Make the Gast great again
Sucht man im Kanon der französischen Hochküche nach Chefs und deren Restaurants, die die gehobene Kulinarik Frankreichs und darüber hinaus über Jahrzehnte geprägt haben, landet man ziemlich schnell beim Namen Haeberlin und der Auberge de l’Ill. Das Haus im pittoresken Illhaeusern im Elsass ist seit 1882 in Familienbesitz, damals gekauft von Paul Haeberlins Großeltern, und wurde bis zum zweiten Weltkrieg als kleines Kaffee und Gasthaus unter dem Namen L’Arbre Vert (der grüne Baum) betrieben. Das L’Arbre Vert wurde während des Krieges zerstört, um danach von der Familie Haeberlin komplett neu aufgebaut und unter dem bis heute gängigen Namen L’Auberge de l’Ill wieder eröffnet zu werden. Paul Haeberlin machte sich mit seiner neuartigen, innovativen Küche schnell einen Namen und erkochte 1952 den ersten Michelin-Stern für das Haus an der Ill. Der zweite folgte 1957 und zehn Jahre später der ultimative dritte Stern. Was uns direkt in die Gegenwart springen lässt. Denn diese prestigeträchtigste aller kulinarischen Auszeichnungen hielt das Haus durchgehend bis 2019, als der rote Guide in einem viel diskutierten und einem kleinen Erdbeben gleichkommenden Entscheid den dritten Stern aberkannte und die Auberge de l’Ill nach 52 Jahren auf zwei Sterne herunterstufte. Lediglich Paul Bocuse konnte die drei Macarons noch länger verteidigen, doch auch seinem Flaggschiff-Restaurant in Lyon wurde der höchste Ritterschlag mittlerweile aberkannt.
Ein Besuch in Illhaeusern stand schon lange weit oben auf unserer Liste. Dass es nun ausgerechnet endlich klappt, nachdem diese Institution wohl in ihrem Selbstverständnis und ihren Grundfesten erschüttert wurde, soll beileibe kein schlechtes Omen sein. Marc Haeberlin, Chef-Besitzer in vierter Generation und Pauls Sohn, hat die Küche der Auberge 1976 übernommen und sie Einflüssen von außerhalb des Elsass sowie der Grande Nation geöffnet. Er steht auch bei unserem heutigen Besuch gemeinsam mit seiner Mannschaft in der Küche.
Äußerlich ist die Auberge de l’Ill ein typisch elsässisches Gebäude stattlicher Ausprägung, wenngleich man bereits einige moderne Elemente erkennen kann. Im Restaurant selbst herrscht gediegener Luxus in Pastelltönen vor. Ein schickes Restaurant, das eine vornehme Ruhe und Selbstsicherheit ausstrahlt. Man ist hier auch ganz unkompliziert, was Sonderwünsche angeht. Natürlich wollen wir so viel wie möglich probieren, am liebsten à la carte, machen uns aufgrund des Umfangs jedoch ein wenig Sorgen. Der Maître nimmt unsere Sorgen gelassen entgegen, weist darauf hin, dass die Portionen durchaus elsässisch – sprich üppig – sind und unterstützt uns beim Zusammenstellen eines Menüs mit vielen halben Portionen. Wäre man doch nur überall so locker und souverän. Positiv gestimmt und gespannt wie Flitzebögen, warten wir nun bei einem Glas Muscat von Bott aus dem nahen Ribeauvillé auf die Ouvertüre.
Angenehm übersichtlich sind die Apéros. Da wäre ein Croque Monsieur, eine Interpretation von Aal „grün“ sowie ein Cornet mit Kaviar. Obwohl die Petitessen eher rustikal wirken, zeigen sie sich geschmacklich überraschend raffiniert. Selbst sowas simples wie ein bereits tausend Mal gegessener Croque Monsieur kann unter fachmännischer Zubereitung und aus tollen Produkten gemacht immer noch viel Freude bereiten. Auch die anderen beiden Petitessen wissen zu gefallen, wenngleich nichts davon einem Geniestreich gleichkommt. Muss es ja aber auch nicht. Die weitere Vorfreude wurde jedenfalls nicht getrübt. Das war’s dann auch schon mit dem Vorgeplänkel, …
… denn mit Taschenkrebs, Zitrone und Krustentiercrème folgt direkt der Einstieg ins Menü. Selbst die halbe Portion erscheint immer noch sehr stattlich. Zum Glück haben wir keine reguläre bestellt. Geschmacklich zeigt sich der Eröffnungsgang auf hohem Niveau. Wie das jodig-süßliche Krebsfleisch von der tiefen und komplexen Krustentiercrème elegant umspielt und gleichzeitig akzentuiert wird, während die Zitrone für belebende Säure und Balance sorgt, hat schon große Klasse. Als besonders gelungen erweist sich die Beigabe einer Art Sahneschaum, der mit seiner lieblichen Fettigkeit am Gaumen alle Elemente zu einem runden Ganzen verbindet und die einzelnen Komponenten noch stärker betont. Ein starker erster Gang, der Luft nach oben lässt.
