Restaurantkritik 26.Februar 2021

Hamburger Höhenflug

Weil wir immer wieder nach unserer Einschätzung gefragt werden, eines gleich vorweg: Nein, wir werden in diesem Text nicht diskutieren, ob das Haerlin ein Kandidat für drei Sterne ist. Zweitens sind wir nicht der Michelin, und erstens zählt am Ende nur eine Frage: wie hat es uns geschmeckt? Darum wird es hier gehen – und darum sollte es auch jedem anderen Essinteressierten gehen. Immer. Wenn wir in den letzten 15 Jahren eines gelernt haben, dann dass man zuweilen das Beste verpasst, wenn man immer nur nach drei Sternen schielt.

Aber genug davon. Unser Besuch im Haerlin war im Herbst, einige Wochen vor dem zweiten Lockdown. Ein herrlicher Tag mit sonnigem Wetter, bei uns beste Stimmung und große Lust auf ein ausgiebiges Menü mit angemessenen Weinen – das sind die Voraussetzungen dieses Abends. Es könnte schlechter sein. Also Platz genommen im herrschaftlichen Speisesaal, ein geschwinder Blick in die Menükarte, und an den Service lediglich die Bitte, uns beide zur Wahl stehenden Hauptgänge in verkleinerten Portionen zu schicken. Der Champagner ist derweil auch schon im Glas, also kann es losgehen

Die ersten Snacks bestehen aus einem subtil abgeschmeckten Tartelette mit gezupftem Fleisch von Königskrabbe mit Dillblüten, sowie –als Intensitätssteigerung– einem Tapioka-Algenchip mit angenehm "pur" schmeckendem Rindertatar, getoppt mit Estragoncrème und einem Hauch Sojagelee, das zusammen mit ein paar Kresseblättchen erfrischende Würze einbringt. Das Highlight bildet allerdings der unscheinbar wirkende Kartoffelschaum im Hintergrund. Durch die Zugabe von Buttermilch erhält er eine seidige Leichtigkeit. Darunter verborgen ein Ensemble aus marinierten Gurken, Räucheraalwürfeln und Kräutervinaigrette. Alles zusammen hat durchaus "Volumen", schmeckt dank der exakten Abstimmung jedoch nicht wuchtig, sondern so klar und salzig-frisch wie eine steife Nordseebrise.

Der eigentliche Küchengruß besteht aus einer Kollektion von Kleverhof-Tomaten mit Sauerampfer und Burrataschaum. Faszinierend sind hier nicht nur die aromatischen Unterschiede der Tomatensorten, von sonnensüß bis paprikaartig-herb, sondern nicht zuletzt auch die texturellen Abstufungen, von soft bis krachend-bissfest. Die säuerliche Vinaigrette hat dabei eine unterstützende Funktion, wogegen wir das unter dem Schaum verborgene Sauerampfersorbet auf Couscous als hübsches Surplus betrachten, das es am Ende nicht wirklich gebraucht hätte: Im Mittelpunkt steht hier eine Produktschau, wie wir sie in dieser Güte hierzulande nur selten erleben.

Das Menü startet mit einem Stück Bachforelle aus dem Ilmenautal, sanft gegart und ungemein zart, umspielt von einem milden, dabei sehr aromentiefen Erdartischockensud. Im Grunde würde uns das in seiner puristischen Exquisität schon ausreichen. Was die Güte der Beigaben nicht schmälern soll: mit der Kerbelmousse (plus Forellenkaviar) lässt sich der Fisch nach persönlichem Gusto würzen, während es auf der anderen Tellerseite als etwas kräftigere Variante der Forelle ein Tatar gibt, mit Sauerrahm bedeckt, mit Quinoa-Knusper bestreut und mit etwas Bergamotte-Gel aufgefrischt; obenauf als ebenso cleveres wie subtiles i-Tüpfelchen ein paar sanft-pfeffrige Kerbelstängel. Mit einer Scheibe frischen Baguettes hätte das fast das Zeug zum eigenständigen Snack.

Weiter geht es mit einem prachtvollen Carabinero, dem man die festfleischig-strotzende Güte bereits ansieht. Das knallrote Krustentier ist mit leuchtend gelben Herz- und Miesmuscheln zu einem üppigen Kranz drapiert. Der sitzt in einem dichten Krustentierjus, dem Ingwer eine wohltuend wärmende Würze verleiht – uns wird ganz schwindelig von der subtilen Kraft und der forschen Eleganz dieses bunten Meeresfrüchte-Straußes. Ein Klacks Fenchelpüree und ein paar Tupfer Orangengelee (bei dem wir einen Hauch Vanille auszumachen glauben) unterstreichen den zwischen mediterraner Vertrautheit (Sizilien!) und hintergründiger Exotik changierenden Charakter dieser Götterspeise.

