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Restaurantkritik 31.Januar 2020

Schönschrift: Note 1

Es ist unser erster Abend in Hongkong - und die Ankunft in einer fernen Metropole hat immer etwas wunderbar Aufregendes. Wo geht's lang? Wo muss man hin? Wie macht man dies und das jetzt am besten? Denn man kann sich vorher noch so glänzend eingelesen haben, vor Ort ist dann immer alles irgendwie doch ein bisschen anders. Daran ändern auch Wikitravel und Google-Streetview nichts. Gerade das ist das Tolle an solchen Reisen ins Unbekannte.

Adrenalin und Vorfreude halten uns wach, auch nach einem elfeinhalbstündigen Flug - oder war es diesmal der Komfort, den wir auf der Anreise genießen konnten? Denn dank einer Kooperation mit Swiss Air konnten wir First Class reisen. Und ja, das hat was: Überaus freundlicher Empfang an Bord, guter Champagner, 5-Gang-Menü, bemerkenswerte Weinauswahl, viel Platz, Entertainment und vor allem: Ein frisch bezogenes Bett samt Pyjama, sodass wir angenehm ausgeruht in Hongkong landen.

Mit dem Expresszug in die City, wo uns beim Verlassen des Bahnhofs die unfassbar feuchte Hitze wie ein Schlag trifft - wir haben August, den heißesten Monat des Jahres, mit 90 % Leuchtfeuchtigkeit. Schnell ins Hotel, zu Fuß, der Weg ist doch nicht weit. Und bereits die Impressionen auf dieser kurzen Strecke sind enorm vielfältig. Das Licht, die Gerüche, der Habitus der Menschen. Das sind Eindrücke, die bleiben. Nach knapp zehn Minuten kommen wir an - und sind klatschnass. Schnell in die Dusche, umziehen und ab ins Restaurant, der Magen meldet sich schon wieder.

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Das Écriture befindet sich zwar nur ein paar Blocks weiter, aber wir wissen nun, dass das nicht zu unterschätzen ist. Möglichst gemächlich schlendern wir die trubelige Queen's Road entlang - bloß nicht ins Schwitzen geraten! Halbwegs trocken erreichen wir schließlich unser Ziel, Hausnummer 80. Ein Aufzug bringt uns in die 27. Etage, denn wie so manches Hongkonger Spitzenrestaurant versteckt sich das Écriture in einem Wolkenkratzer (3 Etagen tiefer gibt es noch das inzwischen zweifach besternte Arbor).

Oben angekommen, empfängt uns ein Interieur zwischen kühlem Futurismus und fernöstlicher Eleganz. Schwarz, weiß und Kupfer geben den Ton an, ansonsten karge Linien, viele Fenster und wenig Deko. Im Hintergrund die (natürlich) halboffene Küche. Gefällt uns alles gut, und bei vollbesetztem Restaurant kommt auch eine behagliche Stimmung auf.

Küchenchef Maxime Gilbert hat in seiner französischen Heimat vor allem prägende Jahre in diversen Restaurants von Yannick Alléno verbracht, unter anderem als Souschef im damaligen Le Meurice. Von 2013 bis 2016 prägte er als Chef de Cuisine unter Richard Ekkebus die Küche des Amber. 2018 eröffnete Gilbert schließlich das Écriture - und bekam auf Anhieb zwei Sterne.

Eine solche Küche gilt es umfangreich kennenzulernen ... Im Gespräch mit der charmanten, humorvoll-schlagfertigen und - wie sich im Lauf des Abends herausstellen wird - kulinarisch sehr weitgereisten Restaurantleiterin besprechen wir das Menü. Am Ende einigen wir uns auf eine erweitere Version des Degustationsmenüs. Sehr schön. Jetzt aber los ...

Als erster Apéro wird eine Pomme Dauphine mit Wasabi-Crème und Royal Caviar Club gereicht. Das ist angenehm heiß und schön knusprig, aber geschmacklich kein nachhallender Knaller.

