Matthias Ruhl: der Drei-Sterne-Fresser
Zur Person: Matthias Ruhl, geboren 1973 in Freiburg, lebt mit seiner Familie in Los Altos, Kalifornien, und ist in der IT-Branche tätig. Im April 2024 hatte er alle 144 Drei-Sterne-Restaurants der Welt besucht, Anfang Juli hat er nachgelegt. Seine Erlebnisse schreibt er in wunderbar uneitlen Blogbeiträgen auf. Wir haben ihn im Hamburger Haerlin zum Interview getroffen.
Sf: Matthias, Du hast sämtliche der aktuell 145 Drei-Sterne-Restaurants weltweit besucht, zuletzt dieser Tage das neu hinzugekommene ›Jordnaer‹ – wie und wann wurde die Idee zu diesem kulinarischen Rekordversuch geboren?
MR: Das war während der Covid-Pandemie, als wir weder reisen noch auswärts essen gehen konnten. Zwei meiner liebsten Hobbys mussten damals also pausieren. In dieser Zeit träumten wir davon, nach der Pandemie wieder zu guten Restaurants um die Welt zu reisen. Natürlich auch zu Dreisternern. Aber zu welchen? … Warum nicht einfach zu allen ?!
Mein 50. Geburtstag lag noch ein paar Jahre in der Zukunft, und das wurde dann das Ziel: bis zu diesem Meilenstein alle noch fehlenden Dreisterner zu besuchen. Und damit diese Reisen nicht ganz »nutzlos« sind, habe ich angefangen, ein Blog über meine Restaurantbesuche zu schreiben: Travelsforstars.com.
Als Du im April mit dem Pariser ›Le Gabriel‹ das damals finale Drei-Sterne-Restaurant besucht hattest: Was war das für ein Gefühl?
Hauptsächlich Erleichterung, es geschafft zu haben, und nicht mehr einem sich ständig ändernden Ziel hinterherzulaufen.
Gibt es andere Personen, die schon alle Dreisterner besucht haben?
Meines Wissens waren das nur Andy Hayler (2004-2018) und Gerhard Huber (2017). Aber wenn man bedenkt, dass es zum Beispiel 1951 »weltweit«, faktisch also: in Frankreich, nur sieben Drei-Sterne Restaurants gab, dann kann man eigentlich davon ausgehen, dass irgendjemand die damals auch alle besucht hat. Aber seit Michelin außerhalb Europas so stark expandiert war es vermutlich niemand anderes.
Wie wurdest Du kulinarisch sozialisiert? Kam die Begeisterung für gutes Essen schon aus dem Elternhaus?
Wir waren als Kinder fast nie in Restaurants, und aufwändige Gerichte gab es zuhause auch eher nicht – das war hauptsächlich eine Folge der mangelnden Geldmittel. Im Studium bin ich dann gerne essen gegangen, aber wirklich mit dem »fine dining« habe ich erst in meinem ersten Job bei Google in Kalifornien angefangen. In San Francisco gibt es viele gute Restaurants, und selbst die besternten sind nicht sehr förmlich. Da fühlt man sich auch als »Neuling« gleich willkommen.
Im Bild: ein Gericht aus dem ›Jordnaer‹
Wie planst Du Deine Reisen? Haben Dich Michelin-Neuerscheinungen nicht wahnsinnig gemacht?
Am Anfang war es einfach, man fasst einfach alle Restaurants in einer Gegend zu einer einzelnen Reise zusammen, z.B. nach Paris oder in die französischen Alpen. Mit genügend Vorlaufzeit zum Planen kann man dann jeden Abend essen gehen. Schwieriger wurde es gegen Ende, wenn Michelin ständig vereinzelt neue Drei-Sterne vergibt, die dann nicht gerade nahe beieinander liegen.
Ich habe dann immer die Michelin-Verleihungen Live auf YouTube verfolgt, und gegebenenfalls die neuen Dreisterner sofort reserviert. Aber selbst das war natürlich keine Garantie, dass es nicht schon wieder neue Dreisterner gibt, bevor man mit den aktuell geplanten durch ist. Das ist mir ein paar Mal so gegangen... Am Ende brauchte ich ein bisschen Glück, und war dann erleichtert, als ich fertig war.
Da ich nur Restaurants gezählt habe, die zum Zeitpunkt meines Besuchs drei Sterne hatten, gab es leider keine Möglichkeit, auf gut Glück »im Voraus« Zweisterner zu besuchen, die dann vielleicht demnächst einen Dritten bekommen.
Im Bild: die Menükarte des ›Ree-Na‹ in Stavanger, Norwegen
Du lebst in der Bay Area in Kalifornien - aber sobald es einen neuen Dreisterner gab, warst Du innerhalb weniger Wochen dort, egal wo. Woher nimmst Du die Zeit und wie ist das mit dem Job vereinbar?
Das ist einfach: ich mache momentan eine Pause zwischen Jobs. Ich hatte einige Jahre für ein Startup gearbeitet, und mir vorgenommen, nach der Schinderei eine Weile freizunehmen. Das hat dann natürlich gut für dieses Michelin-Projekt gepasst. Wir haben allerdings zwei Kinder zuhause, die noch etwas zu jung für diese Reisen und Restaurants sind, da müssen wir immer eine Kinderbetreuung organisieren.
