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Restaurantkritik 21.August 2019

Into the Abysse

Mit japanischer Küche ist das in unseren Breiten immer noch so eine Sache. Klar, es gibt inzwischen hoch gelobte und hoch dekorierte Lokale, aber wirklich durchgesetzt hat sich diese Küche nicht. Wir zählen aktuell kaum ein Dutzend besternter japanischer Restaurants in ganz Europa, wobei London mit dem dreifach besternten The Araki und dem zweifach besternten Umu die Pole Position einnimmt. Auf Platz zwei liegt Paris, mit drei Einsternern: dem Jin, dem Sushi B und, als Neuzugang im Guide 2019, dem L'Abysse; der Tokioter Großmeister Toru Okuda verlor seinen Pariser Stern bereits vor einigen Jahren.

Das L'Abysse nimmt dabei eine Sonderstellung ein, da es von einem Franzosen eröffnet wurde, nämlich keinem geringeren als Yannick Alléno. Wir hätten es nicht gedacht, aber nach eigenem Bekunden reist der Mann mehrmals pro Jahr nach Japan, weil er Küche und Kultur des Landes so sehr schätzt. Seinen Kreationen im dreifach besternten Pavillon Ledoyen merkt man das nicht unbedingt an ...

Aber genau dort eröffnete Alleno im Erdgeschoss das L'Abysse, ein Sushi-Lokal mit höchsten Ambitionen, für das er eigens den Sushi-Meister Yasunari Okazaki aus Tokio importierte. Das mussten wir natürlich ausprobieren. Der Name "Abysse" ist der französischen Begriff für Tiefsee, wobei auch biblische Mythologie und das altgriechische "ábussos" – die unergründliche, geheimnisvolle Tiefe – mitschwingen. Allein diese Assoziationen beschwören in unserer Vorstellung schon eine gewisse Magie herauf, noch bevor wir das Lokal überhaupt betreten haben ...

Dabei sieht man es quasi schon von draußen! Vom Eingang des Pavillon-Gebäudes erstreckt sich über die Decke des Flurs bis in den Gastraum des L'Abysse hinein ein gewaltiges Werk des großartigen japanischen Künstlers Tadashi Kawamata. Es trägt den Titel "Nest" und besteht aus tausenden Essstäbchen, die zu einer fragilen und zugleich kraftvollen, eigentümlich organisch anmutenden Struktur verwoben sind. Beeindruckend, irritierend und auf seltsame Weise kontemplativ.

Der Gastraum selbst ist zweigeteilt: Auf der einen Seite eine sehr authentische Sushi-Theke mit 12 Plätzen, auf der anderen vor rotgepolsterten Sitzbänken eine Reihe von Tischen, die zumindest mittags blank bleiben. Die Wände zieren surreale Arbeiten des New Yorker Keramikkünstlers William Coggin. Insgesamt wirkt die Atmosphäre im L'Abysse in ihrer beinahe musealen Strenge ultramodern, beinahe futuristisch – und auf jeden Fall höchst ungewöhnlich. Bitte mehr von sowas!

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Das Omakase-Menü beginnt mit einem Mais-Chawanmushi mit Roter Bete – frisch und fein, salzig und süß, ganz leicht erdig. Sehr schön.

Als nächstes gibt es einen Würfel von Artischockentofu mit geräuchertem Hechtrogen und Aonori-Tempura. Der delikate Artischockengeschmack wird durch den perfekt dosierten, rauchigen Rogen sehr schön nach vorne gebracht, das knusprige, kein bisschen fettige Algentempura bringt Crunch und eine ganz leicht meerige Note ein. Sehr fein auch diese Kleinigkeit.

Etwas gehaltvoller wird es bei der Weißkohl-Nori-Rolle mit Bouchot-Muscheln und leichter Brühe. Diese ungewöhnliche Kombi schmeckt frisch und saftig, ein bisschen süßsäuerlich vom Kohl, ein bisschen meerig von Nori und Muscheln. Sehr klar, sehr schlüssig. Eine interkulturelle Note bekommt diese Kreation auch dadurch, dass japanische Züchter sich seit ein paar Jahren immer stärker für die berühmten Bouchot-Muscheln interessieren.

Sehr gut auch die Belon-Auster mit Sushireis-Crème und Sake-Gelee – eine Art abstrahierte Version eines Austern-Nigiri mit Sake. Salzig-jodig, durch die Reiscrème geschmeidig und voll, durch das Sake-Gelee frisch und mit einer leichten Fermentationsnote. Sehr außergewöhnlich und sehr klasse.