Bei den nächsten zwei Happen wird es schon deutlich besser: eine ungeheuer zart gearbeitete Spirale aus Kartoffelchips, gefüllt mit Koriander-Hummus - das ist so zerbrechlich, dass es uns tatsächlich nicht gelingt, es heil zum Mund zu führen. Das meinen wir als Kompliment. Filigran und würzig, eine sehr feine Kombi.

Der zweite Snack besteht aus einem Buchweizencracker, auf dem eine Blumenkohlmousse ruht, die wiederum in dunkle Seetang-Butter gehüllt ist, obenauf ein Confit von Whitebait (gebratene Minifische). Das schmeckt knusprig und weich, sanft von der Mousse und kraftvoll von Seetang und Fischchen. Hervorragend.

Der erste Gang leuchtet herrlich grün und kupfern - Tranchen von rohem Iwashi (japanische Sardine) thronen auf einem warmen Ragout aus grünen Erbsen, Gurken und Holunder. Der Fisch ist von exzellenter Qualität und harmoniert auf Grund seines Fettgehalts ganz wunderbar mit der würzigen Süße der knackigen Erbsen (auch diese von außerordentlicher Güte) und der Frische der Gurke. Der Clou ist der Holunder, der dem Ganzen mit seiner fruchtig-feinherben Aromatik eine ungeahnte Tiefe verleiht. Ein Bravourstück, und wenn es einen Kritikpunkt gibt, dann höchstens, dass es für ein so großes Menü ein klein wenig zu viel ist - es gibt Schlimmeres ...

Wie ein Teller voll Sommer sieht an diesem Augustabend das nächste Gericht aus: rohe Amaebi (Spot-Garnelen aus Japan) mit Tomate, Mandeln und Staudensellerie sowie Dashi-Gelee aus Fischfond und Kombu. Die wundervollen, roh belassenen Garnelen bilden mit den fruchtigen Tomaten und den knackigen Mandelsplittern ein herrliches Duo - das durch den Dashi-Gelee vom Mediterranen ganz sanft ins Japanische verschoben wird. Ungeheuer delikat.

Bereits optisch sehr ansprechend sind die Kohlrabi-Tortellini, gefüllt mit Kabupüree und grünen Erdbeeren aus der Provence. Das klingt ungewöhnlich, erweist sich jedoch als sehr harmonischer Dreiklang zwischen warmen Kohlaromen und sanfter Säuerlichkeit von Erdbeeren und japanische Kabu-Rübe. Die mildwürzige Sauce von roter Paprika klinkt sich perfekt ein, und die krosse Chrysanthemenblüte mit Geranienöl bringt vor allem Textur, untermalt das Ganze aber auch mit dezenten blumigen Noten. Wow!

Für den nächsten Gang wird am Tisch ein goldbraun-krosses Teigpäckchen aufgeschnitten - darin eine perfekt gegarte Jakobsmuschel aus Hokkaido mit schwarzem Trüffel. Allein die Produktgüte ist atemberaubend. Dazu ein samtiges Selleriepüree und eine Art Beurre blanc auf Rübchenbasis - so köstlich, dass wir fast die ganze Kasserolle auslöffeln. Alles zusammen ist klassische Harmonie in Vollendung.

Nun wird eine Tarte mit Kaviar präsentiert - ziemlich üppig (und Gold gehört in Hongkong einfach immer dazu). Sie wird halbiert ...

... und sieht so gleich nochmal verlockender aus! Denn unter dem Kaviar verbergen sich topfrische Seeigelzungen. Kaviar plus Seeigel plus Mürbeteig, da kann eigentlich nichts schiefgehen. Allerdings schmeckt der Teig durch das Buchweizenmehl so intensiv, dass er zu dominieren droht. Also dosieren wir sehr vorsichtig - und schon passt das ganz wunderbar. Ach ja, die Sauce: eine klassische Beurre blanc, schlichtweg perfekt. Was für ein herrlich dekadenter Teller.