Klassisch-modern geht’s auch gleich weiter mit einer gebratenen Langoustine mit Blumenkohl und Ossietra-Kaviar. Dieser Dreiklang ist im gehobenen Küchenkanon mittlerweile fest verankert, und das aus gutem Grund. Wie sich die maritime Süße des exzellenten Granats mit der nur dezent nach Meer schmeckenden Salinität des schwarzen Goldes zu einem Ozeansturm verbindet, ist alleine sein Geld wert. Doch nicht nur das tiefe Nass spielt eine gewichtige Rolle, sondern auch der bescheidene Blumenkohl. Er bietet durch die Deklination einerseits ein spannendes Texturspiel, und andererseits erweitert er das Geschmacksspektrum. Vor allem die gebratenen Stücke erweisen sich in diesem Kontext als besonders apart, da die betörenden Röstnoten für den richtigen Kick sorgen und dem ansonsten sehr luxuriös-eleganten Teller einen bodenständig-kernigen Unterton verleihen.
Da wir auch auf unsere Gesundheit achten müssen, haben wir uns entschieden, heute einen Salat ins Menü einzubauen. Haeberlin nimmt sich hierfür dem lokalen Klassiker Kuttelsalat mit Bohnen an und verfeinert ihn stilecht mit einer dicken Scheibe gebratener Gänseleber. Ok, ok, wir geben es ja zu, das ist nicht ganz das, was man sich gemeinhin unter einem gesunden Salat vorstellt. Und für die Linie ist er sicher auch nicht unbedingt zuträglich. Doch unsere Mission ist schließlich die Suche nach dem bestmöglichen Geschmack, nicht nach möglichst wenigen Kalorien. Der Salat, wenn man ihn denn so bezeichnen möchte, ist einfach nur grandios. Das Zusammenspiel von knackigem Grün, knusprigen Kutteln, saftigen Bohnen, opulenter Foie gras und herber Sauce ist total stimmig und vor allen Dingen absolut köstlich. Genau darum geht es hier: Köstlichkeit. Wir könnten glatt noch einen Teller verdrücken.
Beim gebratenen Steinbuttfilet, Gemüsesaft mit Tee und kleiner Austernfrühlingsrolle scheint erstmals Marc Haeberlins Vorliebe für Asien durch. Der umtriebige Chef betreibt mittlerweile drei weitere Auberge de l‘Ill in Japan: in Tokio, Nagoya und Sapporo. Doch zurück nach Illhaeusern. Der Butt ist von exzellenter Qualität und akkurat gegart. Obenauf liegen die knusprigen Rollen mit Austernfüllung sowie ein kleiner Kräutersalat. Darunter ein kleines Gemüse sowie eine ausgelöste Auster und natürlich der Gemüseaufguss. Im Gegensatz zum bisher Gezeigten wirkt dieses Ensemble geradezu wundersam zart und fragil. Was wir absolut positiv verstanden wissen wollen. Trotz der Röstnoten des Fisches und der frittierten Rollen liegt der Fokus ganz klar auf den Produkten selbst und deren harmonischem Miteinander. Die salzig-fleischige Komponente des Plattfischs wird von der Auster weiter gesponnen und mit einer ordentlich Portion Gischt angereichert, nur um dann gemeinsam mit dem knackigen Gemüse und dem hocheleganten Tee zu einem enorm feinen Ganzen zusammenzufinden. Große Klasse.
