Restaurantkritik  3.Mai 2020

Kulinarisches Hochamt

Nach drei Tagen Hongkong steht ein kleiner Ausflug an: Macau, eine knappe Speedbootstunde vom Hafen in Kowloon entfernt. Bis 1999 war die Stadt eine portugiesische Kolonie; heute ist sie eine Sonderverwaltungszone, und es hat durchaus etwas Skurriles, wenn man an der Südküste Chinas von Hinweisschildern in portugiesischer Sprache begrüßt wird. Auch sonst spielt die Stadtgeschichte eine große Rolle, Macau ist reich an Sehenswürdigkeiten aus der Kolonialzeit. Die Haupterwerbsquellen sind allerdings das legale Glücksspiel und der damit einhergehende Tourismus aus Hongkong und Festlandchina. Tatsächlich sehen wir während unseres Aufenthalts praktisch keine westlichen Touristen. Die Stadt wirkt damit wesentlich exotischer als Hongkong, der reizvolle Kulturschock fällt entsprechend stärker aus. Vom ersten Moment ist das hier nochmal eine ganz andere Welt.

Wegen der vielen Glücksspielpaläste wird Macau auch als "Las Vegas des Ostens" bezeichnet. Neben zahllosen Casino-Hotels einheimischer Mogule gibt es ein MGM-Grand, ein Venetian, ein Sands und gleich zwei Wynn-Resorts. Und ähnlich wie in westlichen Zockerparadiesen leisten die Häuser sich mondäne Restaurants. Wir wohnen im bizarr-futuristischen Grand Lisboa Hotel, das zu einer Art Wahrzeichen der Stadt avancierte und aus der Ferne wie ein gigantischer "Transformer" aussieht. Unsere Wahl hat einen Grund, denn im Grand Lisboa finden sich gleich zwei Drei-Sterne-Restaurants: das kantonesische The Eight und das Robuchon au Dôme. Letzteres ist am heutigen Ankunftsabend unser Ziel.

Vorher wollen wir noch ein wenig am Pool entspannen, auch wenn dieser Bereich eher klein, schmucklos und etwas stiefmütterlich im Windschatten des Gebäudes versteckt ist. Kein Vergleich zu den uferlosen Außenbereichen der Luxushotels in Las Vegas oder Monaco. Außer ein paar Familien mit kleineren Kindern hat sich denn auch niemand hierher verirrt. In anderen Hotels beobachten wir ähnliche Situationen. Lektion Nummer 1 in Sachen chinesischer Glücksspielmentalität: Die Menschen kommen nach Macau, um zu spielen, nicht, um zu schwimmen. (Lektion Nummer 2 folgt später am Abend: Es gibt praktisch keine Bars in den Casinos – die Menschen kommen zum Spielen, nicht zum Saufen.)

Das Robuchon au Dôme befindet sich im 43. Stockwerk des Gebäudes, mit herrlichem Blick über die Stadt. Allerdings bietet das Restaurant selbst genug zu sehen. In der Mitte des Raumes thront leicht erhöht ein Pianist an einem Flügel, über ihm ein gewaltiger Kronleuchter aus Swarovski-Kristallglas, der sich wie eine glitzernde Fontäne über dutzende Meter aus der Dachkuppel (dem "Dôme") hinunter in den Gastraum erstreckt. Auf den ersten Blick zählen wir sechs Servierwagen, tatsächlich sind es acht, einer davon nur für die Butterauswahl. Das kiloschwere Weinbuch umfasst 17.000 Positionen. Die Maßlosigkeit dieses Ortes ist von aberwitziger Unglaublichkeit. Aber hey, bitte, wir sind im Las Vegas Chinas, da gibt es nur zwei Möglichkeiten: sich auf derlei Extravaganzen einzulassen oder sofort wieder abzureisen.

Wir bleiben mit Freude. Es ist Jahre her, seit wir zuletzt in einem Robuchon-Restaurant gegessen haben. Um die Sache nicht unnötig zu komplizieren, bestellen wir "Le Menu Signature" plus einen Extragang von der Karte.

Mit dem Studium der Weinkarte lässt sich mehr als nur ein Abend füllen.

Zum Aperitif – Krug im offenen Ausschank vom Wagen – kommt das Amuse auf den Tisch: knusprige Gamberoni-Cannelloni mit Tuile von ihrem Rogen. In einer hauchdünnen, ultrazarten Teigkruste steckt ein saftig-knackiger, leicht mediterran gewürzter Gambero. Die seidenfeinen Katafi-Fäden und die zarte Tuile erweitern subtil das Knusperspektrum. Kein bisschen Frittiergeschmack, nur die pure Köstlichkeit. Was für ein Start.