Jetzt geht es richtig los, mit Sashimi von Ikejime-Seebarsch und Chu-Toro. Beide Fischteile sind von herausragender Qualität und köstlichem Geschmack. Spannend ist der texturelle Kontrast zwischen dem fettschmelzenden Thunfischbauch und dem etwas festeren Seebarsch. Exzellent.

Das erste Nigiri kommt mit Petersfisch. Der Fisch ist sehr gut, aber das Mengenverhältnis zum Reis stimmt für uns nicht ganz. Auch ist der Reis deutlich zu warm.

Mit dem Tintenfisch-Nigiri nimmt Meister Okazaki Fahrt auf: Die Proportionen sind perfekt, der Pulpo ist exakt geschnitten, der Reis hat nur mehr eine leichte Wärme (das ging schnell!); wichtig auch der Gelee-Tropfen mit Tintenfischtinte, der das Aroma delikat verstärkt.

Es wird noch besser: Der Beryx-Nigiri (Glänzender Schleimkopf) mit knusprigen Schuppen bringt neben der tollen Fischqualität auch ein schönes Texturspiel zwischen bissfestem Reis, seidigem Fisch und krossen Schuppen an den Gaumen.

Ebenfalls exzellent: das Nigiri von Gelbschwanz-Makrele ...

... gefolgt von Garnelen-Nigiri mit etwas festerer Struktur und angenehmem Biss (ein Highlight!) ...

... und einem Akami-Nigiri, dem Rücken-Rippenstück des Blauflossen-Thunfischs. Auch dieses großartig.

Beim Nigiri von Makrele mit Sesam stimmen die Proportionen nicht ganz, es hat zu viel Reis, welcher hier auch wieder etwas zu warm wirkt.

Die zarte Sesamnote leitet aber zum nächsten Gang über, ...

... denn als eine Art Abwechslung sieht das Menü nun Sesam-Royale und Blauen Hummer mit Vanille vor. Der Sesam-Flan ist ungeheuer zart, leicht und delikat, etwas Sojasauce bringt eine willkommene salzige Frische ins Spiel. Der Hummer – ein mit dem Löffel zu essendes Nigiri, wenn man so will – ist von hoher Güte, und seine natürliche Süße passt prima zu der des (leicht gesäuerten) Reises. Nur von der Vanille schmecken wir nichts.

Weiter geht's mit Nigiri von leicht gegrillter Meerbarbe - zart und doch fest, schmelzend, aber mit Struktur. Eines der besten Stücke dieses Mittags.

Beim Wagyu-Tatar-Gunkan verbindet sich das fette Fleisch aufs Köstlichste mit dem eher lockeren Reis und der meerigen Intensität der leicht krossen Algenhülle.

Das üppige O-Toro-Nigiri wurde ganz kurz geflämmt, wodurch kleine Teile des Fetts ihre Struktur verändern – was das Geschmackserlebnis viel komplexer macht. Großartig. Der umstrittene Großmeister Jiro ist ja bekanntlich der Meinung, dass wahre Kenner den mageren Thunfisch bevorzugen, weil er anspruchsvoller schmeckt; O-Toro sei dagegen eher plump. Mag sein, aber er sollte einmal diese Zubereitung probieren.

Wir schweben zu diesem Zeitpunkt längst im siebten Himmel. Wie lange ist es her, seit wir Sushi von solcher Qualität genießen durften!

Grandios dann auch das Temaki von O-Toro und Seeigel: jodig-salzig-fett. Die Essenz des Meeres in einem Happen ...

... und als Variation dieses Themas folgt ein Gunkan mit Osietra-Kaviar und Thunfisch. Vielleicht nicht 100 % japanisch, aber 100 % fantastisch.

Als Abschluss des Nigiri-Reigens gibt es ein Exemplar mit Akami und Alba-Trüffel. Hier stimmt alles, von der Beschaffenheit des Reises über die Fischqualität bis zur Güte des ätherisch duftenden Trüffels. Wundervoll, wie das erdig-moschusartige Aroma des Trüffels mit dem delikaten Geschmack des Thuns zusammengeht – Land und Meer. Das Verspeisen dieses prachtvollen Stücks jagt uns Schauer der Wonne über den Rücken. Ein Götterspeisen-Nigiri, keine Frage.