Die Vermählung von lokalen Delikatessen mit Einflüssen aus Fernost wird auch beim frisch geräucherten knusprigen Aal mit gebratenen Schnecken, Sake- und Wasabi-Schaum fortgesetzt. Klingt erstmal reichlich ungewöhnlich, entpuppt sich aber als Instant-Hit. Umami wird hier groß geschrieben, ebenso das Spiel der tierischen Texturen. Von knusprig über saftig, fleischig und zart – alles ist dabei. Dabei springt vor allem auch die unglaubliche Qualität der Produkte ins Auge oder vielmehr an den Gaumen. Gerade der Aal ist einfach unfassbar gut. Nach zwei Bissen scheinen die Schnecken dazu schon wie die einzig logische Kombination. Doch darauf muss man erstmal kommen. Wir zumindest kannten dieses Surf’n’Turf noch nicht. Durch die Beigabe des giftgrünen Schaums, der die Klasse einer großartigen Jus hat, dabei enorm tief ist und nicht allzu scharf daherkommt sowie eine herrliche Eleganz verströmt, wird diese wundersame Kreation perfekt vervollständigt. Kratzt an der Götterspeise und könnte der Favorit des Abends werden.
Wäre da nicht noch der Über-Klassiker des Hauses und gleichzeitig eines der ikonischsten Gerichte der französischen Hochküche: Lachssoufflé „Auberge de l’Ill“. Hierzu wird eine schöne Tranche Lachs mit einem Dom bestehend aus einer Hecht-Farce überdeckt. Das Gebilde verschwindet dann auf einer gebutterten, gesalzenen und mit Schalotten-Brunoise bedeckten Kasserolle sowie mit Riesling und einer Fischfumet umgossen für 15 Minuten im Ofen. Seit Beginn der 1960er-Jahre, als dieses Gericht von Marc Haeberlins Vater Paul kreiert wurde, wird das so gemacht. Serviert wird das Soufflé anschließend mit der aufmontierten buttrigen Sauce, einer Concasse von Tomaten sowie einem Blätterteig-Schiffchen. Schon der Duft, der vom Teller aufsteigt, veheißt Gutes. Was sich umgehend am Gaumen bestätigt. Wie der Fisch mit der grandiosen Sauce und der luftigen Farce harmoniert, ist atemberaubend. Weit weg von bieder und altbacken. Das Ganze wirkt überhaupt nicht schwer, trotz mundfüllender Opulenz, sondern isst sich verhältnismäßig leicht. Sogar die etwas verloren wirkenden Beilagen passen. Mit dem Blätterteig bekommt man ein wenig Textur ins Spiel, während man mit den Tomaten die Säure ein wenig steuern sowie etwas Fruchtigkeit einstreuen kann. Wir sind hellauf begeistert. Kein Wunder, wird diese Kreation immer wieder als eines der größten Gerichte aller Zeiten gewürdigt
Gebratenes Spanferkel-Karree, gefüllter Schweinefuß und getrüffeltes Ragout aus Linsen vom Ried sind die Komponenten des ersten Hauptgangs des Abends. Obwohl die Sau hochklassig und die Sauce zum Fingerlecken gut ist, überzeugt uns dieser Gang nicht gänzlich. Auch wenn das Ragout sogar noch getrüffelt ist, fehlt es uns insgesamt ein wenig an Komplexität sowie an Ausgewogenheit. Das schmälert den Genuss zwar nicht zwangsläufig, dennoch muss man festhalten, dass sich dieser Gang in Summe nicht auf dem sehr hohen Niveau des bisher Gezeigten bewegt. Genauso schnell vergessen wie gegessen.
Der zweite Hauptgang hört auf den Namen Rebhuhn "Romanoff". Das Romanoff leitet sich in diesem Fall glücklicherweise nicht vom gleichnamigen Erdbeer-Dessert ab, sondern vom Lehrmeister von Marc Haeberlins Vater Paul, Edouard Weber. Dieser war der persönliche Leibkoch des letzten Zaren von Russland, weshalb Haeberlin senior zu Ehren seines Mentors dieses Gericht kreierte. Dieses gestaltet sich, wie das Schwein zuvor, augenscheinlich simpel, weiß aber weitaus mehr zu überzeugen. Eine herrlich saftige und kernige Keule des Wildvogels wird von einer hocharomatischen, tiefen, komplexen und herrlich klebrigen Trüffelsauce eingefasst. Etwas Foie gras darf natürlich ebenso wenig fehlen wie Pommes Maxim, damit man auch sicher satt wird. Dieses herbstliche Arrangement tickt alle Boxen, die wir uns von einem rundum gelungenen, klassischen Geflügelgang erhoffen. Erstklassige Produkte, einwandfreies Handwerk und genügend Komplexität, um ein wenig Spannung reinzubringen. Das einzige Problem? Wir können langsam nicht mehr, trotz der vielen halben Portionen, und müssen einen kleinen Teil leider stehen lassen. Schande über unser Haupt.