Nun rollt der Brotwagen an. Und der Butterwagen, natürlich.

Der erste Gang: Impérial-Kaviar und Königskrabben mit Krustentiergelee und leichter Blumenkohlcrème – ein Robuchon-Klassiker, auf den wir uns schon vor der Reise freuten. Das fein geschnittene, dezent gewürzte Krabbenfleisch und der Kaviar sind ein match made in heaven. Subtil und elegant. Nimmt man etwas von dem intensiv nach Meer und Krustentieren schmeckenden Gelee dazu, wird das Ganze plötzlich wie von einem Turbo nach vorn katapultiert – es wäre sogar zu intensiv, hielte nicht die zarte Blumenkohlcrème das Ensemble in Zaum. Alles greift ineinander, nichts dürfte fehlen. Ein Traum. Einziger Kritikpunkt: Die Portion ist größer und sättigender, als sie aussieht, etwas weniger wäre hier mehr.

Dafür hätten es von den Comté-Ravioli mit Pfifferlingen gerne noch ein paar mehr sein dürfen. Teigtaschen mit halbflüssiger Füllung sind seit Heinz Becks berühmten Fagottelli eine Art Standard in vielen Spitzenrestaurants – zu Recht, auch hier. Wenn die sämige Sauce aus dem Teigmantel platzt und sich im Mund verteilt, ist das immer wieder betörend. Dieser Effekt, den die sogenannte Molekularküche mit Sphären erzielt, gelingt hier durch traditionelles Küchenhandwerk. Robuchons Ravioli sitzen in einem leichten, heißen (!) Comté-Elixier mit würzigen Pfifferlingen und etwas Kerbel für Schärfe. Ganz wichtig: die streichholzdünnen, superkrossen Bacon-Streifen für einen Hauch Röstaromatik und Textur. Exakt austarierte Wohlfühlspitzenküche. Kein Tröpfchen bleibt auf dem Teller...

Nun kommt der Zusatzgang, ein Scampi-Raviolo mit geschmortem Wirsing. Unsere Befürchtung, dass zweimal Ravioli hintereinander dramaturgisch kontraproduktiv sein könnte, verfliegt mit der ersten Gabel. Wir schneiden die pralle Kugel an, beißen durch den al dente gegarten Teig auf ein saftiges Stück Kaisergranat – ein Gänsehautmoment. Dann nehmen wir die Sauce wahr: Foie gras – nochmal Gänsehaut. Dazwischen der Trüffel, erdig und reich, zugleich eine Brücke zum geschmorten Wirsing, der das üppige Geschmacksbild spannungsvoll aufbricht. Die reine Wonne.

Weiter im regulären Menü, mit gebratenem Hummer nach Bouillabaisse-Art mit Sauce Rouille und Erbsen. Wir haben uns bekanntlich von Hummer-Verächtern zu Hummer-Fans gewandelt. Und bei Gerichten wie diesem wissen wir auch, warum. Die Qualität des Krustentiers ist phänomenal, saftig und zart, leicht süßlich und delikat nach Meer schmeckend. Darunter die dichte Sauce, wie eine heiße Meeresessenz, angefüllt mit jungen, süßen Erbsen – Wiese und Meer. Am Tellerrand die würzige Rouille mit etwas Piment d'Espelette ... Marseille in Macau. Groß.

Mit dem nächsten Gang geht es zurück nach Asien: Eine kleine, dicke Tranche Steinköhler wurde in süßer Sojasauce karamellisiert und sitzt auf einem Spiegel aus geheimnisvoll schwarzbraun glänzender Malabar-Pfeffersauce. Zusammen entwickelt das eine Kraft zwischen dunkler Süße und fruchtiger Schärfe, wie eine französische Hommage an die typische Charakteristik der Kanton-Küche. Dazu etwas Pak Choi mit seiner leicht senfartigen Aromatik sowie ein ätherischer Kokosschaum als Grundierung – mehr eine flüchtige Ahnung von Kokos. Das schmeckt alles so gut, dass wir uns einmal mehr auch eine größere Portion hätten vorstellen können. Der alte Trick: immer ein winziges bisschen zu wenig geben, damit das Verlangen nach mehr zurückbleibt.

