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Restaurantkritik  6.April 2017

DER GÖTTLICHE SAUERBRATEN

Erdbeeren, nichts als Erdbeeren. Gerade als unser Ziel nur noch wenige Kilometer entfernt liegt, reihen sich wie aus dem Nichts etliche Minivans an noch mehr Kombis. Wie wir später erfahren sollen, wollen Familien einen unterhaltsamen Tag auf "Karl’s Erdbeer-Erlebnishof" verbringen. Die Ampel auf der dichtbefahrenen Bundesstraße scheint einzig und allein für eine 4-stöckige Erdbeerrutsche erbaut worden zu sein, die den Weg zu unserem eigentlichen Ziel um ein "Was zum Teufel ist hier los?" bereichert: In der besternten 'Ostseelounge' in Dierhagen verspricht Chef Pierre Nippkow heimatverbundene Sterneküche mit Blick auf die Ostsee-Dünen. Wir lassen Erdbeeren und Familienwahnsinn hinter uns und fahren weiter...

Das 'Strandhotel Fischland' liegt versteckt in einem dichten Nadelwald, dem sich das Panorama der Ostsee nahtlos anschließt. Ganz oben auf dem Dach des Hotels wirkt der im Mecklenburgischen Röbel geborene Pierre Nippkow nach Stationen im Strandhotel Ostseeblick in Heringsdorf und als Souschef im damals besternten Restaurant 'Nixe' in Binz auf Rügen seit 2011 als Chefkoch. Das erste Macaron kam 2013, seither verteidigt der 33-Jährige es mit seinem Team erfolgreich.

Das Ambiente ist durchaus kuschelig: Dezentes Interieur, gedämmtes Licht, ein unfassbar dicker Teppich, loderndes Feuer im Kamin, maritimes Dekor sowie das rauschende Meer schaffen eine legere wie angenehme Ferienwohnungs-Atmosphäre. Im Sommer kann man sich auf der breiten Terrasse die frische Ostseebrise um die Fressernase wehen lassen. Der Blick auf die Brandung hat etwas Beruhigendes, und wir sind jetzt schon froh, uns nicht auf das Erdbeer-Abenteuer, sondern auf ein achtgängiges Menü eingelassen zu haben. Nippkow beschreibt seinen Küchenstil als "Hommage an das Meer im Allgemeinen und die Heimat: die weite Landschaft mit satten Wiesen und ursprünglichen Küstenwäldern, der Ostsee und dem Bodden". Das spiegelt viel Stolz auf die eigene Herkunft wider. Ob der auch auf den Tellern schmeckbar ist, wollen wir jetzt erfahren ...

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Zum Apéro werden krosse Pulpochips, soufflierte Kartoffeln mit Sushi-Essig sowie Krabbenchips mit Zitrusmayonnaise und Austernblatt gereicht. Letztere haben eine stimmige Säure, die prima zu den intensiven Oktopus-Chips passen, denen wir lediglich etwas Knusper absprechen. Gut.

Zum Amuse wird es kleinteilig: Mit Surf 'n' Turf als Pilzcracker, Ochsentatar und Cristalle-Garnele, eine Nachorolle, "unser Russischei", ein Tomatensandwich mit gebackener Kaper, Räucheraal-Cannelloni mit gelber und roter Bete und "Leck"-Muschel zeigt die Küche durchaus eindrucksvoll, wie filigran und wohlproportioniert sie arbeitet. Cremigkeit und subtile Fischaromen dominieren die kleinen Häppchen, bei denen uns vor allen Dingen das mit gelber Bete und Aal getoppte Cannelloni gefällt. Sehr gut!

Das Menü startet leise mit in brauner Butter confiertem Island-Kabeljau, gepickelten Karotten, Pulpo, Gewürzhollandaise und Jakobsmuschelchips. Die eher dezenten Aromen des glasig gegarten, wohlig warm temperierten Kabeljaus bleiben dank präzise abgestimmter Säure-Verhältnisse und der zurückhaltenden, aber stimmig gewürzten Curry-Note der Hollandaise stets präsent, so dass sich in Summe ein hervorragender, runder Geschmack abbildet. Ein toller Einstieg!

Mit der roh marinierten Bernsteinmakrele, Gurkengrütze, mit Soja marinierten Buchenpilzen, Papaya und Kaffeeöl erhöht sich die kulinarische Schlagzahl. Die Abschnitte der Makrele sind von ordentlicher Dicke; eine bewusste (und richtige) Entscheidung, denn so bleibt das hervorragende, weil nur sanft marinierte Fleisch immer im Vordergrund. Die Mitstreiter bedürfen nicht minderer Aufmerksamkeit, gerade die kleinen gelierten Gurkenwürfel bringen ordentlich Säure und Süße in das Geschehen. Und doch: Jede Komponente wurde in Relation zum Fisch abgeschmeckt, ist wohlproportioniert und hinterlässt einen herrlichen Umami-Epilog. Makrele, Gurke und Dill – das ist eine gelernte Kombination, die hier modern und schmackhaft interpretiert wird. Prima.

