengehen" eben doch viel mehr ist, als das tolle Produkt auf dem Teller. Die Magie beginnt im Grunde schon mit der Anreise, ganz egal, ob wir nun aufs Fahrrad oder ins Flugzeug steigen. Die kalte Luft eines klaren Herbstabends beim Radeln durchs heimische Stadtviertel kann eine ebenso atmosphärische Einstimmung sein wie der Blick aus dem Taxi auf die Skyline Hongkongs.

In diesem Sinne bildet unsere Fahrt zum Memories eine ziemlich gute Basis. Von Zürich geht es mit dem Auto durch malerische Heidi-Landschaften und hinein in den beschaulichen Kurort Bad Ragaz. Uns fällt dabei auch der Kontrast zu Sven Wassmers vorheriger Wirkungsstätte auf, dem Silver in Vals: Da führte die Anreise nicht durch sanft geschwungene Hügellandschaften, sondern über eine kurvige Gebirgsstraße in ein archaisch anmutendes Bergdorf.

Befand sich das dortige Restaurant in einem retro-futuristischen Designhotel, ist das Memories in einem Luxushotel alter Schule beheimatet, dem Grand Resort Bad Ragaz. Mit seiner mondänen Eleganz und der spätklassizistischen Architektur erinnert uns das Anwesen an das Beau Rivage Palace in Lausanne. Könnte es sein, dass es diese Art pittoresker Grandhotels fast nur noch in der Schweiz gibt?

Wir sind an diesem Hochsommertag extra zeitig angereist, um den Nachmittag mit ein, zwei Flaschen von der bemerkenswert fair bepreisten Weinkarte im Poolgarten zu verdösen – der Kurztrip ist eine unserer wenigen Reisen während der Öffnungsphase im Sommer 2020, da wollen wir jeden Augenblick genießen. Die Sonne scheint vom nahezu wolkenlosen Himmel, ein paar Bäume spenden Schatten; um den Pool liegen Frauen mit großen Sonnenbrillen und Männer in schneeweißen Bademänteln, im Hintergrund eine Bar und Berge. Das ganze Setting hat etwas Filmisches, wir müssen an Marcello Mastroianni und Anita Ekberg denken, an den jungen Alain Delon und den alten Hercule Poirot. Allein für solche Momente lieben wir unsere Reisen.

Gut ausgeruht (und leicht gerötet) kommen wir am frühen Abend ins Restaurant. Unsere Vorfreude ist enorm, der Appetit gewaltig. Das Interieur changiert zwischen moderner Klarheit – mit reduziert eingedeckten Tischen, schlichten Designerstühlen und skulptural anmutenden Raumteilern – und klassischer Gediegenheit – mit Marmor, Stuck und ornamentiertem Parkett. In Summe ist das eher herrschaftlich als avantgardistisch. Die komplett offene Küche mit der geschniegelten Brigade (natürlich alle mit Maske) bekommt in diesem luxuriösen Umfeld fast etwas Höfisches.

Auf Küchenchef Sven Wassmer trafen wir erstmals 2012 in London, wo er zum Kernteam von Nuno Mendes im tollen Viajante gehörte und uns beim Servieren mit deutscher Ansage überraschte. Wenig später war er bei einem unserer Cooktanks zu Gast. Inzwischen ist er längst eine eigene Größe – im Silver bescherte er uns ein unvergessliches Erlebnis. „Memories“ lautet denn auch der vielleicht etwas zu programmatische Name seines Restaurants in Bad Ragaz. Wir sind gespannt.

Zu einem Glas Champagner aus dem Hause Marguet gibt es einige Snacks: Taufrische Fingerkarotten (Pratvaler Rüebli) sind mit Sanddorn und knusperndem Hanfsamen überzogen, ein Mini-Brötchen ist mit Tatar vom Rätischen Grauvieh und gepickeltem Gemüse belegt, eine gesalzene Kohlrabirolle mit Kräutern, Sauerrahm und schwarzem Knoblauch gefüllt – das schmeckt alles sehr gut, zum Teil vielleicht etwas spröde. Als Gaumenschmeichler wirkt dagegen eine Corne-de-Gatte-Kartoffel (aus Filisur), die in Bienenwachs gegart und lediglich mit etwas Salz bestreut wurde: Die winzige Kartoffel hat eine perfekte Struktur, schnittfest und am Gaumen doch ganz sanft, ein bisschen wie ein sehr schnittfestes Stück Butter. Der intensive Kartoffelgeschmack wird durch die pointierten Salzflocken unterstrichen und gewinnt durch die feine Süße vom Wachs an Komplexität. Betörend schlicht und bezaubernd genial.

