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Restaurantkritik 30.August 2018

„PETITE SURPRISE, MONSIEUR!“

Ein sonniger Frühlingstag in Paris. Es ist unnatürlich warm für diese Jahreszeit, was der Pariser sofort dazu nutzt, die zahlreichen „Terrasses“ der Stadt bereits zur frühen Mittagsstunde mit Kaffee, Wein, Zigarettenqualm und angeregten Gesprächen zu beleben. Unser heutiges Ziel bietet zwar keinen heizpilzgewärmten Außenbereich, fügt sich aber ebenso den Wetter- und Klimabedingungen wie das sich an jedem Sonnenstrahl ergötzenden Lokalpublikum: Mit dem „Arpège“ hat der gemüseverliebte Alain Passard nichts anderes als ein Mekka für alle Fressverrückten geschaffen, die sich an den Gaben der Gärten ergötzen können. Auch wir wollen uns heute ein Bild davon machen, was alles möglich ist, wenn der Koch zum Bauern wird.

Der 1956 geborene Passard lernte das Rüstzeug der Haute Cuisine im „Le Lion d’Or“ in Liffré unter Michel Kéréver und war 26, als er für sein Wirken im „Le Duc d’Enghien“ den ersten, im Jahr darauf dann den zweiten Stern erhielt. Es wurde Zeit, selbst die Regie zu führen, also übernahm Passard 1986 seine ehemalige Wirkungsstätte, das Pariser „L’Archestrate“, und nannte es in „L’Arpège“ um. Seine fleischlastige französische Hochküche brachte ihm zehn Jahre später, 1996, die höchsten Michelin-Weihen ein. 2001 kam es dann zum Paradigmenwechsel: Angeödet von der karnivoren Küche, wollte Passard den Fokus auf das sonst eher vernachlässigte Beiwerk lenken – Gemüse. Ein Jahr später legte er seinen ersten Garten in Sarthe an, in den nächsten Jahren folgten zwei weitere. Die Fokussierung auf saisonales Gemüse war damals – lange vor „brutal lokal“ – eine Neuigkeit, deren Rezeption er nicht einschätzen konnte. Wie würde die Gourmetwelt auf seine neuartige, produktfokussierte Küche reagieren? Nun: Die Sterne sind geblieben, und wer Lust hat, sich den äußerst telegenen zweifelnden Koch anzuschauen, dem sei die „Chef’s Table“-Episode von Netflix ans Herz gelegt. Der Rest ist Geschichte: drei Sterne, 19 GM-Punkte, #1 in der europäischen OAD-Liste und fortwährende Berichterstattung in wichtigsten kulinarischen Medien. Die Entscheidung, andere Wege zu gehen, hat Alain Passard zu einem international renommierten Guru in Sachen moderner Produktküche werden lassen.

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Da wundert es uns nicht, dass das Lokal bereits zur Mittagszeit brechend voll ist. Der schicke, reduziert eingerichtete Raum ist noch und nöcher gefüllt mit Tischen, wir zählen auf Anhieb acht Service-Kräfte in adretten Anzügen. Es kommt dennoch keine Unruhe auf, ganz im Gegenteil: Der Empfang ist – und das erleben wir nicht immer in Paris – höflich, charmant und locker. Von seiner strikten vegetarischen Linie hat sich Passard inzwischen verabschiedet und baut wieder das eine oder andere fleischhaltige Gericht ein. Der „Gardener’s Lunch“ bietet ein Überraschungsmenü, die Degustationsmenüs ein entweder vegetarisches oder um einige Fleischgänge ergänztes („Terre & Mer“) Küchen-Feuerwerk. Preislich sind sie am oberen Ende der Fahnenstange: Mit 420 € ersetzt das „Terre & Mer“ wohl so manchen Kurzurlaub. Doch wie oft kommen wir schon hier her? Auf geht’s ...