Nicht ganz so spektakulär fällt der Blaue Hummer aus der Bretagne aus. Er wird mit Champignon-duxelles, Lachsrogen, Kohlrabi und Schalentiersauce serviert. Auch hier ist die Produktqualität über jeden Zweifel erhaben, der Hummer ist zart und bemerkenswert aromatisch. Mit den Beilagen und der Sauce schmeckt das so süffig, wie es aussieht - sehr gut, aber nicht so atemberaubend wie die vorherigen Gänge.

Besser gefällt uns das À-part zum Hummer: Serviert werden die Scheren in Kohlrabi-Extraktion mit Baerii 1er Cru Kaviar. Das ist puristisch, konzentriert und rein - und so schmeckt es auch. Exzellent.

Am Tisch wird der nächste Gang zubereitet: Akamutsu, der edelste und köstlichste japanische Seebarsch, wird mit Algen aus der Bretagne, Eisenkraut und Sake über erhitzten Steinen gedämpft - für exakt drei Minuten. Auf dem Teller wird lediglich noch "Fischmilch" angegossen: eine Sauce aus leicht gebundenem Akamutsu-Fond mit einem Hauch Zitrone. Ein Geniestreich. Besser kann man diesen fettreichen Fisch - in Japan auch "weißer Toro" genannt - nicht inszenieren. Ach, was sagen wir da: Ein besseres Fischgereicht haben wir überhaupt kaum je gegessen, Punkt. Das funktioniert natürlich nur bei allerbester Qualität des Produkts. Und nur Banausen würden daraus einen Streberteller basteln.

Sollte jetzt nicht mal langsam ein Downer kommen? Nein. Denn auch der Steinbutt mit pochierter Foie gras ist umwerfend gut. Gilbert pochiert die Leber zunächst in Dashi, wodurch ihr Geschmack ein wenig an Ankimo erinnert, eine Zubereitung aus Seeteuffeleber. Er hüllt Fisch und Foie in Nori-Seetang, gibt weiße Misopaste, Limettenabrieb und Dashi-Bouillon dazu - fertig. Der erste Bissen jagt uns eine Gänsehaut über den Rücken ... Der leichte Widerstand des Fischs, der Schmelz der Leber, diese ideale Balance der Aromen und Texturen. Das ist nicht nur ein wunderschönes Gericht in Yin-Yang-Ästhetik, sondern vor allem ein geschmackliches Meisterwerk in franko-japanischer Fusion.

Nun wird die Bresse-Poularde des Hauptgangs präsentiert - da läuft uns trotz einsetzender Sättigung wieder das Wasser im Mund zusammen.

Zunächst gibt es die Brust mit Hühnerjus, Selleriecrème, Babyfenchel und Meerestrauben. Unter der Haut hat eine Mischung Semmelbröseln und Kräuterbutter der Poularde mächtig Wumms verpasst. Das Fleisch selbst ist unglaublich zart, saftig und voller Eigengeschmack. Dazu gefallen uns vor allem die knackigen Gemüsestreifen und als kontrastierender Akzent die Meeresträubchen.

Das Keulenfleisch wird in dünnen Scheiben auf duftendem japanischem Reis serviert. Köstlich auch das, noch aromatischer und spannender als die Brust, aber wir sind jetzt einfach satt.

Trotzdem ist die Euphorie angesichts dieses sensationellen Menüs so groß, dass wir das Ende hinauszögern wollen. Also bestellen wir nach einer kleinen Verschnaufpause noch einen Hauptgang zum Teilen: A5 Wagyu Striploin aus Miyazaki mit pochierten Unagi, Beluga-Kaviar und einer Scheibe Kombu-jime vom Wagyu, dazu eine Sauce von geröstetem Mais und Rinder-Beurre-blanc. Müssen wir nach dieser Beschreibung wirklich noch erwähnen, wie grandios es geschmeckt hat? So dicht, kraftvoll, üppig, durch den Kaviar jedoch frisch und nicht zu schwer. Das sind diese Kreationen, die sio simpel und schlüssig wirken und trotzdem so oft plump daneben gehen. Hier nicht.

