Restaurantkritik 30.Juni 2014

Grün. Grüner. Sauerbraten.

Wieder mal auf den letzten Drücker eilen wir gen Restaurant, um unsere Reservierungszeit nicht um das inflationär genutzte akademische Quentchen auszureizen. Beschleunigten Schrittes geht es durch die engen Gassen Nürnbergs, kaum einen Blick haben wir für das fabulöse Albrecht-Dürer-Haus übrig, nur schemenhaft nehmen wir die über der Stadt thronende Kaiserburg wahr. Hinfort Richtung Weinmarkt lautet die Devise. Einer der Sternefresser wirft mit leicht erhöhtem Puls ein, dass die Altstadt im zweiten Weltkrieg zwar fast vollständig zerstört worden sei, ab 1948 allerdings ziemlich originalgetreu wieder aufgebaut wurde. Noch beeindruckt ob dieser Leistung finden wir schließlich unser Ziel in einem urigen, schmalen Fachwerkhaus an besagtem Weinmarkt, in der Nummer 3.

„Ich bin fast so aufgeregt wie vor dem ersten Mal – und auch vorm Noma“, murmelt ein anderer Sternefresser, für den es der erste Besuch im Essigbrätlein ist. Der letzte im Bunde läutet die Glocke, die für den Einlass bedient werden muss. Dieses Instrument, allerdings nicht von solch charmant mechanischer Arbeitsweise, haben wir zuletzt bei Carmelo Greco in der Osteria Enoteca erlebt, die sich allerdings mitten im Frankfurter sozialen Brennpunkt Rödelheim befand.

Mancher Feinschmecker bezeichnet das Essigbrätlein als eine deutsche Kopie des Nomas, die Betreiber selbst charakterisieren den Stil des Zweisterneresraurants als „Gewürzküche“. Unzweifelhaft bleibt in jedem Fall die Stellung des Hauses in Gourmetkreisen als „Love-it-or-hate-it“-Restaurant. Nicht wenige rieben sich beim Blick in den 2008er Guide Michelin verwundert die Augen, als das Restaurant den zweiten Stern erhielt. Auf den Meriten dieser Auszeichnung ruhte man sich aber nicht aus, sondern nahm sie als Ansporn, den für sich gefundenen Stil noch konsequenter weiterzuentwickeln. Erscheint der Name Essigbrätlein ob der Küche etwas unpassend, hat er aus historischen Gründen Bestand. Er leitet sich von einer früh-fränkischen Form des Sauerbratens ab, der hier allerdings schon seit langem nicht mehr serviert wurde.

Eine weitere Besonderheit ist die Doppelspitze in der Küche. Andree Köthe eröffnete 1989 das Lokal im Alleingang, seit 1997 arbeitet er jedoch gleichberechtigt mit Küchenchef Yves Ollech zusammen. Uns bleibt es ein Rätsel, wie dies in der oft testosterongeschwängerten Küchenatmosphäre funktionieren kann, aber der Erfolg gibt dem Duo Recht. Dass hier der Teamgedanke über vielem anderen steht, signalisiert auch das goldene Schild am Eingang, auf dem neben den beiden Köchen auch der Name des langjährigen Sommeliers Ivan Jakir zu finden ist. Zeit also, die Küche der beiden genauer unter die Lupe zu nehmen.

Photocredit: Andrea Thode / Effilee

Mag der kleine, schmucke Gastraum holzvertäfelt und das Licht gedämpft sein – schon das erste Amuse-Gueule ist ein knackig-frischer Muntermacher. Der angenehme, lockere Service empfiehlt uns, Erbse, Pistazie und Minze einer Weißwurst gleich aus der Erbsenschote zu zuzeln. Und tatsächlich: Wunderbar verbinden sich dabei vegetabile und leicht süß-nussige Aromen.

Bei der eingelegten Scheinquittenblüte mit Macadamia stellt die Küche der feinen, fettreichen Nuss auf äußerst angenehme Weise die Säurespitze der intensiven, an herkömmliche Quitten erinnernden Aromatik der Blüten der noch sehr jungen Obstsorte entgegen. Der Geschmack geht Richtung Marzipan und offenbart ganz nebenbei eine neue Seite des Champagners Billecart Salmon, der zu den Amuses gereicht wird.

