Restaurantkritik 31.August 2020

Die Gemüseflüsterer

Das Essigbrätlein lässt sich mit Fug und Recht als legendäres Restaurant bezeichnen. Ein winziges Lokal in einem historischen Gebäude in Nürnberg, dessen Küchenchefs die Öffentlichkeit nicht suchen, über deren wegweisende Gewürz- und Gemüseküche dennoch jeder spricht; ein zweifach besterntes Restaurant auch, das lange Jahre nicht einmal eine Webseite hatte – und wo man trotzdem oft nur schwer einen Tisch bekommt. Bemerkenswert immer wieder, dass das Essigbrätlein der einzige deutsche Zweisterner mit einer Doppelspitze in der Küche sein dürfte: Andree Köthe und Yves Ollech.

Kurzum: Einer unserer ersten Restaurantbesuche der Post-Corona-Ära führt uns hierher. Am Abend vorher haben wir bei Jan Hartwig im Atelier gespeist – keine niedrige Messlatte. Zusätzliche Spannung stellt sich bei uns durch die Konstellation aus begeistertem Brätlein-Wiederholungstäter und freudig-aufgeregtem Erstlingsbesucher (dem Verfasser dieser Zeilen) ein. Es ist ja immer so eine Sache: Schwärmt man jemandem von etwas vor oder bekommt Lobeshymnen über einen Ort zu hören, kann das die Erwartungen ins Unerreichbare schrauben.

Das Klingeln an der altertümlichen Tür, der unprätentiös freundliche Empfang, der wohnzimmerhaft kleine Gastraum mit seiner rustikal-holzgetäfelten, aber trotzdem eleganten Anmutung – all das wirkt bereits so ungemein individuell und erzeugt eine so persönliche Atmosphäre, es ist bewegend. Normalerweise sitzt man hier sehr eng, doch als Folge der Corona-Vorgaben wurden mehrere Tische entfernt. Eine Einbuße bedeutet das nicht, wie wir auf Nachfrage erfahren, denn im Obergeschoss wurde kurzerhand ein zweiter Gastraum eingerichtet.

Wir nehmen im Erdgeschoss Platz, wo an diesem Mittwochmittag alle Plätze belegt sind. Einziger Wermutstropfen ist die Tatsache, dass im Essigbrätlein mittags maximal 5 Gänge zu haben sind, statt der 7 Gänge am Abend. Da hilft kein Bitten und Betteln. Die Begründung, dass dies die harmonischen Abläufe in der Küche stören würde, ist allerdings so nachvollziehbar wie sympathisch: Küchenkarma kommt vor Extrawürsten. Schnell noch ein Blick in die berühmt gut bestückte (und vergleichsweise fair bepreiste) Weinkarte, und es kann losgehen.

Die erste Einstimmung besteht aus einem Löffel mit Rote-Bete-Saft. Aber nicht irgendein Saft: Die Rote Bete wurde eingefroren und wieder aufgetaut, wodurch sich die Zellstruktur verändert und die Knolle sich wie ein Schwamm ausdrücken lässt. Diese ungemein rein schmeckende Essenz wird von einem Stückchen Schnittlauch gewürzt, ein winziger Tick Reiscrème gibt Volumen, etwas Zitronenschale rundet das Ganze wunderbar ätherisch ab. Einer solch unscheinbaren Petitesse eine solche Komplexität abzuringen, braucht einen echten Meister. Allein dafür hat die Anreise sich gelohnt – und das Essigbrätlein hat nicht nur einen glücklichen alten Fan, sondern schon jetzt auch einen neuen.

Das zweite Amuse besteht aus einem Rotkohlkopf – und zwar jener winzige Nach-Trieb, der sich bildet, nachdem der eigentliche Kohlkopf geerntet wurde und der Strunk noch im Boden bleibt. Oder wie Andree Köthe es ausdrückt: "Die Pflanze macht ja immer weiter..." Das knackige Rotkohlköpfchen ist mit einer Reduktion vom Saft fermentierter Himbeeren glasiert, darauf ein Pulver von getrockneten fermentierten Himbeeren. Dieses Spiel aus Süße und Herbheit, aus den leicht dumpfen Kohlaromen und der dezenten Fruchtigkeit der fermentierten Himbeeren ist einmal mehr von großer Delikatesse – und Einzigartigkeit.

