Irgendwo im Nirgendwo
Buxtehude? Gibt’s das wirklich? Das soll der ehemalige Bundespräsident Theodor Heuss gesagt haben, als er das Ortsschild der niedersächsischen Gemeinde gesehen hat. Obwohl das 40 000-Einwohner-Städtchen an den Hamburger Stadtteil Neugraben-Fischbek grenzt und somit noch zum Ballungsraum Deutschlands zweitgrößter Stadt gezählt werden kann, gilt Buxtehude gemeinhin als Ort, wo die Hunde mit dem Schwanz bellen. Eine von vielen Redewendungen, in denen die Stadt despektierlich behandelt wird – die Stadt selbst widmet dem Spruch jedoch sogar eine Bronzeplastik in der Altstadt. Das zeugt von gutem Humor.
Unsere S-Bahn vom Hamburger Hauptbahnhof in Richtung Buxtehude ist an diesem eisigen Wintertag proppenvoll; die Menschen um uns herum erwecken nicht den Eindruck, als ob sie unglücklich wären, zurück ins angebliche Nirgendwo zu fahren. Als wir nach kurzer Fahrt ankommen, ist es bereits dunkel. Viel von der Stadt sehen wir also nicht. Eine Reihe von Taxis wartet auf Fahrgäste wie uns, und unser Fahrer kennt auch unser Ziel. So schlimm ist es hier doch gar nicht. Einmal im Hotel Navigare angekommen, reicht die Zeit lediglich, um uns kurz aufzufrischen. Denn im Souterrain dieses denkmalgeschützten Gebäudes ist seit Februar 2017 ein alter Bekannter für das kulinarische Wohl der Gäste verantwortlich: Jens Rittmeyer hat nach mehr als sechs Jahren im Kai3 auf Sylt eine neue Herausforderung gesucht und sie hier zwischen roten Backsteinwänden gefunden. Die Stimmung ist etwas düster hier unten, doch das Wesentliche, was auf dem Tisch vor uns in den kommenden Stunden passiert, werden wir schon mitbekommen. Los geht’s ...
... mit einer wahren Armada von Amuse-Bouches: Geräucherte Kartoffel mit leicht geräucherter Eigelbcrème – Rettichtasche mit Senfkohl, gebackenen Kräutern und Dill – Glückskleerübchen mit Weizengrascrème und Sauerklee – Leinsamencracker mit Rotkohlroulade und Sonnenblumenkerncrème. Besonders angetan sind wir von der Rettichtasche, die die gesamte Klaviatur unserer Gaumen bespielt, sowie von den herrlich süffigen Kartoffeln. Doch auch die anderen beiden Snacks überzeugen. Ein starker Auftakt.
Beim letzten Gruß aus der Küche, Eismeerforelle mit Gurke und Zitronenthymian, gibt uns Rittmeyer schon mal einen Vorgeschmack darauf, wie er zu seinem inoffiziellen Spitznamen „Saucengott“ gekommen ist. Dieses buttrige Prachtsößchen umspielt den exzellenten Fisch klasse, Gurke und Thymian sorgen für etwas Frische und Spannung. Köstlich.
Verschiedene Beten, Kapuzinerkresse, Buttermilch und Kaisergranat eröffnet das eigentliche Menü. Die Rüben werden hier in aller ihrer Pracht zelebriert, reichen von erdig über süß bis zu gepickelter Säure. Durch die Buttermilch kommt eine edle, erfrischende Cremigkeit ins Spiel, während die Kapuzinerkresse etwas belebende Bitterkeit gepaart mit subtiler Schärfe beisteuert. Sehr fein abgestimmt und extrem schmackhaft. Einziger Störenfried ist der Granat. Der ist zwar qualitativ sehr gut, auch top gegart, hat unserer Meinung nach aber in diesem Ensemble einfach nichts verloren. Darum essen wir zuerst den gut zusammenspielenden Teil des Gerichts und genehmigen uns den Krebs zum Schluss einfach separat.