Umami ist auch das Leitthema des nächsten Tellers: Ein äußerst fein gearbeitetes Rehtatar in einem Parmesanchip thront am Tellerrand von Parmesanschaum, Spinat, einem glasierten Rebhuhnei und Getreide. Die lauwarme Melange von Ei und Parmesan konnte uns schon häufiger beglücken, und so funktioniert dieses Gespann auch hier prächtig. Der luftige Schaum (der hier endlich mal einen Zweck erfüllt) verbindet den Parmesan dezent, fast leichtfüßig mit dem cremigen Eigelb. Lediglich die Trennung von Tatar und Hauptteller können wir nicht so recht nachvollziehen – so essen wir beides separat.

Als eine exzellente "Erbsensuppe mit Fischeinlage" interpretieren wir den in Miso gebeizten Färöer Lachs in Erbsencreme mit Maränenkaviar, Kanadischem Wildreis und Leindotteröl. Das heiße, leicht süßliche Süppchen ist wie gemacht für das stürmische, kalte Oktoberwetter und gart noch dazu den Lachs auf der Unterseite, sodass sich die Texturen und Geschmacksbilder des Fisches mit jeder Gabel verändern. Clever! Wenn diese irritierende, äußerst kalte Sphäre (deren Inhalt wir nicht deuten können) nicht wäre, hätte uns dieser Teller restlos begeistert.

Die Japaner würden Pierre Nippkow und seinem Team wahrscheinlich alle Hälse umdrehen, aber so verrückt die Idee eines "Sauerbratens vom Wagyu" auch klingt, sie schmeckt fantastisch. Zum Edel-Schulterfleisch gesellen sich Balsam-Jus, Orangenpolenta und pikante Rote Bete. Das große Stück des hauchzarten, nur leicht gesäuerten Fleisches ist derart köstlich, dass wir fast vergessen, uns um die Beilagen zu kümmern; die Polenta liefert dezente Zitrus-Zesten-Aromen, ist äußerst cremig und – bei einer Sättigungsbeilage selten anzutreffen – erfrischend. Die gerösteten Viertel von junger Bete komplementieren die süß-säuerliche Sauce mit etwas Erdigkeit. Machen wir’s kurz: eine wahre Götterspeise.

Lobten wir zuvor noch die gelungene Portionierung, müssen wir diese bei Schafskäse aus Palmzin mit Melonenvinaigrette, Knäckebrot und Olivenöl als Manko anführen. Im Duell zwischen strengem Käse und der entgegengesetzten, neutralisierenden Obst-Frische gewinnt eindeutig das Schaf, so dass der Teller trotz Arbeit mit Texturen aller Art eher eindimensional daherkommt.

Auch die "Coco Lounge", eine geeiste Kokosmilch mit Matchatee-Granité, Kakaobrioche, Salzkaramell und Ananas, haut uns nicht vom Sessel. Im texturellen Wirrwarr aus Gelee, Granité und Brioche, Temperaturen-Wust aus Zimmertemperatur, kalt und noch kälter sowie den zu großen und dadurch viel zu präsenten Erdnüssen können wir keine klare Linie erkennen. Schade, denn hier wäre weniger Spielerei definitiv mehr gewesen.

Ein Spiel aus Konsistenzen verspricht auch "Creamy & Crunchy" mit Mascarponeeis, süß-sauren Blaubeeren, Thymian und Malzgrissini. Hier gefällt uns die Arbeit mit den gegensätzlichen Texturen aus Knusprigkeit und Crème besser, in Summe bietet dieser Teller aber nicht mehr als ein solides Milcheis mit Beeren. Das hätten wir uns (besonders beim geschmacksneutralen Gelee von der Blaubeere) einen Ticken präsenter und damit mutiger gewünscht.

Zum Abschluss bekommen wir hübsch gearbeitete und durch die Bank leckere Petits fours: Macaron-Kürbis, Chai und Kaffeesahne, Gewürzbrownie, Barraquito-Lolli mit Kakaobohnenbruch und einen Birne-Haselnuss-Kuchen mit karamellisierter Vanillemilch.

Wir blicken zurück: Das, was Chef Pierre Nippkow (rechts) und sein Team in den ersten vier Akten des Menüs servierten, war schlichtweg top. Geschmack, Proportionen, Temperierung und Texturen überzeugten auf nahezu ganzer Linie und gipfelten in einer gutbürgerlichen Edel-Götterspeise. Schade nur, dass die Schere zwischen hervorragenden Herzhaftigkeiten und den zu verspielten bis einfallslosen Desserts so groß war – damit ist die Ostseelounge allerdings nicht allein. Die Gründe, warum wir immer öfter feststellen, dass mancherorts der Mut für eigenwillige Dessert-Kreationen fehlt und sich die Küche mit "Sweet Pleasern" zufriedengibt, sind sicher mannigfaltig: eine fehlende Pâtisserie, gemindertes Interesse abseits brodelnder Kochtöpfe oder schlichtweg der Gästewunsch, mit hübsch Angerichtetem und überbordender Süße die letzte Ecke des Magens zu füllen. All dies kann ausschlaggebend für die eher schwachen letzten Züge eines Menüs sein. Wir wünschen der Küche der Ostseelounge an diesem Punkt genau die Raffinesse, die sie bei Gerichten wie dem Färöer Lachs, dem Kabeljau sowie nicht zuletzt der Sauerbraten-Interpretation des Wagyus zur Schau stellen.