Bevor das Menü startet, gibt es noch ein kleines Stück gedämpftes Brot, welches bei 100°C und 100 % Feuchtigkeit im Dampfgarer gebacken wurde. Dazu Butter aus fermentiertem Mais und Pulver von getrocknetem, fermentiertem Mais. Die wolkenzarte Krume ist von einer seltenen Perfektion, und durch die sanfte Zubereitung kommt der Eigengeschmack des Getreides auf sehr reine Weise zur Geltung. Die Butter hat eine elegante Süße, das Pulver bringt einen Hauch Textur. Zum Glück gibt es nur ein kleines Stück, sonst würden wir uns an diesem Butterbrot wahrscheinlich satt essen.

Nun startet das Menü, mit Bauerngurken, die drei Stunden im Dehydrator getrocknet wurden. Diese Behandlung verdichtet den Eigengeschmack der Gurken und ergibt ein kerniges, an sehr saftiges Fleisch erinnerndes Mundgefühl. Gewürzt sind die Stücke mit etwas Zitronenabrieb und Kümmelbutter, am Tisch wird leuchtend grüner Kerbelsaft angegossen: sanft schärfend, erfrischend, mit dem typischem, an Anis erinnernden Geschmack. Der Clou ist allerdings eine Crème aus Duftreis, abgeschmeckt mit Wacholder, die das Ganze leicht exotisch-süßlich macht und die grüne Aromenwelt mit samtiger Mundfülle abfedert. Alles zusammen schmeckt wie nichts, was wir kennen. Eine verblüffend großartige Komposition, und das mit nur drei Hauptkomponenten.

Auch der zweite Gang bleibt vegetarisch. Es gibt Brokkolistiele, oder genauer gesagt: jene Triebe, die die Pflanze entweder nach dem Beernten oder manchmal auch als Seitentriebe bildet (also ähnlich wie oben beim Rotkohl). Sie sind butterzart, mit einem ungemein delikaten Geschmack; rohe und gedämpfte Erbsen geben mit ihrem Biss und der milden Süße vorzügliche Begleiter ab – fürwahr ein königliches Gemüse. Eine mild-nussige Pistaziencrème, Lauch-Vinaigrette mit Öl von Strahlenloser Kamille, zarte Käuterstiele (Dill, Koriander, Kerbel) sowie ein paar Blütenköpfe von Strahlenloser Kamille erweitern das aromatische Spektrum auf dezente, aber pointierte Weise. Ein in seinem filigranen Purismus und seiner hintergründigen Komplexität durchaus anspruchsvoller Gang – und genau deshalb so verdammt gut.

Der nächste Gang steht unter dem rätselhaften Namen "Gemüse ohne Minze" auf der Karte. Die Idee dabei: Vor dem eigentlichen Teller wird ein Minzblatt serviert, welches der Gast durchkauen soll, um so seinen Mundraum leicht zu parfümieren. Beim eigentlichen Gericht wird dann keine Minze mehr verwendet. Klingt wie ein Gimmick, erweist sich jedoch als eine verblüffend wirkungsvolle Methode, um den Gaumen einerseits zu reinigen und zugleich mit einer ganz dezenten, frischen Aromatik zu grundieren.

Auf dem Teller gibt es verschiedene Gemüse: geschmorte Bohnen, gekochten und rohen Fenchel, gedämpfte Zwiebeln sowie ein Stück vom "Kohlrabikopf" mit Schale; außerdem etwas frisches Fenchelgrün. Allein der Eigengeschmack der unterschiedlich gegarten Gemüse ist umwerfend – weich und knackig, frisch und süffig, dazu eine Bohnenvinaigrette. Das ist Sommer auf dem Teller! Den Clou bildet einmal mehr eine Crème: diesmal aus getrockneten und fermentierten, anschließend erneut getrockneten Erbsen. Das ist umso bemerkenswerter, da wir Gemüsecrèmes normalerweise nicht besonders mögen. Doch selten (vielleicht nie) haben wir sie so perfekt abgeschmeckt (mild!) und integriert erlebt, wie heute hier. Sie schmecken nicht dominant, sondern bilden eine zarte Grundierung für die Hauptprodukte.
Das Resultat ist hier ein Ensemble, das in seiner vermeintlichen Schlichtheit so besonders und so gut schmeckt, dass uns fast die Tränen kommen. Eine Götterspeise.