Zum Apéro ein paar fein gearbeitete Tartelettes mit roter Bete, Sellerie und Topinambur. Allesamt köstlich und pur gearbeitet, sodass jedes Gemüse seine Expertise – süß, erdig, bitter – ausspielen kann. Besonders gefällt uns die mit etwas Meerrettich angereicherte lauwarme Bete-Crème. 

Der Passard-Klassiker „Heiß-kaltes“ Ei mit Ahornsirup setzt auf Temperaturunterschiede. Das rohe, lauwarme Eigelb steht im Kontrast zum kühlen, mit Four Spices angereicherten Eischnee-Schaum. Am Boden verstecken sich Essig und Sirup, die etwas Abwechslung zum eher herzhaften, schaumig-fettigen Geschehen liefern. So subtil wie hervorragend.

Der erste, als „Petit Surprise!“ anmoderierte Zwischengang aus der Küche: Als eine Art vegetarisches Nigiri präsentieren sich rote Bete, Feige, schwarze Olive und Reis. „Lecker“ wäre pures Understatement: Der Dreiklang aus bitter, süß und leichter Schärfe ist eine echte Wohltat, die lange nachklingt. Und wieder arbeitet die Küche bewusst mit Temperaturen – der lauwarme Reis umrahmt die langsam zunehmende aromatische Intensität zu jedem Zeitpunkt. Überragend!

Die „bunten Gemüseravioli“, rote Bete, Sellerie und Topinambur, spielen erneut mit den Darbietungsformen von Produkten, die sich heute durch das ganze Menü ziehen werden. Die fein abgeschmeckte, zu keinem Zeitpunkt zu präsente Bouillon hat ordentlich Hitze, was den herzhaft gewürzten Innereien sehr gut steht. Es schmeckt mal herb, mal süßlich, dann wieder erdig-betig. Zu recht seit vielen Jahren ein Klassiker des Hauses.

Nicht ganz so begeistert sind wir vom ersten tierischen Gang des Tages: Bei der marinierten Jakobsmuschel mit schwarzem Perigord-Trüffel stört uns vor allen Dingen die Qualität des schwarzen Pilzes. Zu brüchig, trocken und wenig intensiv, sortieren wir ihn nach wenigen Bissen aus. Etwas zu viel Salz und Pfeffer hinterlassen zudem einen eher jodigen Nachgeschmack, bei dem die qualitativ einwandfreie, geschmacklich eher feine Jakobsmuschel nur noch wenig zu melden hat.

Viel besser: die Veloutè vom Wurzelgemüse mit Knoblauch-Crème, auch sie ein Klassiker. Die Sauce ist warm und durch und durch köstlich – sie allein wäre in vielen anderen Restaurants schon ein Gang für sich. Die gekühlte Crème ergänzt das Geschmacksbild um ausgeprägte Knoblauchakzente und feine Süße. Das klingt mächtig, funktioniert aber dank gezielter Proportionierung derart gut, dass wir fast nachordern möchten.

Aber das Arpège fackelt nicht lange, die Wartezeiten zwischen den Gängen sind kurz, und genauso soll auch die Zusammenfassung des nächsten Gerichts sein: Hummer mit Limette und Honig aus der eigenen Imkerei ist eines der besten Gerichte, die wir je verspeisen durften. Die drei Produkte sind zu jeder Zeit präsent und perfekt aufeinander abgestimmt, der blanchierte und dann erkaltete Hummer, der unter dem Dressing-Lack lauert, von unglaublicher Qualität. Eine „Ménage à trois“ zum Niederknien – eine Götterspeise.

Als etwas zu mächtig empfinden wir das Sellerie-Risotto mit Kastanien und schwarzem Perigord-Trüffel. Heiß, cremig, schlotzig – es schmeckt wunderbar, ist aber rein von der Menge eine Spur zu viel. Auch hier stört der qualitativ wieder nur mittelmäßige Trüffel.