Jetzt sind wir wirklich reif für Süßes. Den Anfang machen Pfirsichschnitze unter einer Algen-Zucker-Kruste mit Quarkparfait und Pfirsichkompott. Herrlich erfrischend, mit dezenter, animierender Säure, die intensiven Pfirsichstücke mit schönem Biss. Trotz der Zuckerkruste wirkt es nicht zu süß, sondern bekommt durch die Algen einen ganz leichten Hauch Würzigkeit. Exzellent.

Zum Abschluss ein französischer Klassiker: Kirsch-Tarte-Tatin mit frischen Mandeln und Mandeleis. Ein solches Dessert würde sich in Deutschland wohl kein Zweisterner zu servieren trauen. Leider. Denn wenn das so gut gemacht ist, wie hier, dann ist es aller Ehren wert. Zugegeben: Vielleicht funktioniert dieser Klassik-Abschluss auch deshalb so gut, weil das ganze Menü so abwechslungsreich, modern und perfekt abgestimmt war. So oder so: Wir genießen die warme Tarte bis zum letzten Krümel.

Auf die Petits Fours verzichten wir natürlich auch nicht: frische Melone aus Shizuoka, Schokotarte mit Cognac-Schokoladenganache und Kouign-Amann mit saurer Sahne. Alles sehr gut.

Was für ein Erlebnis! Wir können es selbst kaum fassen. Mit einer guten Performance haben wir ja gerechnet – aber nicht mit einer solchen Abfolge begeisternder Gerichte. Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass wir keine einzige Götterspeise ausriefen. Der Grund ist simpel: Hier handelte sich um ein Götterspeisenmenü! Es stachen weniger einzelne Kreationen heraus, sondern dieses Menü war mehr als die Summe seiner Teile. Alles griff perfekt ineinander. Und selbst gewisse Produktwiederholungen (etwa Kohlrabi) fielen überhaupt nicht negativ auf, im Gegenteil. Es gab auch viel Kaviar, durchaus. Doch selten haben wir dieses Produkt so stimmig integriert erlebt, wie hier. Luxus ohne Protz. So muss es sein.

Besondere Erwähnung verdient der smarte Service, und hier neben der eingangs schon erwähnten Restaurantleiterin vor allem der wunderbar unprätentiöse französische Sommelier Vincent Vallin. Mit Charme und Witz vermittelte er ein wenig Hintergrundwissen, ohne in schlaumeiernde Vorträge zu verfallen.

Als wir um Mitternacht freudetrunken aus dem Fahrstuhl stolpern, hat es kaum abgekühlt. Gemächlich, ganz gemächlich steuern wir in der Hitze der Nacht eine Speakeasy-Bar an, die dieser modischen Bezeichnung tatsächlich alle Ehre macht: Wir haben unsere liebe Mühe, den unscheinbaren Kellereingang in einer dunklen Seitengasse zu finden. Wir sind die einzigen Europäer, und bei ein paar Drinks lassen wir den Abend Revue passieren. Wie ein Traum kommt uns das alles vor. Einen besseren Start für unseren Trip können wir uns nicht vorstellen. Und apropos speakeasy: Beim Michelin dürfte das letzte Wort in Sachen Écriture noch nicht gesprochen sein.

Fazit

Köstlich, kreativ und nicht verkopft. Eine bessere Fusion japanischer und französischer Küche können wir uns kaum vorstellen.

Text: Kai Mihm

Weine

Die Weinauswahl im Restaurant Écriture in Hongkong

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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