Als letzten Fischgang gibt es eine saftige Tranche vom Atlantik-Seeteufel mit Meerwasser-Beurre-blanc, pochierten Austernstücken, grünen Erbsen und –kaum zu übersehen– Imperial Kaviar. Das passt naturgemäß alles ganz hervorragend, wie aus einem Guss: Fisch, Auster und Kaviar, umspült von einer Sauce aus Meerwasser – alles schmeckt so frisch, so klar, so authentisch, dass wir uns mit einem Bissen plötzlich an der bretonischen Küste wähnen. Die Erbsen zügeln mit schöner Süßlichkeit die Intensität dieses Meeresrauschens. Allein der Geschmack von Zitronenblättern, die in der Sauce mitgekocht wurden, bringt die Harmonie des Tellers gefährlich ins Wanke. Zu Beginn noch sehr verhalten, wird er auf Dauer immer präsenter und gibt dem Ganzen etwas Parfümiert-Artifizielles. Für uns schon immer mit Thai-Küche verbunden, passt dieser Geschmack hier nicht recht ins Bild. Einfach weglassen, würden wir sagen.

Der erste Fleischgang hat Huhn zum Thema, genauer gesagt Bresse-Gauloise-Huhn aus der Zucht des humorvollen Hühner-Flüsterers Lars Odefey. Die knusprig gebratene Brust entzückt durch festes, saftiges und aromatisches Fleisch; nur fänden wir anstelle der Riegelform einen naturnäheren Zuschnitt passender. Gegrillte Steinplize und Kürbispüree sind klassische Begleiter, während der dunkle, dichte, zum Weglöffeln gute Ingwer-Limettenjus eine Brücke zu den exotischeren Komponenten schlägt. Als da wären: Sesamcrème, Tamarinden-Zitrus-Gel sowie zarte Gyoza, gefüllt mit einer kräftige Farce vom Keulenfleisch. Was vielleicht allzu vielfältig klingt, erweist sich als ebenso runde wie köstliche Sache. Alles greift ineinander, nichts wirkt forciert, im Gegenteil: für uns bildet dieses Gericht ein Paradebeispiel für die elegant in sich ruhende Küche Christoph Rüffers.

Beim Rücken vom Reh aus der Lüneburger Heide kommen plötzlich weihnachtliche Gefühle auf – was den duftenden, mit Zimt geschmorten Perlzwiebelchen geschuldet ist. Glockengeläut verdient indes vor allem das exzellente Fleisch, kernig-zart, leicht überknuspert und von einem intensiven Cassis-Jus kongenial untermalt. Eine Hefecreme wirkt gleichermaßen abfedernd und geschmacksverstärkend, während eine üppige Rehpraline mehr als nur einen kräftigen "Akzent" setzt (warum nur, fragen wir uns einmal mehr, müssen solche Pralinen immer so unglaublich heftig sein?). Zwei Pistaziencreme-Sphären passen mit ihrer Nussigkeit prima ins Geschmacksbild, erinnern entfernt auch an Marzipan – und da ist es dann wieder, das Weihnachtsfeeling. Ein bisschen früh vielleicht, aber trotzdem schön.

Das Pré-Dessert lässt uns kurz an Christian Hümbs denken, bei dem uns die Idee von Kopfsalat im Dessert erstmals begegnete. Hier nun wurden die gelben, saftigen Herzblätter mit feinwürziger Passionsfruchtvinaigrette mariniert, während die grünen Außenblätter zu einer süßlichen Sphäre verarbeitet sind. Dazu gibt es Himbeeren, als Sorbet, Gel und ganze Früchte, sowie eine Art Flan von Tonkabohne – alles zusammen schmeckt originell, schlüssig, köstlich.

Deutlich klassischer wird es beim finalen Dessert rund um Altländer Birne. Wir lieben Birne, diese so vielseitig kombinierbare Frucht mit der eleganten Süße, die immer irgendwie nach adeliger Landpartie schmeckt. Die pochierten Schnitze sitzen mit ihrem Sud in einem Ring aus Buchweizencèreme mit geeister Haselnuss (für den allergieplagten Erzähler natürlich ohne), dazu knuspernde Zuckerblätter, Birnenragout und ein formidables Buchweizeneis. Das könnte nun trotz des modischen Buchweizen ein wenig "gediegen" schmecken, wäre das nicht das i-Tüpfelchen in Gestalt herb-floraler Fichtensprossencrème, die dem Ganzen den nötigen Schuss Originalität verleiht.

Zum Abschluss noch einige Petits Fours, die wir zwischen der Deko fast suchen müssen – aber es lohnt, vor allem die warmen Canelés sind so köstlich, außen kross karamellisiert und innen weich, dass wir uns ein paar Nachliefern lassen.

Nach dem Essen sitzen wir noch ziemlich lange in der Wohnhalle des Vier Jahreszeiten, mit einer Flasche Nuit Saint Georges 2015 von Clos de l'Arlot und jeder Menge Gesprächsstoff über das Menü des Abends. Was hat das Spaß gemacht! Diese Art souveräner, unaufgeregter Höchstleistungsküche gibt es viel zu selten. In Deutschland. Zumindest ist das unser Gefühl. Im Haerlin muss niemand mehr etwas beweisen, es wird aber auch nicht in Routine erstarrt. Christoph Rüffer zaubert blitzsaubere, im Kern "klassische" Spitzenküche, die immer wieder mit dem gewissen Etwas überrascht. Und das mit Produkten, die in den besten Fällen Weltklasse erreichen. Zutiefst befriedigend. Wer fragt da noch nach den Guide-Bewertungen? Wir sind in Hamburg, da gibt es einen Dreisterner. Und es gibt das Haerlin. 

Kai Mihm

Wein

Weinbegeleitung im Haerlin bei Christoph Rüffer in Hamburg

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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