Das gedämpfte, warme Brot mit Selleriecrème, Senfblättern und gebeiztem Eigelb ist ein Haps, der Wohlfühlgeschmack mit Spannung und einer schwer definierbaren "Andersartigkeit" vereint. Herrlich süffig, tolles Mundgefühl, aber durch Schärfe und grüne Aromatik niemals ins Banale abdriftend.

Unseretwegen hätte der muntere Reigen von Kleinigkeiten genauso weitergehen können, er endet nun aber mit fermentierter Steckrübe, Steckrübensaft, gebackenem Hafer und Petersilienwurzelcrème. Über dem Löffel liegt deutlich riechbar der prägnante Duft des Notreserve-Gemüses. Der ebenso wie die Steckrübe mit Viehfutter assoziierte Hafer steuert Süße und eine knackige Textur bei. Ein toller Happen mit lange anhaltendem Geschmack.

Die Seeforelle mit Gurke vereint als Menüauftakt hervorragend Frische, eine enorme Tiefe und Natürlichkeit auf dem Teller. Das Einkorn bringt nussige Eindrücke und fungiert zugleich als ein natürlicher Texturgeber. Die eingelegten Gurken (Süße und Säure), die marinierten Gurken und die Korianderstiele (Frische und Kräutrigkeit) werden vom Apfel-Fichtensprossen-Saft aromatisch genial eingefasst.

Beim Romanesco mit Erdnussbutter liefert die Küche die gemüsige Interpretation des „Nose-to-tail“-Konzepts, das visuell zunächst improvisiert wirkt. Beim sogenannten "Root-to-flower" wird alles vom Kopf über die Blätter bis hin zum Saft und Stiel vom Romanesco verarbeitet und in das Gericht sinnvoll integriert. Das klingt radikal und verheißt viele grüne Noten, doch das Resultat auf dem Teller ist weitaus überraschender. Das liegt zum einen an den unterschiedlichen Zubereitungen jedes einzelnen Bestandteils: roh, gegart und in Buttermilch mariniert. Zum anderen legt sich die Erdnussbutter als verbindendes Element über alle Komponenten. Spannung in Form von Säure fügen unreife, eingelegte Johannisbeeren und von ätherischer Bitterkeit Agastache, Pimpinelle und Geranienblätter-Julienne hinzu. Für manche mag das durchaus verstörend oder zu "grün" wirken – doch wir sind von dieser Konsequenz schlichtweg begeistert!

Wesentlich zugänglicher und süffiger, aber nicht weniger durchdacht wird es danach beim Zitronen-Sauerkraut, das inzwischen zum Klassiker des Hauses avanciert ist. Der Weißkohl ist teils etwas gröber, teils sehr fein geschnitten und nicht milchsauer vergorenen, sondern mit Zitrone gesäuert. Darunter befindet sich ein Kartoffelstampf sowie Stücke gegarter Kartoffel, obenauf die gebratene Sahne. Statt ein paar Nürnberger Rostbratwürstchen gibt es dazu Sauerampferblätter. Im Zusammenspiel mit der Gewürzessenz vermissen wir Uli Hoeneß’ Lieblinge allerdings nicht. Bei aller Reichhaltigkeit dieses Ganges kommen wir nicht umhin, uns auch die allerletzte Gabel gierig in den Mund zu schieben.

Leichtigkeit und scheinbarer Purismus kehren mit dem Saibling „geräuchert“ zurück. Dankenswerterweise füllt die Küche jeden Teller gleich mit drei Stücken des Fisches, der mit eingelegten grünen Wacholderbeeren drapiert ist. Darunter befinden sich außerdem Streifen grüner Wacholdercrème und Sahne mit Wacholderasche und Tomatensaft. Das wirkt eingänglich und ist unkompliziert zu essen, eröffnet aber auch die Möglichkeit, vom reinen Wohlgeschmack des ersten Stücks bis zum dritten Fischsegment immer mehr Details wahrzunehmen. So können wir dankenswerterweise zu Wiederholungstätern werden: Scheinbar Widersprüchliches wie die Crème aus getrockneter Roter Bete, Grapefruit und Tomatenkernen wird kombiniert und überrascht uns dann durch Harmonie, Tiefe und einen tollen Spannungsbogen. Eine Götterspeise, die uns auch in der Rubrik „Ein Teller mit...“ begeistert!