Als der wunderbare Maître-Sommelier Ivan Jakir als Weinbegleitung ein Glas Ridge Zinfandel einschenkt, wird uns schmerzlich bewusst, dass wir bereits beim Hauptgang angekommen sind. Es gibt Lammhüfte, sanft gegart und anschließend gegrillt. Dazu eine Crème aus Spargel, der zuerst gekocht und dann frittiert wurde, mit etwas Waldmeisterbutter. Das war's. Und das hat es in sich! Das Lammfleisch gehört zum besten, das wir je verkosten durften. Vielleicht ist es sogar das Allerbeste. Perfekt rosa, zart und doch mit Biss, von umwerfendem Eigengeschmack, mit perfekt integrierten Grillaromen. Zum Augenschließen gut.

Allein die Crème funktioniert diesmal nicht so gut. Sie ist uns zu fett und üppig, zudem recht süßlich, was mit dem kraftvollen Fleisch weder harmoniert noch einen spannungsvollen Kontrast erzeugt. Selbst in minimaler Dosierung finden wir sie eher störend. Also lassen wir sie nahezu vollständig auf dem Teller.

Aber das spielt angesichts der spektakulären Lammhüfte gar keine Rolle – und den köstlichen Fettrand heben wir uns natürlich bis zum Schluss auf. Puristischer geht es nicht. Und besser auch nicht.

Das Dessert bringt Stachelbeeren und Kräuter zusammen. Neben Stachelbeeren ohne Schale ist da natürlich noch mehr unter dem Minz- und Apfelschaum versteckt: nämlich marinierte Gurken und ein Erbseneis, hergestellt aus den Erbsenschalen. Dazu eine Kräutermischung aus Thai-Basilikum, Sauerklee, Estragon, Liebstöckelstiele und Eisbegonienblüten. Mehr noch als die Stachelbeeren gefällt uns hier die Kombination von Erbseneis und Kräutern, von Komponenten also, die man für gewöhnlich kaum in der Pâtisserie antrifft (wenn man nicht gerade bei Christian Hümbs is(s)t). Jeder Löffel schmeckt anders, weil immer wieder ein anderes Kraut einen Akzent setzt. So ist diese leichte, frische Nachspeise ganz im Einklang mit dem Rest des Menüs: auf den ersten Blick vermeintlich simpel und sehr "grün", doch am Gaumen vielschichtig, spannend und enorm wohlschmeckend. Ein Sommerdessert par excellence.

Ein Klassiker: die Schokoladentäfelchen mit Beeren und Nüssen als Petits Fours. Ein paar davon bekommen wir zum Kaffee noch weg ...

Es lässt sich nicht zurückhaltender sagen: Das war ein bewusstseinserweiterndes Essen. Andree Köthe (rechts) und Yves Ollech (links) zeigen, was jenseits der üblichen Ideen und Zutaten möglich ist. Ihre Kreationen sind speziell, ja, sowohl von den Produkten als auch bei den Ideen. Sie sind in ihrer Subtilität, ihrer Sanftheit auch fordernd – absolut! Doch im gleichen Moment schmecken die Gerichte auf sehr zugängliche Weise einfach verdammt gut.

Wenn über die neue deutsche Regionalküche gesprochen wird, über die Hinwendung zu vergessenen Gemüsesorten, ungewöhnlichen Kräutern und einer modernen Form von Purismus auf den Tellern, gerät häufig in Vergessenheit, dass dieser Stil in Nürnberg bereits kultiviert wurde, als im Rest des Landes noch die internationale Tupfenküche den Ton angab. Köthe und Ollech setzen nicht auf Kraftmeierei, sondern auf Subtilität, sie kultivieren eine Verdichtung, die nicht wuchtig ist, sondern aromatisch transparent bleibt. Oder anders formuliert: Die Küche im Essigbrätlein sucht bis heute ihresgleichen.

Man schmeckt und spürt, dass die natur- und regionalverbundene Philosophie in diesem Restaurant nicht nur gekocht, sondern auch gelebt wird. Und gerade dieser Hauch ganzheitlicher E(s)soterik macht ein Essen dort zu einem so besonderen Erlebnis. Noch benommen von dieser Erfahrung, schlendern wir Richtung Hauptbahnhof. Es ist sonnig und heiß, die Stadt kommt uns fast unwirklich vor. Wir halten kurz inne, schauen uns um, denken an die letzten Stunden zurück. Und müssen lächeln ...

Fazit

Ein Restaurant wie kein zweites, mit einem Menü, das noch immer Maßstäbe setzt.

Text: Kai Mihm

Wein

Weinbegleitung im Essigbrätlein, Nürnberg

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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