Schlicht kommt auch der erste Gang des Menüs daher: eine Schale mit Blattsalat. Allerdings sehen die Blätter so verlockend knackig aus, dass keinerlei Zweifel am zu erwartenden Hochgenuss aufkommt. Vor einigen Jahren servierte uns Mathias Dahlgren mitten im Menü ebenfalls frisch gepflückten Blattsalat, den er direkt am Tisch mit Vinaigrette vermengte. Sonst nichts. Es war grandios.

Ganz so radikal geht es bei Wassmer nicht zu, denn unter dem Salat kommen noch Erbsencrème und frische, süße Erbsen zum Vorschein, angemacht mit einer leichten, auf Dauer vielleicht etwas zu säurelastigen Sauce. Trotz dieser leichten Unwucht bleibt es ein ebenso originelles wie begeisterndes Sommergericht, ein Musterbeispiel mutiger Produktküche, die in ihrem Purismus nicht karg wirkt, sondern vollmundig-köstlich schmeckt – als hätte man die Sonne auf dem Teller.

Beim Saibling aus dem Val Lumnezia sind Güte und Garung des zarten Fischs natürlich makellos – gerade auch beim oninpräsenten Saibling durchaus keine Selbst Verständlichkeit. Reden wir aber über die Sauce, den eigentlichen Star dieses Tellers. Sie besteht aus gebranntem Sennenrahm mit Tannenöl, hat sahnige Süße und kraftvolle Würzigkeit, ist ungemein dicht und doch ganz klar im Geschmack – zum Weglöffeln gut! Auch hier werden Erinnerungen wach: Bei Jean Sulpice in Annecy gab es zur Forelle eine Kiefernsprossen-Beurre-blanc, doch während dort das Ätherische im Vordergrund stand, schmeckt Wassmers Sauce dunkler, durch den gebrannten Rahm reifer und komplexer – wie ein Tannenwald, der nach einem kräftigen Regen vor Feuchtigkeit dampft. Betörend, und zu Recht schon jetzt ein Signature Dish des noch jungen Restaurants

Nun wird es vegetarisch. Stücke von in Salzkruste gegartem Kohlrabi sitzen in einer Sauce aus mit Molke fermentiertem Tscharner Spargel, dazu ein paar Tropfen Öl von Schwarzem Johannisbeerholz und knusprige Kohlrabiblätter. Nach dem kräftigen Saibling ist diese zurückhaltende Kreation dramaturgisch genau richtig. Der milde Kohlrabi und die feinherbe Sauce bilden ein Ensemble von jener Eleganz und aromatischen Flüchtigkeit, wie wir sie lieben. Dieses so simpel anmutende Gericht erweist sich als anspruchsvoll in dem Sinne, dass es Konzentration und ein genaues Hinschmecken erfordert. Belohnt werden wir mit einem sublimen Aromenspiel zwischen hellen und dunklen Tönen, zwischen Kohl und Milchigkeit, Bitternoten und Süße. Groß.

Es folgt noch einmal Fisch. Zum Felchen vom Zugersee gibt es eine Sauerampfercrème und feine Streifen von geschnittenem Sauerampfer mit geriebenem „Schlossere“-Meerrettich. Das Filet mit seiner knuspernden, dünnen Haut ist so zart und delikat, dass der Sauerampfer – gerade auch als Salat – fast ein bisschen zu polternd daherkommt. Was uns stattdessen fehlt ist eine leichte Sauce oder ein wenig Sud, denn die Redensart „Fisch muss schwimmen“ bezieht sich für uns nicht nur auf den begleitenden Wein. Ein Klecks Sauerrahm mit Albeli-Kaviar ist an sich eine schöne, frische Beigabe, trotzdem wirkt das Ganze auf Dauer ein wenig trocken und spröde.

