Restaurantkritik 28.Juli 2014

Von Krabbeltierchen und anderen Plaisierchen

Auch im Noma wird nur mit Wasser gekocht. Und, um noch etwas vorwegzunehmen, das Noma ist vielleicht auch nicht das weltbeste Restaurant – eine Erkenntnis aber bleibt bei allem Hype: Das Noma ist noch immer eines der maßgeblichsten Restaurants der Welt. Die Impulse, die René Redzepi erst für die Küche des Nordens, die New Nordic Cuisine, gab und weiterhin gibt, sind ebenso unübersehbar wie die Denkanstöße, die weit über die europäischen Grenzen hinaus nicht nur Nachahmer, sondern auch kreative Weiterentwickler gefunden haben.

Das Gesicht des Noma ist ganz klar der 36-jährige René Redzepi, der nach Stationen u.a. in der French Laundry von Thomas Keller und Ferran Adrias El Bulli im Jahre 2003 zusammen mit Claus Meyer das Noma eröffnete. Meyer ist heute im Noma nicht mehr operativ tätig, aber gastronomisch alles andere als inaktiv: Mit dem Restaurant Radio, einem neuen Restaurantkomplex namens The Standard, einer Deli- und einer Bäckerei-Kette, eigener Kochschule, eigenen Erzeugnissen (Mehl und Essig) und von ihm selektierten Produkten und kulinarischen Büchern hat er sich in Kopenhagen ein regelrechtes Gastro-Imperium aufgebaut (wir können übrigens all seine Lokale und Filialen empfehlen).

Der Guide Michelin zeichnet Noma bisher beharrlich mit "nur" zwei Sternen aus, dennoch zieht es ernsthafte Gourmetreisende und oberflächliche Prestigeesser gleichermaßen in Strömen an: Es ist nach wie vor äußerst schwierig, einen Tisch zu ergattern.

Nachdem Redzepi zu den Olympischen Spiele 2012 bereits ein Pop-Up-Gastspiel in London gegeben hatte, schließt das Noma im Januar 2015 erneut, um als "Noma at Mandarin Oriental Tokio" die frohe New-Nordic-Botschaft auch in Japan zu verbreiten. Dort will man das Noma-Manifest, u.a. nur mit Zutaten aus dem skandinavischen Raum zu kochen, auf japanische Ingredienzien anwenden. Man kann sich ausmalen, dass auch dort die Plätze heißbegehrt sind, zumal das Marketinggenie Redzepi ̶ wie auch während unseres Besuchs ̶ unermüdlich in Sachen PR unterwegs ist.

Jetzt ist aber Schluss mit dem Vorgeplänkel und Zeit fürs Essen: Rote Johannisbeeren und Lavendel sowie eine halbe eingelegte unreife Erdbeere sind nicht der Auftakt zu den Süßspeisen, der versehentlich hier an den Anfang gerutscht ist, sondern ein netter Muntermacher, bei dem Säure und Frische akzentuiert werden.

Mit der Nordischen Kokosnuss, einer ausgehöhlten Roten Bete, nimmt der Auftakt von Einstimmungen spielerisch seinen Lauf. Wie einen Cocktail schlürft man aus der immer noch schwer angesagten Knolle eine intensiv-erdige Pilzbrühe, die am Ende fruchtige Noten durch fermentierte Beeren entwickelt.

Wer schon immer mal wissen wollte, wie frittiertes Moos aus Nordschweden schmeckt, bekommt bei Moos und Steinpilzen die perfekte Gelegenheit. Uns fällt auf, dass skandinavisches Moos eine durchaus meersalzigere Note hat als jenes aus den teutonischen Wäldern. Aber das Ganze ist mehr als ein Gag: Im Zusammenspiel mit dem Steinpilzpulver und der Crème fraîche wird daraus eine würzig Knusperei.

Man darf nicht nur, man soll und muss im Noma mit den Fingern essen. Auch die Ulmen-Früchte zieht man durch die darunter aufgestrichene Paste aus gerösteter Hefe. Eigentlich schade, dass die Ulme dieses schmackhafte, nussige Grün nur wenige Tage im Jahr trägt. Da trifft es sich gut, dass im Noma genug Personal zur Verfügung steht, das zum Sammeln in die Wälder geschickt werden kann.