Der geschossene Grünkohl mit Lorbeer neutralisiert dann zunächst die Papillen – und fordert anschließend unsere Geschmacksnerven heraus. Auf den eigentlichen Strünken ist das Wintergemüse nachgewachsen, also "geschossen", und schmeckt etwas feiner als gewohnt. Da die Beigaben Kerbel und Lorbeergelee Stiele, Blätter, Grünkohlsaft und Grünkohlcrème aber nur ergänzen, bleibt die Aromatik dieses Tellers insgesamt sehr grün, recht eindimensional und etwas anstregend. Nun wird es wirklich Zeit für ein Stück Fleisch...

Unser Wunsch wird erhört: Es folgt das Lamm mit Lauch. Begleitet wird das intensive Hüftfleisch mit dem daran belassenen Fett von geschmortem und rohem Lauch und einer Crème aus gegrilltem Lauch. Simpel? Mitnichten, denn die Schärfe und das feinwürzige Laucharoma werden von Joghurt und einer Butter mit Brotrinde kongenial umspielt. In Verbindung mit dem Fleischgeschmack und den Röstnöten verdichtet sich alles zu einem tollen, herrlich süffigen Hauptgericht.

Die Maronen mit Johannisbeerstraucheis bilden den Auftakt aus der süßen Küche. Dabei kommt dieses Dessert weniger süß, sondern eher erdig, mit aromatischer Tiefe und Säureakzenten der Johannisbeeren daher. Die Maronen-Luftschokolade deutet im wahrsten Sinne nur einen Hauch Schokoladigkeit an, wobei die gehobelten rohen Maronen einen (gewünschten?) adstringierenden Kick liefern. Ein ungewöhnliches, aber sehr gutes Dessert.

Gärtnern ist der schnell wachsende und wuchernde Japanische Knöterich ein Graus – im Essigbrätlein rückt man ihm durch Kochen und Auf(fr)essen zu Leibe. Er schmeckt dem heimischen Rhabarber ganz ähnlich (beide enthalten viel Oxalsäure), und beim Wiesenkräutereis ersetzt das ungeliebte Unkraut folgerichtig das beliebte Saisongemüse. Abgerundet durch eingelegte Aubergine wird daraus ein zunächst recht simples, aber erfrischendes, süß-saures und andersartiges Dessert.

Tief beeindruckt und kulinarisch beseelt naschen wir danach von den Schokoladentäfelchen mit Nüssen, Himbeere und Trauben. Der Rest wird selbstverständlich für die Lieben zuhause eingepackt.

Das Essigbrätlein ist ein Solitär in der kulinarischen Landschaft Deutschlands. Die Küche macht ihr eigenes Ding, vermeidet es aber, irgendwelche Dogmen zu verfolgen – sehen wir davon ab, dass sie konsequent auf Luxusprodukte verzichtet. Man spürt und schmeckt den Willen, sich stetig weiterzuentwickeln. Das gefällt uns sehr. Wir können allerdings auch nachvollziehen, dass sich die kulinarischen Geister an dieser Küche scheiden. Gänzlich unvorbereitet sollte man eigenwillige Köche wie Andree Köthe und Yves Ollech – ebenso wie stilistisch verwandte Kollegen wie Matthias Schmidt (Villa Merton) und Daniel Achilles (Reinstoff) – nicht aufsuchen. Wir jedenfalls waren von dem Erlebnis tief berührt.

Service

Zwar fällt das Platzangebot im Essigbrätlein nicht ganz so kuschelig aus wie im Kölner Le Moissonnier, dennoch muss mit dieser knappen Ressource gewirtschaftet werden. Dies gelingt dem vierköpfigen Serviceteam um Ivan Jakir ganz wunderbar. Was hier an Platz fehlt, wird bei aller Professionalität durch fränkisch-kroatische Gastfreundschaft wettgemacht. Einfach zum Wohlfühlen.

