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Restaurantkritik 22.April 2020

Ganz oben auf Schwarzenstein

Es ist schon interessant, wie die Wahrnehmung sich verändert. Als Nils Henkel vor gut drei Jahren die Küchenleitung auf Burg Schwarzenstein übernahm, war er noch der "vormalige Küchenchef vom Schlosshotel Lerbach". Und heute? Verbindet man mit dem Namen Nils Henkel so untrennbar die Burg Schwarzenstein, als wäre es nie anders gewesen. Das soll die enorm wichtige Zeit in Lerbach keineswegs schmälern: Insgesamt 17 Jahre war Nils Henkel im dortigen Gourmetrestaurant tätig, sieben davon als alleinverantwortlicher Küchenchef und davor zusammen mit Dieter Müller. So beeindruckend das ist und so bedeutsam diese Jahre zweifellos waren: Mit beachtlichem Tempo hat Nils Henkel die Burg Schwarzenstein zu seinem Refugium gemacht

Nun waren wir drei Jahre nicht da, unser Erstbesuch im Februar 2017 fand wenige Wochen nach Henkels Antritt statt. Schon damals waren wir ziemlich beeindruckt, wie schnell das übliche Eingrooven offenbar funktioniert hatte und in welch kurzer Zeit ein Topniveau erreicht wurde. Jetzt sind wir wieder hier – und freuen uns schonmal, dass sich an dem schönen Team aus der lässigen Maître Marina Saldaña Alonso und Sommelier Michel Fouquet nichts geändert hat. Dafür hat sich räumlich etwas getan: Das Gourmetrestaurant nimmt nun den größeren Bereich des gläsernen Pavillons ein (vorher war dort ein Grill-Restaurant). Das gefällt uns auch deshalb viel besser, weil die durchgehende Fensterfront einen herrlichen Blick bis hinunter zum Rhein freigibt. Noch toller dürfte es auf der herrlichen Terrasse sein, für die es aber an diesem Mittag trotz strahlenden Sonnenscheins leider noch zu kühl ist.

So oder so, es ist schön, wieder hier zu sein. Unsere Wahl fällt auf das Menü "Fauna", bei zwei Gängen im gemischten Doppel mit Kreationen des vegetarischen "Flora"-Menüs.

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Zum Aperitif wird schonmal üppig aufgetischt (von oben links im Uhrzeigersinn). Ein Rindertartar mit Oktopus und Mojo schmeckt an sich sehr gut, da exzellent gewürzt und schön austariert zwischen Berg und Meer, nur der Tapioka-Cracker ist etwas dominant. Direkt nebenan funktioniert das Prinzip "weiche Kugel auf krossem Grund" sehr viel besser: Die Praline von Feldsalat mit Kaviar ist federleicht, aber trotzdem würzig von der Nussigkeit des Feldsalats und dem sanft-jodigen Kaviar – knuspernd aufgefrischt von einem ätherisch leichten Limonenbaiser. Handfester wird es beim butterzarten Schweinebauch in einem Sud mit Peperoni und Koriander. Das geröstete Fleisch bringt mächtig Umami-Power und wird durch den leicht fruchtig anmutenden, angenehm nachschärfenden Sud regelrecht beflügelt. Große Klasse. Nicht weniger gut gefällt uns die geschäumte Gazpacho Andaluz mit Königskrabbe und Jalapeño, die sich am Gaumen wie die Quintessenz des andalusischen Kaltschalenklassikers entfaltet, ebenfalls ganz leicht nachschärfend. Die Königskrabbe ist eine veredelnde Einlage, aber fürs Gelingen gar nicht mal entscheidend.

Das war ein starker Auftakt, bei dem die sonst übliche Bezeichnung als "Apero-Snacks" definitiv zu kurz greift.

Das eigentliche Amuse, Makrele "Escabeche" mit Sesam, Aubergine, Ingwer und Cashew, variiert einen uns wohlbekannten Klassiker aus Henkels Repertoire, nämlich die "Makrele Marrakesch mit Aubergine und Kichererbsen". Die Variation hier ist reduzierter, aber kaum weniger köstlich – wundervoll changieren die Aromen zwischen Nordafrika und Südspanien. Dieses vollmundige und zugleich so delikate Gericht können wir uns gut auch als vollwertigen Menügang vorstellen, und nur haarscharf schrammt es an der Götterspeise vorbei.