Frisch gesammelt sind auch die bunten Blättchen der Blumen-Tarte, welche nicht nur optisch toll wirkt, sondern mit ihrem knusprigen Seegras-Boden auch ganz wunderbar schmeckt.

Wenn Fressverrückte andächtig schweigen, die Kamera aus der Hand legen und sich um ihre Gänsehaut kümmern, dann muss schon etwas sehr Beeindruckendes passiert sein. Vor uns haben wir eine Mahagoni-Muschel mit Getreide. Anhand der Jahresringe auf der Schale, den Zuwachsstreifen, lässt sich das Alter bestimmen. Unsere Exemplare, erläutert der nette, wahnsinnig engagierte und kompetente Service, habe schon hundert Jahre auf dem Buckel. Geschmack und Konsistenz des Muschelfleisches sind fast unbeschreiblich – es schmeckt intensiv nach Muschel, jodig, aber fern jeder Fischigkeit. Mit dem Seegras-Pulver und dem Getreide etwas säuerlich, leicht in Richtung Tee gehend. Dabei zart schmelzend im Mund. Großartig!

Nach dieser nahezu unbeschreiblichen Meeresfrucht kann es der nachfolgende Gang nur schwer haben. Beim grünen Spargel mit Toffee von der Jakobsmuschel wird der gegarte Bio-Spargel in Spargelessig mariniert, bleibt geschmacklich aber trotzdem etwas blass. Zusammen mit der fischig-hefigen Aromatik der honigcremigen Jakobsmuschel-Paste ergibt sich dann mehr Intensität. Ein Gang, dessen Grundidee wir kurze Zeit später bei Nils Henkel elaborierter und spannender umgesetzt auf dem Teller hatten.

Der Hinweis beim Servieren des nächsten Ganges lautet "schnell in den Mund damit – es sollte nicht warm werden"! Somit schmelzen dann im Mund und nicht auf dem Filz die karamellisierte Milch und Seeteufel-Leber. Hier ergibt sich ein schönes Mundgefühl mit der gekühlten Fischleber, die erst mild-fischig und dann etwas intensiver, mit getreidigem Nachgeschmack, nach Leber schmeckt. Die Milchhaut rundet aromatisch ab und verdichtet mit leichter Süße das Gesamtbild.

An dieser Stelle verliert der Hochfrequenz-Reigen an Momentum. Bei Weißkohl und Meerfenchel ist die Küstenpflanze mit Brunnenkresse zu einer Art Pesto verarbeitet und füllt den frittierten Kohl. Geschmacklich könnte das aufgrund der sehr grünen, leicht anisigen Noten durchaus interessant sein, doch stört hier ein unangenehm öliger Geschmack.

Bei Æbleskiver, Liebstöckel und Petersilie stellt sich zumindest für Dänen die Frage "Ja, ist denn schon Weihnachten?". Es handelt sich nämlich um ein traditionelles Weihnachtsgebäck, das im Noma allerdings ohne skandinavischen Glühwein und ohne Apfelscheiben (nichts anderes heißt Æbleskiver übersetzt) serviert wird. Der in Rinderfett ausgebackene Teig wird stattdessen mit Spinat, Liebstöckel und Schalotten gefüllt und mit Bitterkräutern aromatisch abgerundet. Eine sehr gelungene Variation eines Klassikers.

Ein schöner Snack ist die nächste Kleinigkeit: Toast vom Seehasen. Rösches Brot, Seehasen-Rogen (der gottseidank nichts mit der Panscherei, die als deutscher Kaviar verkauft wird, zu tun hat) und knusprige Entenhaut. Mehr braucht es manchmal einfach nicht für großen Genuss. Und gegessen wird noch immer mit den Fingern...

Steckerlfisch à la Noma mag schwache Gemüter schockieren – wir finden es großartig! Der gegrillte Zanderkopf wird mit Seegras auf dem Barbecue gegart, und das Kräutersträußchen wird mit Meerrettichessig mariniert. Ein rurales und pures Esserlebnis, bei dem man vom Fisch nicht nur Bäckchen und Kinn, sondern durchaus alles, also auch die Augen essen kann und sollte – es schmeckt nämlich vorzüglich.