Du reist fast immer mit Deiner Frau – ist sie genauso »essverrückt« wie Du?
Ihr erstes »Tasting Menu« hatte sie bei unserem ersten Date, das war aber eher spontan entschieden damals. Sie mag es zwar auch, gut essen zu gehen mit dem ganzen Drumherum, und zu reisen, aber ganz so verrückt wie ich ist sie dann doch nicht.
Wie viele Flugmeilen hast Du über die Jahre gesammelt?
Ich habe bei United vor ein paar Jahren die Eine-Million-Meilen-Marke geknackt. Zusammen mit anderen Fluglinien werden es so an die zwei Millionen sein, aber natürlich nicht nur, um essen zu gehen.
Kannst Du ungefähr beziffern, was der Spaß Dich in Summe gekostet hat?
Ich habe das nie zusammengerechnet, aber für zwei Personen bewegt man sich generell in der Größenordnung von 500 bis 1000 Euro pro Drei-Sterne-Restaurant – in Summe also vielleicht 100.000 Euro alleine für das Essen, und nochmal soviel für die Reisekosten.
Im Bild: Matthias Ruhl und seine Frau im ›La Vague d'Or‹ in Saint-Tropez
Welches war das teuerstes Restaurant?
Das ›Ultraviolet‹ in Shanghai. Wir hatten das Menu »UV8888«, das 8.888 Yuan inklusive Weinbegleitung kostet, und das waren damals circa 1.400 Euro pro Person.
Stellte sich manchmal eine Art »Fatigue« ein, wo Du dachtest: wozu eigentlich das Ganze?
Ja, ein paar Mal, wenn es unmöglich schien, ein Restaurant zu reservieren. Oder wenn ich meine Reservierungen wegen Flugverspätungen oder Staus um ein Haar verpasst hätte. Oder aber wenn Michelin neue Dreisterner kürte, die dann umgehend für Monate oder Jahre im voraus ausgebucht waren. Beim Essen selbst hatte ich aber immer Spaß!
Was waren, neben dem Essen, die erinnerungswürdigsten Situationen innerhalb der Restaurants?
›Meadowood‹ 2011, da haben wir am Ende das komplette Essen samt Weinbegleitung umsonst bekommen, weil unser Tisch bei der Ankunft nicht fertig war, und wir die ersten 30 Minuten an der Bar essen mussten.
Fast schon eine Comedyshow ist der Käsewagen in Form einer Kuh im ›Inn at Little Washington‹ und – kein Dreisterner – der Chef im ›The Kitchen‹ in Sacramento. Ansonsten gäbe es noch zahlreiche Beispiele von tollem Service weltweit.
Und das bemerkenswerteste Erlebnis außerhalb der Restaurants?
Einmal hat mich der Küchenchef eines Drei-Sterne Restaurants angerufen, um mich zu bitten, meine Bewertungen nochmal zu überdenken, da ich ja vielleicht noch einen Jetlag beim Essen hatte.
Im Bild: ein Gericht im ›Ultraviolet‹ in Shanghai
Was waren für Dich in all den Jahren die, sagen wir: fünf besten Gesamterlebnisse?
Das waren zu viele gute, um nur fünf zu nennen, aber als eine kleine Auswahl:
– Das ›Alinea‹ in Chicago bei drei Besuchen zwischen 2007 und 2009, bevor sie drei Sterne hatten. 24-Gänge-Menus, die unglaublich kreativ, aber auch unglaublich köstlich waren.
– ›Waldhotel Sonnora‹, ich hatte damals nicht gedacht, dass klassische französische Küche so gut sein kann.
– ›Martin Berasategui‹, als Höhepunkt unserer Hochzeitsreise durch Spanien
– ›Anne-Sophie Pic‹: fantastisches Essen und Service, dazu wirklich interessante Erklärungen über die Entstehung jedes Gerichts.
– ›Schloss Schauenstein‹, das war unser erstes Drei-Sterne-Restaurant nach Covid, und es war beeindruckend, was man selbst im Winter in den Alpen praktisch nur mit lokalen Zutaten kochen kann.
– ›Da Vittorio‹, wir waren dort am letzten Abend vor der Sommerpause, und alle Mitarbeiter waren sichtlich gut gelaunt und relaxed, was ansteckend wirkte. Sogar der Hund eines Mitarbeiters lief kreuz und quer durch das Restaurant. Und das Essen war natürlich auch fantastisch.
Im Bild: Kaisergranat im ›Waldhotel Sonnora‹
Und was waren die größten Enttäuschungen?
›Alinea‹ in Chicago, 2015, das Essen war so viel schwächer als sechs Jahre zuvor, und der Service war »phoned in«, einfach heruntergespult, ohne Persönlichkeit. Wenn man über Jahre immer komplett ausgebucht ist, muss man sich scheinbar nicht mehr anstrengen...