Obwohl die Gerichte größtenteils überraschend leicht daherkommen und wir auch wohlweißlich fast ausschließlich kleinere Ausgaben geordert haben, sind wir mittlerweile so gesättigt, dass wir den gut bestückten Käsewagen auslassen. Die abschließende Wahl fällt noch auf ein einziges Dessert, einen der französischen Klassiker schlechthin: Crêpe Suzette. Ein wenig Tableside-Action lässt uns zumindest kurzzeitig die schweren Köpfe in die Höhe hieven, bevor wir endgültig ins Fresskoma fallen. Nach der Show kommt das Essen. Die Crêpes sind, nun ja, gut. Sicherlich merklich feiner geschliffen als anderswo und ohne die plakative Spritnote, die schlechten Versionen gerne innewohnt, aber Begeisterungsstürme löst das dennoch nicht aus.
Von der verführerischen Pralinenauswahl reicht die Kapazität leider nur noch für ein, zwei Betthupferl.
In der Auberge de l’Ill lebt man Gastlichkeit nahe an der Perfektion. Vom Moment, wenn man durch die Türe dieser altehrwürdigen kulinarischen Institution tritt, sprüht einem die Gastfreundschaft förmlich entgegen. Angefangen bei der überaus herzlichen Begrüßung. Beim Erfragen des ersten Getränkewunsches. Bei der Beratung zur Auswahl der Gerichte. Dazu ist man hier total unkompliziert – wie es sich für ein Haus dieser Klasse eigentlich auch gehört – und geht komplett auf die Bedürfnisse des Gastes ein. Gerichte in halber Portion? Kein Problem, Monsieur. Doch noch einen zusätzlichen Gang einschieben? Mais oui! Keine Kapazitäten mehr für den Käsewagen? Dann freuen Sie sich umso mehr aufs Dessert. Diese herrlich unaufgesetzte Lockerheit zeigt sich nicht nur am und beim Gast, sondern auch, als eines der Kinder (ja, davon hatte es an diesem Abend einige) am 12er-Nachbarstisch seinen Löffel unter lautem Knall an eine glaskerzenähnliche Trennwand hinter ihm trommelt. Keine roten Gesichter (außer beim kleinen Übeltäter selbst), kein gezischter Rüffel, nein, kollektives Lachen. Inklusive der der Konversation zufolge eher biederen Herrschaften hinter uns und dem Service. Die kleine Showeinlage wurde von uns natürlich mit einem warmen Applaus bedacht.
Doch die brennendste Frage, die Ihr Euch sicher alle stellt und die die auch wir uns im Vorfeld gestellt haben: Wie sieht es denn mit der Küche der Auberge de l’Ill aus? Wurde das Restaurant zurecht herabgestuft? Oder ist der Verlust des dritten Sternes ein weiteres Zeichen für das Abkommen vom einst guten Weg des Guide Michelin?
Sie ist in der Tat schwierig zu beantworten. Hält man sich an die Aussagen des roten Guides, was drei Sterne bedeuten, nämlich „eine einzigartige Küche – eine Reise wert!“, ist der Verlust nur bedingt nachvollziehbar. Man versteht sein Handwerk, bringt es tadellos zum Einsatz, setzt dabei auf exzellente Produkte, und auch ein eigenständiger Charakter ist zumindest einem großen Teil der Gerichte nicht abzusprechen. Sowohl der alten als auch der neuen. Gräbt man etwas tiefer, lässt die Historie des Hauses so gut es geht außer Acht und beschränkt sich darauf, die Teller so objektiv wie irgend möglich zu analysieren, liegt die Wahrheit irgendwo zwischen zwei und drei Macarons. In unserem Fall fragen wir uns allerdings: Wollen wir denn nur stur das Essen analysieren und uns nicht auch ein wenig vom Charme, der Historie und vom Wein bezirzen lassen? Wir wollen das. Auf jeden Fall. Und dann gibt es keine zwei Meinungen mehr. Sieht man die Auberge de l’Ill als Gesamtkunstwerk, ist sie uneingeschränkt eine Reise wert.
Fazit
Die Auberge de l’Ill ist absolut zu Recht eine Institution. Das Erlebnis «Fine Dining» kann man in diesem ikonischen Haus feiern, wie nur an wenigen anderen Orten – eine uneingeschränkte Pflichtstation für alle (Fr-)Esser.
Text: Thierry De Nullepart