Weinbegleitung

In unserer vinophilen Neugier wählen wir nahezu immer die Wein- oder auch mal die Saftbegleitung. Nicht immer lässt uns die alkoholische Variante uneingeschränkt zufrieden zurück, so dass wir uns gelegentlich durchaus eine Flasche zum Durchtrinken wünschten. Darüber hinaus kommen selbst hartgeso(tt/ff)ene Sternefresser mengenmäßig mitunter an ihre Kapazitätsgrenzen. Zudem wissen wir, wie schwierig die Abstimmung von Wein und Speisen ist – besonders, wenn wir die Auswahl,die der Flaschenvorat im Keller dem Sommelier bietet und nicht zuletzt die Erwartungshaltung des Gastes mit einbeziehen. Maître und Sommelier Ivan Jakir gebührt unser Respekt angesichts der Sensibilität, die er mit seiner Selektion zu den wahrlich nicht einfach zu begleitenden Gerichte beweist. Großartige und/oder namhafte Solisten, die dem Essen nicht die Schau stehlen, sondern weitere Nuancen hinzufügen, stehen neben überraschenden Preziosen wie dem Wein aus seinem Heimatland Kroatien. Dieser erst verschlossene und schwer wirkende Weißwein brillierte in Verbindung mit dem Essen.

Fazit

Ampel auf Grün: Spannendes und Innovatives aus der Miniküche. Wer Gemüse liebt und das Abenteuer mag, sollte das Essigbrätlein unbedingt wagen!

Eure Meinung?

Was haltet Ihr von der Gemüseküche im 'Essigbrätlein'?

 

WEINE

Champagner Billecart Salmon Brut Reserve

2012 Sauvignon Blanc MG, Weingut Luckert Sulzfeld, Franken

2011 Weisser Burgunder, Weingut von Winning Deidesheim, Pfalz

2012 Posip, Weingut Korta Katarina Orebic, Kroatien

2010 Riesling Morstein GG MG, Weingut Wittmann Westhofen, Rheinhessen

2007 Sauvignon Blanc „Silex“, Didier Dagueneau Pouilly-Fumé, Loire, Frankreich

2008 Pinot Noir “Knox Alexander”, Au Bon Climat California, USA

2009 Seewinkel BA, Weingut Velich Burgenland, Österreich

2011 Escherndorfer Lump BA, Weingut Horst Sauer Escherndorf, Franken

Fressfreunde

David Schnapp

"Im Sommer 2013: überzeugendes Konzept – der Zeit voraus, viele großartige Gerichte oder Kombinationen, einiges allerdings auch wieder sehr einfach und das Dessert sogar schwach (Kiefernadeleis mit Kräutern und Limetten)"

Gourmör

"Ein charmantes und intimes Restaurant. Vor zwei Jahren genossen wir dort ein wunderbares Abendessen mit Gerichten, an die wir uns noch heute gerne zurück erinnern. Es gab aber auch Kompositionen, die geschmacklich nicht funktionierten."

Vijay Sapre

"Eines der ganz wenigen Restaurants in Deutschland, wo man tatsächlich Gerichte bekommt, die man nicht so oder so ähnlich schon woanders gesehen hat."

Boris Maskow

"Ich bin immer wieder begeistert! Grüne Küche, wie ich sie gerne habe (Kiefernnadelessenz!) und eine dazu passende Weinkompetenz. Das alles in gemütlichem, dabei nicht bräsigem Rahmen."

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Ivan Jakir

1. Anzahl der Positionen
Ca. 1200 Weine 

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Wir konzentrieren uns auf Weine aus Deutschland.

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
2012er Silvaner vom Weingut Luckert in Franken für 29€ / Flasche
2004er La Tache Grand Cru von Romanee Conti für 2490€ / Flasche

4. Die ungewöhnlichste Rarität?
Wir führen 38 diverse Positionen von Domaine Coche-Dury

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Der 2012er Posip von Korta Katarina aus Kroatien.

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Ebenfalls der 2012er Posip von Korta Katarina aus Kroatien

7. Ihr Lieblingswein...
2011er Weißer Burgunder von Von Winning aus der Pfalz. Dieser Wein ist ein wahrer deutscher Puligny-Montrachet!

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