Bei den Desserts geht es los mit einem Riegel aus Schokolade, Butternut-Kürbis, schwarzem Sesam und Nori-Chips. Das schmeckt durch die Algen im ersten Moment irritierend, aber nicht schlecht. Beim zweiten Bissen sind wir dann erstaunt, wie gut Schokolade und Nori zusammengehen. Trotzdem betrachten wir diese Kreation eher als eine Art Überleitung vom Sushi zu den Süßspeisen.

Deutlicher "Dessert" ist das Shiso-"Tempura" – ein schockgefrostetes Shiso-Blatt, so knusprig wie ein frittiertes Exemplar, ein durchaus erstaunlicher Effekt. Dazu im Schälchen eine süßliche Emulsion und eine Art süße Sphäre von Selleriewurzel. Sehr gut.

Die Birnenchips mit schwarzer Sesampraline und Ingwer-Birnen-Emulsion sind enorm filigran gearbeitet und changieren auch geschmacklich zwischen französischer und japanischer Pâtisseriekunst. Große Klasse.

Der traditionelle japanische Käsekuchen ist saftiger und leichter, als er hier vielleicht aussieht. Trotzdem kann er uns nicht recht begeistern.

Nun kommt das Highlight der Süßspeisen: Eine gefüllte Kastanie, die am Tresen mit japanischem Whisky flambiert wird. Im Innern findet sich eine Zusammenstellung aus Kastanienpüree, Pflaumenpaste, Kastanienbaumblättern und Essiggelee. Die Komponenten klingen schwer und mächtig, tatsächlich aber ist diese Mischung so delikat und geradezu erfrischend, dass wir kaum genug davon bekommen können. Durch das Flambieren hat auch die Füllung auf wundersame Weise einen leicht rauchigen Whiskygeschmack bekommen. Es sind nur drei, vier kleine Löffel, aber diese sind traumhaft gut, in ihrer filigranen Vernetzung herbstlicher Aromen - ein Dessert wie ein Haiku.

Zum Abschluss kommt eine "Meteor" genannte Praline auf den Tresen: Ein Schokoladen-Bambus-Baiser mit Yuzu-Eis und Kombava-Pulver. Außen knusprig, innen frisch und schmelzend – schönes Texturspiel, toller Geschmack.

Wir sind wie benommen vor Glückseligkeit, als wir am späten Nachmittag den Pavillon Ledoyen verlassen. Wir hatten hohe Erwartungen, und sie wurden noch übertroffen. Die Frage, wie "authentisch japanisch" das Omakase im L'Abysse ist, spielt dabei nicht die geringste Rolle. Küchenchef Yasunari Okazaki (links) und Yannick Alléno (der an diesem Tag anwesend war) fackeln hier ein Feuerwerk sondergleichen ab.

Hier und da gab es kleinere Schwächen (Reistemperatur, Proportionen), und auch die Fischqualitäten reichen vielleicht nicht ganz an Japan heran. Aber das Genusserlebnis ist um ein Vielfaches größer, als etwa die Turbomast bei Jiro Ono.

Doch wie gesagt greifen solche Vergleiche zu kurz. Gerade weil es im L'Abysse immer wieder zu einer sanften Vermählung japanischer und französischer Stilmittel kommt, ist die Köstlichkeit so umfassend und abwechslungsreich. Bizarr finden wir vielmehr, dass einerseits europäische Köche Begeisterung ernten, wenn sie japanische/asiatische Einflüsse aufgreifen, umgekehrt jedoch speziell bei japanischer Küche stets eine Art kulinarischer "Reinheit" erwartet wird. Eine westlich-romantisierende, letztlich beschränkte Perspektive.

Nicht unerwähnt bleiben darf beim Gesamterlebnis der lässig-charmante Service unter Mâitre Sarah Fresco und die exzellente Weinbegleitung von Sommelier Remi Merceron – auf unseren expliziten Wunsch hin ganz ohne Sake.

Das L'Abysse ist noch recht jung, trotzdem finden wir es mit einem Stern sehr vorsichtig bewertet. Aber das Team wird sich damit sowieso kaum zufriedengeben. Der Ort hat Magie, das Menü Poesie. Paris trifft Tokio – Sayonara, Chef Alléno! À bientôt, Okazaki-san!

FAZIT

Japanischer Purismus trifft auf französische Kreativität – das L'Abysse gehört ab sofort zu unseren Lieblingsadressen in Paris.

Text: Kai Mihm

Weine

Weinauswahl im Restaurant L'Abysse in Paris

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