Professionell und gekonnt führte uns Maître Christian Freier (3.v.r) mit seinen charmanten Ladies durch den Abend, war nicht um den einen oder anderen Scherz verlegen und stellte sich prima auf unsere doch eher informelle Fresser-Haltung ein. Die gute Weinbegleitung beinhaltete vorrangig deutsche Reben mit einigen wenigen Ausreißern nach Frankreich und Dänemark, übertroffen wurde sie jedoch von einer exzellenten alternativen Getränkebegleitung (Details unten).

Fazit

Pierre Nippkow bereichert die Ostsee um eine moderne, manchmal verspielte, aber in großen Teilen präzise Küche mit Heimatverbundenheit, der wir in Zukunft mehr Mut und Eigenständigkeit bei den Nachspeisen wünschen.

Weine

Weine im Restaurant von Pierre Nippkow in Dierhagen

2010 Chardonnay Sekt Extra Brut, Wageck, Pfalz

2015 Silvaner Randersackerer Pfülben GG, Schmitts Kinder, Franken

2015 Riesling kabinett Oberhäuser Leistenberg, Dönnhoff, Nahe

2011 Pernand-Vergelesses, Cachat-Ocuidant, Burgund

2015 Schönburger, Wolkenberg, Brandenburg

2009 Barbera d`Alba, Oddero, Piemont

2011 Pinot Gris*** Réserve, Johanninger, Nahe

2013 Riesling Hofpäsch Zenit, Bender, Mosel 

2014 Ribes Ruby, Cold Handy Winery, Dänemark

Säfte

Säfte im Restaurant von Pierre Nippkow in Dierhagen

TAPPED Birkenwasser

Hausgemachter Karotten-Ingwersaft von Gustav aus Schweden

Fruit de la Passion, Elixa, Frankreich

Konstantinopler Apfelquitte, Van Nahmen, Niederrhein

2015 Scheurebe Traubensaft, Wageck, Pfalz

Cuvée Nr. 24 – Kirsche, Paprika, Rote Bete, Manufaktur Jörg Geiger

Morio Muskat Traubensaft, Möckli, Pfalz

Hausgemachter Matcha-Eistee, Rosmarin, Thymian, Kafir - von Phillip

Sommerbirne - Birne, Kamille, Linde - Manufaktur Jörg Geiger

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Christian Freier

Anzahl der Positionen?
Aktuell haben wir 120 Weine auf der Karte.

Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Früher war fast ausschliesslich Deutschland angesagt, heute liegt der Fokus viel mehr auf der eigentlichen Balance der Weinkarte – aus spannenden Gebieten, gestandenen Weingrößen und mutigen Neuentdeckungen. 

Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
Am preiswertesten: 2015 Xion, Attis Bodegas y Vinedos aus dem Rías Baixas für 32€
Am teuersten: 2007 Bâtard-Montrachet Vieilles Vignes Grand Cru von Francois Jouard aus dem Burgund für 234€

Die Ungewöhnlichste Rarität?
Vielleicht der 98' Enothèque von Dom Pérignon, aber ansonsten setzen wir eher auf viele Flaschen, die viele Gäste begeistern, anstatt auf eine, bei denen jeder große Augen macht, die am Ende aber doch niemand kauft.

Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
2015 Schönburger vom Weingut Wolkenberg aus Brandenburg – dieser Wein hat in der letzten Saison mit seiner unkomplizierten und trinkfreudigen Art viele Weinreise- und Flaschentrinker so überzeugt, dass oft direkt noch eine Flasche nach Hause mitgenommen wurde.

Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Zweierlei. Zum einen die Cold Hand Winery in Dänemark, die inzwischen jedoch relativ bekannt sein dürfte. Zum anderen die fantastischen Weine von Richard Leroy, sowie Réne Mosse an der Loire. Gerade die gereiften Jahrgänge sind großes Kino. 

Ihr Lieblingswein?
Auf einen Wein festlegen, niemals! Am liebsten ist immer das, was gerade zur Stimmung, zum Essen oder zum Land passt. Wobei ich einen gereiften Burgunder, z.B. aus Ladoix-Serrigny, nie von der Tischkante schubsen würde. 

Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden?
Für zwei sehr liebe Gäste eine Woche lang jeden Tag eine neue 6 Gang Weinreise (natürlich stets für ein Fisch, ein Fleischmenü) ohne Dopplung. Das ging ein paar Jahre so. 

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

Eure Meinung?

Restaurants mit Ausblick – wie wichtig ist Euch das?

 

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