Noma für Zuhause. Schön, wenn man in einem Spitzenrestaurant Dinge entdeckt, die abgekupfert wurden und bei denen man sagen kann: "Das kann ich auch zu Hause machen." Beim verbrannten Lauch handelt es sich mitnichten um eine Redzepi-Kreation, sondern um die katalonische Bauernspeise Calçotada, hier in Kombination mit Kabeljau-Rogen. Die Zubereitung ist äußerst simpel, der Effekt aber wow: Man nehme eine Lauchstange, grille diese bis zum verkohlten Zustand wie im Bild und schneide sie dann auf. Teile des Inneren herausnehmen, mit etwas Thymian marinieren und dann mit Fischrogen wieder in die Lauchstange zurückgeben. Et voilà: Es ist cremig und schmeckt gleichermaßen süß, herb und rauchig.

Mit Apfel und Seetang gibt es eine kleine Erfrischungspause. Der Elstar-Winterapfel wird mit Schlehe gekocht und mit Seetang gewürzt. Bis auf die Dimension – man sollte nicht unbedingt den ganzen Apfel essen – eine gelungene Beruhigung der Geschmacksnerven.

Die Ravioli aus rohen Garnelen, Bärlauch, Rettich und Hefe sind der gelungene Auftakt des eigentlichen Menüs. Angenehm dezent wirken die unglaublich frisch nach Meer schmeckenden Garnelen und werden vom typischen, grünlich-knoblauchigen Geschmack des Bärlauchs in Szene gesetzt. Der hefigen Sauce gibt Öl von der Rhabarberwurzel Säure und den genau richtigen Ölgehalt für das Mundgefühl. Sehr fein und filigran.

Deutlich milder und fruchtiger, entgegen der beim Gang zuvor aufgebauten Spannung, geht es danach mit Milchquark, eingemachten Heidelbeeren, Zitronenthymian und Kiefer weiter. Obwohl der Quark äußerst frisch und intensiv zu sein scheint, hat er es schwer, sich gegen seine Begleiter durchzusetzen. Ein nettes Intermezzo, nicht mehr.

Aus Gründen der Überraschung gibt es die Menükarte erst nach dem Essen. So diente der harmlose Gang zuvor wohl nur dazu, den Gast in trügerischer Sicherheit vor Beef-Tatar und Ameisen zu wiegen. Das gar nicht mal so zarte und bemerkenswerte Fleisch wurde einige Wochen in Seegras und Sellerie gereift und nun mit Salz und Ameisen gewürzt. Sein Aroma gibt es erst nach einem längeren Kauprozess frei. Interessant ist die kurze, spitze (Ameisen-)Säure sowie das leichte Szechuan-Pfeffer-Aroma. Ekel? Nein. PR-Gag? Durchaus auch. Kulinarisch spannend? Auf jeden Fall. In seinem Kochbuch DOM - Die neue brasilianische Küche erklärt Alex Atala, dass Ameisen in Brasilien schon seit langer Zeit zum Würzen genutzt werden. Also wird das Rad mit diesem Gang nicht neu erfunden, sondern nur ein Fingerzeig gegeben, was man alles in kulinarische Überlegungen einbeziehen kann – wenn man will.

Die Aufregung währt einen Gang, denn mit Roter Bete, Schlehe und aromatischen Kräutern geht es wieder etwas ruhiger weiter. Die Bete wurde drei Stunden gegart und dabei alle zehn Minuten gewendet. Die daraus resultierende Intensität wird von Rote-Bete-Öl und Kümmel weiter unterstützt. Aromatischen Reiz und Tiefe steuern in Form von Säure und Frucht fermentierte Pflaume und unreife Schlehe bei. Der Bronzefenchel soll natürlich nicht nur verdauungsfördernd wirken, sondern es gehen von ihm Vegetabilität und sein typisches Anisaroma aus.

Ei mit frischem Grün liest sich recht banal und wirkt auch optisch eher hübsch denn spannend. Aber das Entenei ist perfekt gegart und leicht geräuchert. In den wieder einmal handgepflückten Blumen befindet sich auch gegrillter Bärlauch, der schöne Röstaromen beisteuert, so dass in Summe ein guter Gang daraus wird.