Nicht kulinarisch, aber in Sachen Service: das ›Addison‹ bei San Diego, 2021, noch vor dem dritten Stern, wo sie uns Champagner vom Wagen servierten, ohne den Preis zu nennen. Normalerweise sollte man denken, dass das dann maximal 50 Dollar pro Glas sind. Hier waren es 250 Dollar pro Glas, für mittelmäßigen Champagner, was wir erst auf der Rechnung sahen. Autsch!
Generell gilt: Bei allen Drei-Sterne-Restaurants, die 15 oder weniger Gesamtpunkte auf meinem Blog haben, musste ich mich wirklich fragen, was Michelin sich gedacht hat – oder ob wir nur einen unglaublich schlechten Tag erwischt haben.
Im Bild: das Dessert im ›Alinea‹
Was trinkst Du in den Restaurants?
Normalerweise die Weinbegleitung. Einerseits weil man sich dann keine zu großen Gedanken machen muss, aber auch weil es wahrscheinlich hilfreich ist, wenn ich dazu ein paar Worte in meiner Besprechung sagen kann.
Welches war die kniffligste Reservierung und wie lief das ab?
Die meisten Drei-Sterne Restaurants sind einfach zu reservieren, man braucht nur Geduld. Eines der am längsten im Voraus ausgebuchten Restaurants war ›Mizai‹ in Kyoto, da musste ich 13 Monate vorher reservieren.
Die allerschwierigste Reservierung war aber das ›Makimura‹ in Tokyo. Das Restaurant ist normalerweise zu 100% mit Stammgästen ausgebucht, die nach jedem Essen gleich den nächstmöglichen Termin reservieren. Theoretisch kann man am ersten eines jeden Monats ab 9 Uhr morgens auch telefonisch Plätze reservieren, aber in der Praxis haben wir immer nur das Besetztzeichen oder endloses Klingeln ohne Antwort gehört. Hotel-Concierges waren hier auch keine Hilfe. Am Ende musste ich ein Computerprogramm schreiben, das jede Minute die Buchungswebseite des Restaurants herunterlädt und mir eine SMS schickt falls es wieder eine offene Reservierung gibt. Das hat dann nach ein paar Monaten zum Glück auch geklappt.
Im Bild: Das Ehepaar Ruhl mit dem Inhaber-Paar des ›Makimura‹
Hast Du in manchen Restaurants Promis gesichtet?
Erstaunlich wenige bislang. In Kalifornien einmal Steve Jobs, in Courchevel im Drei-Sterne Restaurant ›1947‹ den Eigentümer des Madison Square Garden und der New York Knicks.
Was war Deine weiteste Reise zu einem einzelnen Restaurant?
Normalerweise versuche ich die Reisen noch mit etwas anderem zu verbinden, aber in Shanghai und Beijing war ich im Prinzip nur für jeweils ein Restaurant.
Du gehst auch sonst sehr häufig Essen: gibt es jenseits der drei Sterne persönliche Lieblings- oder Stammrestaurants?
Restaurants, zu denen ich ständig gehen könnte, sind eher von der unkomplizierten Sorte. In San Francisco mag ich ›Flour + Water‹, die tolle Pizzas and Pasta machen. Deren »Pasta Tasting Menu« ist immer eine gute Wahl. Und jedes Mal wenn ich in meine Heimatstadt Freiburg zurückkehre, versuche ich im ›Kartoffelhaus‹ vorbeizuschauen.
Welches war eigentlich Dein allererstes Drei-Sterne-Restaurant?
Das war ›The French Laundry‹ in Yountville, am 14. April 2007.
Und welches Drei-Sterne-Restaurant hast Du am häufigsten besucht?
›The French Laundry‹, 15 Mal.
Man findet Dich in keiner der einschlägigen Facebook-Gruppen oder sonstigen Foodie-Zirkeln, Du bist völlig autark – was wir sehr erfrischend finden. Lernst Du auf den Reisen manchmal Gleichgesinnte kennen?
Ab und zu kommt man mit anderen Gästen ins Gespräch, vor allem wenn man zusammen an einem Tresen sitzt. Oder über Instagram.
Nach all den Erlebnissen: sind die Kriterien des Michelin weltweit wirklich identisch oder vergleichbar?
Ich habe das Gefühl, dass es außerhalb Europas etwas einfacher ist, einen oder mehrere Sterne zu bekommen, insbesondere in Asien. In Hongkong gibt es zum Beispiel einen italienischen Dreisterner, der, zumindest für unser Essen damals, in Italien maximal einen Stern bekäme. [Anm. Sf: gemeinst ist das ›8½ Otto e Mezzo‹]
Wie machst Du nun weiter?
Ich werde wahrscheinlich, soweit das Job und Familie erlauben, auch weiterhin den Drei-Sterne-Restaurants folgen. Allerdings nicht unbedingt mit dem Ziel, wieder alle auf den Punkt abzuhaken, sondern eher gemütlich auf ein paar Reisen im Jahr verteilt.
Wir wünschen viel Spaß dabei – vielen Dank für das Interview, Matthias!
-> Matthias Ruhls Blog: www.travelsforstars.com
Das Interview wurde von Christian Stromann im Hamburger Haerlin geführt. Mitarbeit: Kai Mihm.