Bevor es zu den Fleischgängen geht, gibt es Knollensellerie, in dünne Scheiben gehobelt, sanft gegart und zu einem Halbkreis zusammengefügt. Dieses "Mille-feuille" ruht in einem ungeheuer kraftvollen Hühnerjus, der – ganz wichtig – zwar sehr dicht und intensiv, aber nicht klebrig ist. Dieses Konzentrat verbindet sich mit dem knackig-weichen Sellerie zu einem Hochgenuss aus süßlicher Erdigkeit und reinster Umami-Power. Dazu knusprig frittiere Chips aus Sellerieschalen sowie als i-Tüpfelchen Bündner Arvennadeln, die das dunkle Geschmacksbild mit leicht floralen Noten aufhellen. Kraftvoll und elegant, bezaubernd und doch ganz »gegenwärtig«.

Notabene: Ein sehr ähnliches Gericht hatten wir damals im Silver, mit Roter Bete anstelle des Selleries und Hühnerchips anstelle der Sellerieschale. Das gefiel uns wegen des typischen Rote-Bete-Geschmacks sogar noch etwas besser. Die Freude an der neuen Variante wird dadurch allerdings nicht gemindert. (Und wie wir inzwischen sahen, kommt je nach Jahreszeit auch wieder die Rote Bete zum Einsatz)

Der erste Fleischgang besteht aus Kalbsbries mit Domleschger Blumenkohl, Sauerklee und Liebstöckel – und letzterer ist das große Problem. Das Bries mag noch so gut sein, der Blumenkohl ein noch so perfekter Begleiter – doch die Penetranz des Maggikrauts in Kombination mit einer überintensiven Sauce lässt alles zu einem undifferenzierten, fast schon unangenehm streng schmeckenden Einerlei verschwimmen. Sehr schade.

Vier dünne Tranchen vom Wollschwein aus Ennetbürgern kommen mit etwas Jus und „gereiftem“ Bergkartoffelpüree auf den Tisch. Gereift heißt: Es wurde mit Koji-fermentierter Milch zubereitet, was dem Püree eine ungeahnte Geschmackstiefe verleiht. Ziemlich genial, gerade auch mit dem Topping aus fein gewürfelten, gepickelten Gurken und Petersilienöl. Ganz herrlich lässt sich das mit dem samtigem Schweinejus vermischen, der –ein typisches Merkmal dieser Küche– Kraft und Eleganz vereint. Das Fleisch ist natürlich ebenfalls sehr gut, saftig und ausdrucksstark, kann aber mit der originellen Beilage nicht ganz mithalten (und dürfte etwas wärmer sein).

„Okki“, so erläutert der Service, hieß die 12 Jahre alte Angus-Kuh, deren Fleisch den Hauptgang bildet. Es wurde gegrillt und mit Pratvaler Brokkoli sowie einer Wurzelgemüse-Hefe-Paste angerichtet. Auch diese Kreation hatten wir nahezu identisch schon im Silver, und wie dort geht es um die Würdigung des exquisit gereiften Fleischs, das von etwas Jus und der geschmeidigen Gemüsepaste dezent und somit bestens unterstützt wird. Neu ist der Brokkoli, den wir allerdings als zu intensiv gewürzt empfinden, was angesichts der Gesamtqualität jedoch kaum ins Gewicht fällt. Einmal mehr: unaufgeregt, souverän, köstlich.

Als Käsegang gibt es eine Art Sandwich aus La Bonotte Bretzeii mit kraftvoll-cremigem Hölzern Hirt Käse aus Basel und Wildem Kümmel. Der Happen ist überraschend intensiv, schmeckt deftig und würzig, nach einer Rast auf der Alm, und verlangt fast nach einem stärkenden Schnaps, …

... was uns zum Intermezzo führt, dem fassgereiften Negroni, der mit Johannisbeersorbet eine erfrischend herbe, zwischen eleganter Bitterkeit und feiner Süße oszillierende Liaison eingeht. Exzellent.

Das erste Dessert des Pâtissiers Andy Vorbusch klingt spannend: Kirsche, Kaffee-Shoyu, Sauerklee. Konkret besteht es aus Kirschkern-Eis, Gelée bzw. Konfitüre von fermentierten Kirschen, hausgemachtem Kaffee-Shoyu und Kleeblättchen – und schmecken tut es ... nun, sagen wir: „speziell“. Vor allem die fermentierte Würzsauce auf Kaffeebasis empfinden wir als nicht sehr gaumenschmeichelnd. Der Sauerklee und die fermentierten Kirschzubereitungen verstärken den sehr herben, spröden Grundgeschmack. Wir sind bekanntlich große Freunde experimenteller Desserts, aber dieses hier funktioniert nicht. Sehr schade.