Gang Nummer Eins: Es gibt Kingfish. Eine exzellent gewürzte Ceviche wird von Staudensellerie und Grapefruit begleitet. Der Sellerie findet sich in diversen Zubereitungen auf dem Teller, was nicht nur texturell bedeutsam ist, sondern vor allem auch zu erstaunlich unterschiedlichen Ausprägungen seines typischen Geschmacks führt – von mild und fast fruchtig bis zu herb und leicht scharf. Es ist für die Menge an Fisch nur ein bisschen sehr viel vom Sellerie.
Dann ist da noch eine kurz und kräftig angeröstete Tranche vom Kingfisch, die nicht nur durch den leichten Temperaturkontrast Spannung bringt, sondern auch ein Justieren der Papillen auf den puren Geschmack des Fischs ermöglicht. Dieser Kniff bringt auch die Ceviche nochmal ganz anders und intensiver zur Geltung. Trotz der Sellerie-Überdosis ist das großes Kino.

Wir bleiben im Wasser. Der Zander "Ikejime" ist für sich probiert bereits von atemberaubender Qualität. Der Geschmack ist so rein und klar wie das Schneeweiß des Fleischs; die krosse Haut erweitert das Spektrum um Textur und Röstnoten. Zander wird traditionell ja gerne mit relativ intensiven Beigaben kombiniert. So auch hier: Henkel setzt ihn auf hauchdünne Kalbskopfscheiben, gibt cremige Kalbskopfgraupen, eine Rotweinreduktion und Sauerklee dazu – ein Ensemble von bestechender Harmonie, das sich mit jeder Gabel immer mehr zu einem ungeheuer eleganten Kraftpaket verdichtet.

Das Hauptprodukt des nächsten Gangs hatten wir lange nicht auf dem Teller: Froschschenkel. Selbst in Frankreich wüssten wir nicht, wann uns diese umstrittene Delikatesse zuletzt begegnete. Nils Henkel versichert uns, dass die Tiere bei ihm nicht aus grausamer Quäl-Zucht stammen. Beruhigend.
Er bereitet die Mini-Keulchen recht klassisch in einer dünnen Panade mit Petersilie zu. Das Fleisch erinnert geschmacklich an Hühnchen, ist saftig und sehr zart – ein bisschen wie beste Sot-l'y-laisse. Dazu passt dann auch der kräftige Brathähnchensud, den wir durchaus auch pur auslöffeln würden. Das i-Tüpfelchen ist ein gerösteter Zwiebelring, weil er die aromatische Dichte des Suds und des Fleischs verstärkt, aber auch einen Tick Süße ins Spiel bringt.
Ob es nun wirklich Froschschenkel sein müssen, darüber diskutieren wir später noch. In diesem Moment aber ist das Ganze einfach der pure Genuss.

Der alternative Gang aus dem Flora-Menü kombiniert Mais, Vogelmiere, Mohnschmelze und Butterbrösel. Das klingt ein bisschen süß und sieht auch ein bisschen nach modernem Dessert aus. Doch weit gefehlt. Der Mais ist verblüffenderweise nur minimal süß, und das auf eine gemüsige Weise, wie man es etwa auch von Karotten kennt. Die Vogelmiere, als Kraut und Gel, unterstreicht diesen Eindruck mit ihrem nussigen, an rohen Babymais erinnernden Geschmack – eine tolle Idee. Auch der Mohn bekommt in diesem Kontext eine überraschend herzhafte Note. Mit den kräftigen Grillaromen und einigen Stücken von gepickeltem Babymais schmeckt das alles wie die verfeinerte Version von BBQ-Mais – mit der obligatorischen Butter in Gestalt knuspriger Butterbrösel. Exzellent.