Als Abschluss der herzhaften Gerichte schickt die Küche mit Steinbutt, Waldsauerklee und Brunnenkresse ein überraschend minimalistisches Hauptgericht. So wird keine dicke Schnitte aus dem Steinbutt präsentiert, wohl aber ein qualitativ tolles Stück Fisch. Bei diesem Gang überzeugt der Purismus, weil einfach alle Komponenten, zu denen auch die Meerrettichcrème gehört, harmonieren und - auch wenn es auf dem Bild nicht so scheint - sehr gut proportioniert sind.

Erfrischend durch eine grüne Aromatik und spürbare Säure geht mit Rhabarber und Sauerampfer der eigentlich süße Abschluss los. Und dabei sieht es auch noch wunderschön aus...

Wir sind bei Desserts zwar glücklich, wenn sie nicht allzu mächtig ausfallen, mögen es aber durchaus komplex. Dennoch überzeugt uns der Purismus von Aronia- oder Apfelbeeren und Söl. Die Kombination der süß-säuerlich-herben, an Heidelbeeren erinnernden Früchte mit Söl (Lappentang, eine Algenart) schmeckt spannender, als das Bild vermuten lässt.

Es folgt Skyr, eine Art Quark, mit Sanddorn-Marmelade, Karamell-"Brot" und Holunderblütensalz. Ein hübsche Idee, Brot gegen Ende des Menüs zu servieren, aber kulinarisch eher durchschnittlich.

Tolles Gebäck zum Abschluss, wobei man Petit fours bei dieser Größe kaum mehr sagen kann. Statt dem traditionellen Zimt (kein skandinavisches Produkt) wird hier geröstete Gerste verwendet.

Zum Kaffee noch eine Knabberei aus krosser Schweinehaut mit Schokolade und Beeren.

Natürlich bietet das Noma auch eine Weinbegleitung an. Die Auswahl hält durchaus Entdeckungen bereit und deckt das Spektrum von bio-dynamisch erzeugten Weinen, Orange Wines und Natural Wines ab. Am Ende empfanden wir nicht alle Weine als passend, und manche überforderten uns sensorisch – wobei die Gerichte eine echte "Begleitung" auch nicht einfach machen. Teilweise hätten Weine mit ein wenig Restsüße uns besser gefallen. Zeitgemäß kann der Gast auch eine alkoholfreie Begleitung aus "Unvergorenem" ordern, die zum großen Teil aus frischen Obst- und Gemüsesäften besteht. Hier gab es tolle Getränke, die auf Dauer aber zu mächtig und einen Tick zu süß waren. Vielleicht ist ein simples Bier im Zweifel die richtige Wahl.

Keine Tischdecken, dafür Essen mit den Fingern, ausgefallene Produkte und zu jedem Gang eine Geschichte, die teilweise länger als der Happen danach ist – das Noma ist die Erlebnisgastronomie der Spitzenküche. Wer allerdings ein bacchantisches Gelage erwartet, wird vom Purismus und der Reduktion enttäuscht sein. Auch unvoreingenommenen und experimentierfreudigen Essern bereitet nicht jeder Gang gleichermaßen Freude und Genuss – aber es ist stets inspirierend und regt zur Auseinandersetzung an. Unzählige kulinarische Entwicklungen und aktuelle Strömungen haben ihren Ursprung im Noma. Da ist es für den interessierten Gast doch immer gut, das Original zu kennen.

FAZIT

Das Noma bleibt ein eigenwilliger, streitbarer Quell der Inspiration – und ist in jedem Fall einen Besuch wert.

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WEINE

NV La Closerie-Les Béguines, Jérôme Prevost, Champagne

2012 Lysegron, Franz Strohmeier, St. Stefan-Weststeiermark

2009 Rosé des Riceys, Olivier Horiot, Aube-Champagne

2012 Grüner Veitliner Per Se, Martin & Anna Arndofer, Kremstal

NV Fanino Rose, Gabrio Bini, Serragghia — Italien

2012 Grenache Blanc Brut Nature, Henri Milan, St Remy - Provence

2012 Auxey-Duresses Les Crais, Dom de Chassorney, Saint-Romain - Bourgogne

2012 Kögelberg, Fred Loimer, Kamptal - Niederosterreich

2012 Rosé d'un jour, Mark Angéli de La Sansonniére, Anjou-Loire

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