Etwas wehmütig stellen wir fest, dass nun schon der Hauptgang kommt. Das Châteaubriand à la Rossini wird am Tisch tranchiert und angerichtet. Das Fleisch ist mit Foie gras gebunden, was uns an den Steinbutt mit Foie im Écriture erinnert. Zu guter letzt wird etwas Vintage-Portweinjus aufgeträufelt. Den bräuchte es gar nicht mal, denn zwischen dem überraschend geschmacksstarken Rinderfilet und dem elastischen Schmelz der Gänseleber entwickelt sich ein tolles Textur- und Aromenspiel. Die Idee des Rossini besteht ja nicht zuletzt darin, dem mageren Filet das nötige Fett zu geben.
Separat eine Pilzconsommée (leider etwas lauwarm), perfekt soufflierte Kartoffeln und vor allem: Le Kartoffelpüree! Solch meisterhaft umgesetzte Klassiker muss man schätzen, denn sie sind auf den Karten viel zu selten geworden.

Nun rollt der Käsewagen an, nein: gleich zwei davon. Eine kleine Auswahl von Maître Antony, danke, aber das muss heute nicht sein.

Das Dessert, Rose mit Granita von Dassai 23 Sake, sieht zauberhaft aus. Die Rose besteht aus einer mit Litschi aromatisierten Mascarponecrème, deren äußerste Schicht mit Himbeersaft eingefärbt ist. Klingt toll. Geschmacklich bleibt es flach. Himbeere schmecken wir gar nicht, Litschi nur als süßlichen Hauch. Das Fett der Mascarpone legt sich wie ein Film auf die Zunge, dagegen kommt auch die dünne Granita nicht an. Den edlen Dassei 23 hätten wir lieber pur getrunken ... Nach dem großartigen Menü ist dieses Dessert ein echter Downer.

Erst beim Abräumen erfahren wir von unserem Kellner, dass die Rose sowieso nur das Pré-Dessert war ... Es wird nochmal ernst: Unter dem Motto "La Symphonie des Douceurs" rollt der Dessertwagen an! Die Qual der Wahl beginnt.

Wir starten mit Vanille-Mille-Feuilles, Baba au rhum und Oeuf á la neige. Herausragend, alles. Wir möchten die Qualität durch Vergleiche verdeutlichen: Der Baba steht dem Ducasse-Klassiker in nichts nach, das Mille-Feuilles war auch bei Alain Passard nicht besser, und das Schnee-Ei mit Vanillesauce zieht (fast) mit Jean-François Pièges berühmter Île Flottante gleich.

Und weil das so gut war, muss ein Nachschlag sein: Kakao und Kaffee. Die Kakaobohne erweist sich als eine Art Tiramisu, wolkenzart und federleicht, daneben eine Kaffee-Schoko-Schnitte, auch diese exzellent, kräftig nach Kaffee schmeckend – und ein perfekter Abschluss zum Espresso.

Moment, sagten wir Abschluss? Der Petit-Fours-Wagen rollt an ... flankiert vom Sorbetwagen. Okay, ein bisschen Eis und ein paar Pralinen gehen immer. Und ein doppelter Verdauungsschnaps, bitte!

Was soll man da noch sagen? Unsere Erwartungen an dieses Restaurant unter der Leitung von Küchenchef Julien Tongourian (2.v.l.) waren durchaus hoch, sehr hoch sogar – und wurden übertroffen. Im Menü stehen zahlreiche Robuchon-Klassiker, die wir jedoch nie zuvor in solcher Qualität und Perfektion genießen durften. Sei es der Scampi-Raviolo, die Hummer-Bouillabaisse oder das Châteaubriand: erstklassige Produkte + makelloses Handwerk = betörender Wohlgeschmack. Von den Desserts wollen wir gar nicht erst anfangen. Der Service lässig, smart und charmant, wie aus dem Bilderbuch. Hier gelingt das Bravourstück, den minutiös kalibrierten Mechanismen eines Spitzenrestaurants die Anmutung lässiger Spontaneität zu geben.

Erst am Ende des Abends wird uns bewusst, dass unser Besuch auf den 1. Todestag Joël Robuchons fällt, den 6. August – nochmal ein Gänsehautmoment. Manchmal kommen die Dinge schicksalhaft zusammen. Da erlauben wir uns das Pathos, das Robuchon au Dôme als Kronjuwel im Imperium des Jahrhundertkochs zu bezeichnen. Das Interieur mag hart an der Karikatur zum neureichen "Gourmettempel" vorbeischrammen. Aber auf den Tellern feiert dieser "Dôme" ein kulinarisches Hochamt. Service und Stimmung vollenden den Eindruck eines waschechten 'Grand Restaurant', fast pariserischer als jene in Paris. Darauf einen Drink an der Bar – wenn wir denn eine finden ...

Fazit

Immer wieder hörten wir, dass das Robuchon au Dôme das beste Restaurant des verstorbenen Jahrhundertkochs sei – nun können wir sagen: Es stimmt. Der Fine Dining-Endgegner.

Weine

Wein im 'Robuchon au Dôme' in Macau

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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