Es folgt erneut eine „Surprise“ aus der Küche, und erneut ein Klassiker der Küche: Zwiebelgratin mit Parmesan, Trüffel, Haselnuss und gelber Bete ist ein äußerst delikater, präzise gearbeiteter Schichtauflauf, der zwar reichhaltig ist, aber äußerst transparent nach jedem einzelnen Element schmeckt. Auch hier täuscht wieder die scheinbare Simplizität dieser Gewinner-Kombi aus Zwiebel, Käse und Trüffel – das ist ein harmonisches austariertes, äußerst delikates Töpfchen, in dem sich der warme, gegarte Trüffel diesmal wunderbar einfügt.

Das Filet von der Seezunge mit geräucherten Kartoffeln, diesmal ganz offensichtlich dem frühen Fleisch-Passard zuzuordnen, bringt unsere Papillen wieder auf Hochtouren. Selten haben wir einen Fischgang derartig pur und intensiv wahrgenommen. Die leicht säuerliche, mit alkoholischen Noten spielende Sauce umschlingt jedes Stück des heißen, perfekt gegarten und hochintensiven Fisches, die sich mit den rauchigen Akzenten der Kartoffel zu einem einzigartig reinen, ablenkungsfreien Teller verbindet. Schnörkellos und köstlich.

„Petit Surprise!“ – langsam kommen wir an unsere Grenzen, doch das Menü ist noch lange nicht vorbei. Gebratene Dumplings, gefüllt mit Lammfleisch in Sellerie-Lammknochen-Brühe ist heiß, süffig und voller Umami. Die Füllung würden wir gerne als geschmackliches Exempel für alle Lammgerichte der Vergangenheit und Zukunft statuieren; derartig intensiv haben wir das Tier selten verspeist.

Und noch mal, alle zusammen: „PETIT SURPRISE!“ Eine gratinierte Jakobsmuschel mit Blumenkohl, Sellerie und Lauch lässt unser Knoblauch-Barometer wieder ordentlich steigen. Abseits des Menüs kommt uns diese Kreation allerdings etwas undifferenziert vor. Heiß und ölig gehen die Komponenten eine eher wilde Ehe ein, der es – im Gegensatz zu den Gängen zuvor – an einer klaren Linie fehlt. „Wild“ ist eben nicht immer „gut“.

Das Rote-Bete-Tatar mit gesäuerter Milch, Meerrettich und Parmesan führt zurück in das Menü – und ist einmal mehr... ein Klassiker von Passard. Wie eine Erfrischung vor dem Hauptgang spielen die Protagonisten eher mit Frische als mit erdigen, deftigen Aromen, was unseren Geschmacksknospen etwas Erholung verschafft. Gut.

Aber halt, da drängelt sich noch ein gefüllter Kohl mit Sellerie, Rotkohl, Parmesan und Trüffeln in Parmesan-Schaum als – man ahnt es schon – „Petit Surprise!“ in die Speisefolge. Erdig, lauwarm und reichhaltig, mit nur leichten, dafür stetig präsenten Bitterstoffen können wir nichts weiter machen, als auch diesen köstlichen Teller blitzeblank zu putzen.

Das "Schaulaufen einer Poularde", auf Heu gegart.

Mit der „Grande Rôtisserie d’Héritage Louise Passard“, einem Backhuhn großmütterlicher Art, verneigt sich Passard vor dem eigenen Stammbaum – mit einem Gericht, dass ebenso reduziert wie treffsicher auf den Punkt gebracht ist. Die Fleischteile sind von hervorragender Qualität, nur empfinden wir das Bruststück auf der linken Seite als etwas zu trocken. Davon abgesehen stimmt hier alles – und wir sind froh, dass der leichtfüßige, kaum gebundene Jus und die vereinzelten Gemüsebeilagen uns hier eine eher leichte, klassische Hauptspeise bescheren.

Eine Auswahl an Petits fours leitet zu den Desserts über. Präzise und fein gearbeitet, gefallen uns vor allen Dingen die kleinen, butterigen Waffeln.