Vom American BBQ geht's an die griechische Küste: Eine Rote Garnele von außerordentlicher Güte sowie diverse, teils gegrillte Stücke von butterzarten Calamares werden von griechischem Salat flankiert. Der besteht unter anderem aus gegrillten Paprikaröllchen, gehäuteter Kirschtomate, Gurkenkugeln und etwas Zwiebel, klassisch gewürzt mit Oregano. Dazu Schafsjoghurt und ein sensationeller Sud von Tomaten und Paprika. Wir stellen eine gemischte Gabel zusammen, probieren – und sind hin und weg! Nein, wir hören jetzt nicht die Gischt des griechischen Meeres, und wir sehen auch keine Sirtaki-Tänzer am inneren Auge vorbeihüpfen – ganz im Gegenteil sind wir begeistert, mit welcher Finesse hier derlei assoziative Klischees abgestreift werden. Dieser griechische Salat mit Meeresfrüchten ist so nah am Original und doch ganz anders. Es schmeckt rauchig und herb, süßlich, würzig und frisch, hat Biss und Schmelz. Ein solcher Teller verdient die ganze Aufmerksamkeit, weil er nur dann seine köstliche Bandbreite entfalten kann, am Gaumen wie im Kopf. Unsere stärkste Griechenland-Assoziation lautet denn auch: Das ist eine Götterspeise!

Der Hauptgang sieht sehr ansprechend aus: ein stattliches Filet vom Rehbock, dazu verschiedene Pilze, Sonnenblumenwurzel, Cassis sowie ein mit  Wacholderessig aromatisierter Jus. Das schmeckt nicht schlecht, speziell das Fleisch ist in jeder Hinsicht von exzellenter Qualität. Doch im Vergleich mit allen Gängen davor bleibt die Komposition seltsam unentschlossen. Irgendwie sitzt das Gericht zwischen den Stühlen: Einerseits fehlt der Clou einer wirklich modernen Interpretation, andererseits hat der Teller nicht die wohlige Süffigkeit eines klassischen Rehrücken-Hauptgangs.

Diese wohlige Süffigkeit bringt der alternative "Flora"-Hauptgang umso mehr mit: Für den Sellerie-Sandwich wurde eine Sellerieknolle in Salzteig gegart und zwischen zwei Weißbrotscheiben knusprig gebraten. Obenauf Eiweißperlen, krosses Eiweiß, Trüffelwürfelchen und Selleriesamen, dazu ein formidabler Trüffeljus (natürlich auf Gemüsebasis) und ein Klecks samtigen Selleriepürees. Müssen wir hier noch viele Worte verlieren? Sellerie plus Trüffel plus Ei: Das geht immer – und es wäre fast zu einfach, wenn es durch die originelle Darreichung nicht so unverbraucht schmecken würde. Das buttrige Brot knuspert, ein paar knackige Pfifferlinge bringen feine Nussigkeit, und Stücke von confiertem Staudensellerie erweitern das Spektrum des Selleriegeschmacks. Jede Gabel changiert zwischen Erdigkeit und herzhaft-süßlichen Noten, immer ein wenig anders, aber stets von purer Vollmundigkeit.

Bei den Desserts fahren wir ebenfalls zweigleisig. Einmal gibt es einen Riegel von 70%iger Cru-Virunga-Schokolade mit Himbeeren, Paprika und Lavendel. Das schmeckt in seiner Klarheit ganz großartig. Alles greift ineinander, von der edelbitteren Schokolade über die feinherbe Aromatik des Paprikasorbets bis zu den Himbeeren, deren Moschusnote perfekt an den Lavendel andockt. Besonders gut gefällt uns, dass die Beeren nicht (nur) in verarbeiteter Form auf den Teller kommen, sondern auch als ganze Früchte (und nicht nur ein Alibi-Einzelstück). Das funktioniert natürlich nur bei erstklassiger Produktqualität so schön. In Summe ist dieses Dessert vergleichsweise klassisch – und darin mehr als makellos.