Weiter geht’s mit einer handgetauchten Jakobsmuschel mit Selleriesaft und brauner Butter. Das ist Produktpurismus, wie wir ihn schätzen. Die St. Jacques kommt mit ordentlich Röstaromen zurück in die Schale, ist vielleicht einen Hauch zu lange gegart, was der maritimen Süße freilich keinen Abbruch tut. Mit der braunen Butter findet sich eine weitere süffige, süßliche Komponente auf dem Teller, die ganz ausgezeichnet passt. Damit das Ganze nicht zu einseitig lieblich daherkommt, setzt die Küche mit erdigem Selleriesaft einen bodenständigen Gegenpol und bringt über die Passepierre sowie den Dill noch etwas Meeres- und Kräuterfrische sowie Textur ins Spiel. Schön.
Mit dem Nordseeteufel mit Grünkohl, Holunderkapern und Schinkensaft führt die Küche den Weg der molligen Fischgerichte nahtlos weiter. In den Spitzenrestaurants der Republik ist die Lotte heutzutage eher selten zu finden, darum freuen wir uns umso mehr über das feste, delikate Fleisch dieses hässlichen Meeresungeheuers. Dazu passt die abermals hervorragende, salzige und kräftige Schinkensauce naturgemäß hervorragend. Surf ’n’ Turf auf Deutsch. Für etwas Auflockerung sind die hocharomatischen Kapern da, die dank des Einsatzes von Holunder ein sehr überraschendes Geschmackserlebnis bieten und richtig belebend wirken. Dazu noch etwas frittierter Kohl als weiterer Mitspieler und zusätzlicher Spannungsgeber am Gaumen, fertig ist die Winterwohlfühlschüsssel.
Nun erfüllt uns der findige Saucengott einen lange gehegten Wunsch: Es gibt Sauce mit Brot zum Tunken. Eigentlich gibt es sogar drei Saucen, nämlich Pilz, Petersilie und Kaninchen. Von Bäcker extraordinaire Arnd Erbel gibt’s dazu ein Drescher- und ein Blaubeerbrot. Als zusätzliche Aufstriche werden eine Ziegenbutter sowie ein Schafsquark mit Kräutern serviert. Mit beinahe kindlicher Vorfreude schnappen wir uns das erste Stück Brot und tunken es vorsichtig in die Pilzsauce. Sobald wir abbeißen, werden unsere Körper augenblicklich von Glückshormonen geflutet, und unsere Synapsen laufen heiß. Und das war „nur“ die Pilzsauce! Denn auch die anderen beiden Elixiere stehen dem in nichts nach. Eigentlich unnötig zu sagen, dass alle Saucenschälchen blitzblank in die Küche zurückwandern. Das ist Spaß auf Dreisterneniveau. Unglaublich gut und unbedingt nachahmenswert!
Zur Abwechslung geht’s vegetarisch weiter mit Spitzkohl, Brokkoli, Cerealien und Schwarzessig. Die etwas wild anmutende Optik überträgt sich nicht auf den Gaumen, dort wirkt alles relativ klar, aber auch ein wenig konventionell. Zwar ist das Ensemble durchaus gefällig, doch damit so ein Teller uneingeschränkt funktionieren kann, müssen die verwendeten Gemüse alle auf höchstem Qualitätsniveau sein, was sie leider nicht sind. Das ist eigentlich auch kein Wunder, schließlich ist es Ende November und die Saison für sowohl Spitzkohl als auch für Brokkoli eigentlich schon durch. Zusätzlich stört uns dieses Mal sogar die Sauce ein wenig – zu schwer wirkt sie, fast schon etwas plump im Kontext dieses Gerichts, da die Hauptprodukte nicht genügend gegenzusteuern vermögen. Grundsätzlich sind wir große Freunde von rein vegetarischen Speisen, doch hier müssen wir konstatieren, dass man aus diesem Teller mehr hätte rausholen können.
Gelungen fällt dafür der Hauptgang Rehrücken mit Brombeer-Cidre-Jus und Wurzeln aus. Toll gegart und mit reichlich Geschmack gesegnet, ist das Wild für sich genommen bereits ein kerniger Genuss; die dezent süsslich-erdigen Wurzeln sind klassische Begleiter für das Fleisch. Sensationell ist hier erneut die Sauce – oder vielmehr eine leichte Jus in diesem Fall, die mit ihrer Waldfruchtigkeit die Tellerkomponenten schön kontrastiert. Der Cidre bringt zusätzlich seine Säure ins Spiel, die für weitere Auflockerung am Gaumen sorgt und diesen Hauptgang zu einem durchaus leichten und zugänglichen Vergnügen macht.