Unscheinbar, aber eine echte Dessert-Granate ist die Walnuss-Praline. Der leicht gezuckerte, fluffige Teig des Burgers stellt die Theaterbühne für die umwerfende, mit Honig gesüßte und hochintensiv schmeckende Crème, der wir nichts weiter nachsagen können als Perfektion. Gigantisch gut!

Das Mille-feuille rückt klassisches Pâtisserie-Handwerk in den Mittelpunkt. Die fein gearbeiteten und wunderschön anzusehenden Teigplatten zerbersten mit dem ersten Gabelhieb zu einer krümeligen Massenkarambolage, was dem Geschmack aber keinen Abbruch tut. Besonders der bewusste Einsatz von Süße – es schmeckt eher nach Vanille und Nüssen – ermöglicht den mühelosen Verzehr dieses köstlichen Schicht-Quaders. Müssen wir erwähnen, dass es sich um einen Klassiker des Hauses handelt?

Den Kaffee versüßt uns ein lauwarmes Quark-Tartelette.

Puh, Paris hat uns heute wirklich gefordert! Wir sind pappsatt – und glückselig. Wir nippen noch am Kaffee, da kommt Alain Passard durch die Tür gestürzt und schüttelt Hände (wie wir später erfahren, kam er direkt von der Beerdigung des großen Paul Bocuse). Wir bedanken uns beim Meister – sein schelmisches Grinsen zeugt davon, dass man uns die schiere Mästung ansieht. Dennoch: Wenn es eben köstlich schmeckt, kriegen wir wie wohl jeder andere Fressverrückte einfach nicht genug von guter Küche. Wenn überhaupt störten wir uns eher am mittelmäßigen Trüffel – das darf in einem Restaurant dieser Klasse nicht passieren. Die Knoblauchfahne, die wir mit nach Deutschland genommen haben, ist sicherlich nicht jedermanns Sache, für uns aber kein Problem. Über die vielen Gerichte, die uns als „Petit Surprises“ abseits des Menüs präsentiert wurden, möchten wir gar nicht meckern; es rechtfertigt für viele auch sicherlich den hohen Preis, der für das große Menü im Arpège aufgerufen wird. Dass dieses Menü in erster Linie aus bewährten Klassikern besteht und seit vielen Jahren praktisch unverändert auf die Tische kommt, soll uns beim Erstbesuch nicht stören. Wir fragen uns nur, wie Passard das bei Stammgästen handhabt.

Und das, was uns heute fürs Geld geboten wurde, war wirklich erstaunlich: Zu keinem Zeitpunkt stellten wir das vornehmlich vegetarische Konzept in Frage. Uns fiel noch nicht einmal bewusst auf, dass mancherlei Zutat sich stetig wiederholte – zum Beispiel die Bete, die fünf Mal den Weg auf unsere Teller fand. Der kreative wie umsichtige Umgang mit Garformen, Würzungen und Kombinationen war derart divers, dass wir nicht nur vor der Küche, sondern auch vor den Mitarbeitern der Gartenanlage den kulinarischen Hut ziehen müssen. Denn schlussendlich ist die Auswahl der Produkte, die aus dem Boden sprießen, der erste Schritt zu einem schmackhaften Gericht. Und von denen hatten wir so einige, wobei uns besonders das omnivore Gespann aus Hummer, Honig und Limette wohl noch einige Jahre als Exempel hervorragender Produktküche im Gedächtnis bleiben wird.

FAZIT

Alain Passard bringt die Natur und seine Böden im „Arpège“ schnörkellos wie köstlich auf die Teller und ist damit einer der eindrucksvollsten Vertreter in Sachen produktfokussierter, kreativer Hochküche.

Weine

Die Weine im Restaurant Arpège in Paris

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Ein Menü für 420 Euro, das vornehmlich Gemüse beinhaltet. Erscheint Euch das angemessen?

 

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