Experimenteller wird es bei der Kombi aus Erdnuss, Blumenkohl, Couscous und Sanddorn. Im Zentrum steht bzw. liegt ein halbierter Ring aus Erdnusscrème und Caramelia-Schokolade mit Piment d'Espelette. Dazu gibt es eine Vielzahl von Blumenkohl-, Sanddorn- und Erdnusszubereitungen, zum Beispiel hauchdünne, geröstete Blumenkohlscheiben, Couscous mit Blumenkohl und Erdnüssen, Sanddornsorbet, gesalzenes Erdnuss-Toffee-Eis sowie Sanddorn-Gel mit Karamell und Piment d'Espelette ... Es würde zu weit führen, hier wirklich alles aufzuzählen. Das Verblüffende: Am Ende schaukelt es sich auf eine sehr intensive Mischung aus Erdnuss, Karamell und Sanddorn runter. Die aufwändigen Variationen haben nicht die erwartete differenzierende Wirkung. Der Blumenkohl, insbesondere die gerösteten Scheiben, grätscht spannend dazwischen, aber in Summe schmeckt es bei weitem nicht so vielschichtig, wie wir es erwarteten. Es ist gut, ja. Aber es las sich aufregend wild.

Die sehr guten Petits Fours wollen wir nicht vorenthalten (von hinten links um Uhrzeigersinn): Gestockter Sauerrahm, Limone und Rote Johannisbeere; Caramac, Karamellschokolade und Salzkaramell; Fruchtgummi aus Pfirsich und Holunderblüte; Perillasorbet, Ananas, Langpfeffer und Mango; Macaron aus Koriander und Kokosnuss.

Die Sonne strahlt noch über dem Rheingau, als wir unseren Kaffee nehmen –  und der goldene Glanz des Lichts passt zu unserer Stimmung, als wir den Mittag Revue passieren lassen. Dieses Menü war so gut und so rund, wie wir es selten erleben. Okay, der Hauptgang und ein Dessert waren nicht ganz auf unserer Linie. Aber wen stört das schon, wenn ein Menü solche Glücklichmacher wie den Kingfisch, den gegrillten Mais, den griechischen Meeresfrüchtesalat und den getrüffelten Sellerie bereithält?

Nils Henkel gelingt die Gratwanderung zwischen durchdachter Komplexität und purer Köstlichkeit – oder sollten wir es vielleicht besser umgekehrt formulieren: Man schmeckt die pure Köstlichkeit und bemerkt ganz automatisch, wie durchdacht und komplex die Gerichte sind. So muss es sein. Meist sind sie dabei eher hintergründig komponiert als mit voller Kraft voraus. Das kann zu einer Unterschätzung führen. Uns jedoch ist ein solch leiserer Stil im Zweifelsfall lieber – ein Stil, der gewissermaßen den Reiz der Flüchtigkeit von Geschmackserlebnissen zum Thema macht.  

Nun sind wir zwar (leider) nicht allzu oft im Rheingau unterwegs, aber Nils Henkels Küche kennen wir seit vielen Jahren ziemlich gut. Und wir wagen zu behaupten, dass er nie besser war. Der Rest ist Geschichte.

Fazit

Der Ausblick, die Stimmung – und das Essen! Ohne Nils Henkel wäre das kulinarische Rheingau nicht halb so lohnend.

Text: Kai Mihm

Wein

Weinbegleitung auf 'Burg Schwarzenstein', Geisenheim

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Michel Fouquet

1. Anzahl der Positionen
Ca. 350

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Da wir in einer Weingegend sind, ist es natürlich der Rheingau.

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
Preiswert: Der Sauvignon Blanc vom Weingut Gerhard kostet 50€. Die teuerste Flasche ist der Schloss Johannisberg aus dem Jahr 1945 für 1.400€.

4. Die ungewöhnlichste Rarität?
1979 Crozes Hermitage von Grippat.

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Wir verkaufen sehr viel 2017 Berg Roseneck vom Weingut Leitz.

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Chardonnay Ars Magna 2015 von Omina Romana in Italien.

7. Ihr Lieblingswein? Weshalb?
Das ist der 2015er Les Folastries Gewürztraminer vom Weingut Josmayer. Vielseitig, floral und fruchtig, dezente süße. Er funktioniert auch wunderbar zum Essen.

8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden?
Die Weinreise nur aus Süßweinen war schon sehr ungewöhnlich.

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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