Jitcamper ein Jahr gereift, gebratenes Früchtebrot und eingekochte Mirabellen ist eine Mischung aus Käsegang und Produktpräsentation. Entgegen unseren eigentlichen Vorlieben hat es uns hier vor allem das Gericht angetan. Der gehobelte und charaktervolle Jitcamper funktioniert wunderbar mit dem gebratenen Früchtebrot und lässt es zu einer warmen Käsestulle werden. Die beiden Stücke hingegen kombiniert man am besten mit den à part gereichten Mirabellen. Eine nette Idee, wobei die Stulle eigentlich auch gereicht hätte.
Das Dessert dreht sich um eine Deklination der Blaubeere gepaart mit Topinambur und Anis-Agastache. Eine interessante Kombination, vor allem die Beeren und der Korbblütler harmonieren gut. In diesem fruchtig-erdigen Umfeld wirkt die starke Anisnote des auch Duftnessel genannten Lippenblütlers allerdings etwas zu medizinisch für uns. Dennoch ein gutes Dessert, dem ein weniger hartes Parfait aber helfen würde.
Zwei gelungene Petits Fours samt Tee runden das Menü ab: Gebackene Futjes mit Persipancrème und Pflaumenmus, Glockenapfel in Preiselbeersaft eingelegt mit Sauerkleesorbet und dazu gekühlter Apfel-Kräuter-Heutee mit Zitronenthymian. Wir fragen uns lediglich, wozu der Tee serviert wird, denn unsere Weingläser sind noch gut gefüllt. Vielleicht ein kleines Verdauungshelferlein statt eines Kurzen?
Das war ein sehr kurzweiliger Abend in Buxtehude. Das No. 4 im Keller des Hotel Navigare wirkt zwar auf den ersten Blick etwas düster, und mit seinen lediglich vier Tischen ist es auch ziemlich ruhig da unten. Doch der Service und die Küche haben dabei geholfen, dass wir uns ganz schnell pudelwohl gefühlt haben. Jens Rittmeyer weiß genau, wo seine Stärken liegen, und spielt diese voll aus. Seine Küche ist zugänglich, ohne allzu wilde Geschmackskombinationen, basiert auf guten Produkten und klassischem Handwerk. Der pure Wohlgeschmack steht bei allen Gerichten im Vordergrund. Dass er dabei nicht stehengeblieben ist, zeigt einerseits seine Begeisterung für die vegetarische Küche, der ein eigenes Menü gewidmet ist, und andererseits natürlich ein Gang wie die drei Saucen mit Brot. Das macht Spaß, ist innovativ und qualitativ auf allerhöchstem Niveau. Wir sind gespannt, wie er Ideen wie diese weiterspinnt. Einziger Wermutstropfen heute Abend war die Weinbegleitung, die die bei unserem Besuch erst zwei Wochen amtierende Sommelière Lisa Braun noch von ihrem Vorgänger übernommen hat. Doch das weiß sie selbst auch, und wie sie uns im Gespräch erklärt, möchte sie die Weine schnellstmöglich dem hohen Niveau der Küche angleichen.
Fazit
Ein Essen bei Jens Rittmeyer ist eine sichere Bank. Tolle Produkte, tadelloses Handwerk und natürlich diese fantastischen Saucen. Ein Ausflug vor die Tore Hamburgs lohnt sich.
Wein
Grand Blanc de Noirs Extra Brut, Gosset, Champagne
2013 Attis Albariño Embaixador, Rias Baixas, Spanien
2012 Le Clos du Bourg, Domaine Huet, Loire, Frankreich
2015 “Botenstoff”, Scheurebe, Winzerhof Stahl, Franken
Kehrwieder Roggen IPA
2014 La Merced, Malvasia, Bodega Emilio Valerio, Navarra, Spanien
2015 Cabernet Franc Ampeleia IGT Costa Toscana, Toskana
Frederiksdal “Vin af Kirsebaer”, Sur Lie, Lolland, Dänemark
2016 Gelber Muskateller, Weingut Hörner, Pfalz
Hinweis
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