Wesentlich besser gefällt uns das Dessert namens Frühsommerblüten/Pollen. Die schlichte Umschreibung ist pures Understatement, denn dahinter verbirgt sich eine vielfältige Kreation aus Honigwein-Granité, Blütencrème mit Blättern und Pollen sowie Bienenwachseis. Mit diesem frischen, leichten, angenehm floral-süßlichen und in seiner Klarheit sehr komplexen Geschmacksbild wird im Grunde ein Bogen zum Salat mit Erbsen geschlagen – auch hier haben wir den satten Sommer auf dem Teller: diesmal nicht vom Acker, sondern wie von einer bienenumschwirrten Wildblumenwiese. Herrlich.

Den Abschluss der Desserts bildet ein Dreiklang aus Aprikose, Heunougat und Mürbeteig. Wo ist der Teig?, fragen wir uns. Antwort: in der Nocke, die sich als grandioses Mürbeteig-Eis entpuppt. Flankiert und getoppt wird es von fruchtig-süßen Aprikosenstückchen und Aprikosengel, feinherber Heunougatcreme, seidiger Frischkäsemousse und einer geeisten Aprikosen-Meringue. Wir können nur staunen, wie hier ein vermeintlich vertrautes Geschmacksbild (Aprikose, Mürbeteig, Frischkäse) durch leichte Verschiebungen und die ungewohnte Darreichung plötzlich ganz neu schmeckt. Ein hervorragender Abschluss.

Zum Kaffee gibt es dann Madeleines, die entschieden brauner gebacken sein dürften – wir lieben Madeleines, aber diese gehen fast komplett zurück. Der gute, gehaltvolle Dip besteht aus Mascarpone und brauner Butter.

So geht ein verdammt starkes Menü zu Ende, mit einer Küche, die Sven Wassmers Status als treibende Kraft in der prosperierenden Schweizer High-End-Szene unterstreicht. Nicht zu vergessen die (wie schon im Silver) bemerkenswerte Weinbegleitung durch seine Partnerin Amanda Wassmer Bulgin. „Bleibt alles anders“, könnte man also sagen, denn einerseits glichen einige Kreationen jenen, die uns schon in Vals begeisterten, andererseits hat Wassmer sich noch einmal stärker konkretisiert – zumindest, wenn man unser Menü als Maßstab nimmt. Soll heißen: Der regionale Bezug, die Verwendung von fast ausschließlich Schweizer Produkten, wird im Memories wesentlich stärker in den Vordergrund gerückt.

Ist diese Selbstbeschränkung womöglich der Grund für die nicht so recht sommerlich anmutende Produktauswahl in unserem Menü? Einen klar saisonalen Bezug hatten eigentlich nur der leuchtend grüne Salat und die Desserts. Ansonsten waren die Geschmacksbilder eher dunkel – und so köstlich Knollensellerie, Kohl und eingemachte Gurken auch sind, haben sie etwas Herbstliches, gerade in Verbindung mit dichten Saucen und Pürees. Wäre es der Integrität wirklich abträglich, auch Gemüse (und Meerestiere) aus dem nahen Frankreich und Italien zu beziehen? Beim Geflügel scheint dies ja bereits der Fall zu sein. An Wassmers früheren Kreationen begeisterte uns jedenfalls gerade die Kombination aus Regionalbewusstsein und Internationalität, mit all den Widersprüchlichkeiten, die man darin sehen mag.
Dieser Kritikpunkt soll gleichwohl nicht den Blick auf die Qualitäten einer Küche verstellen, die mit ihrer süffigen Präzision das Zeug zu höchsten Weihen in den einschlägigen Guides hat. Für uns zumindest. Wir bleiben dran. Und wenn die Anreise immer eine Einstimmung ist, dann gibt es für uns kaum etwas Schöneres, als auf dem Heimweg auch über die diskutablen Facetten einer großen Küche nachzudenken – nachdenken, reflektieren, erinnern. Wir fanden den Namen „Memories“ eigentlich ein bisschen zu forciert. Am Ende hat er nun doch funktioniert …

Kai Mihm

Wein

Weinbegeleitung Memories

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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