elBulli 2005-2011. Ferran Adriàs Gesamtwerk.
Kein anderer hat im letzten Jahrzehnt mit seinem Wirken und seiner Küche derart polarisiert, wie der stets unruhig wirkende Katalane Ferran Adrià. Sowohl auf Seiten der kochenden Zunft als auch bei Gästen gab es wenig zwischen gottgleicher Verehrung und tiefer kulinarischer Verachtung. Für die einen ist er als künstlerischer Avantgardist der alleinige Wegbereiter der modernen Küche, für die anderen ist er schlicht ein verkünstelter Alchemist, der dem Kochen die Mystik geraubt hat. Beide berufen sich dabei auf den irreführenden Begriff der „Molekularküche“, der einst wie ein Nebel durch die Restaurants waberte und verschleierte, worum es Adrià in erster Linie gegangen ist: Etwas völlig Neues zu schaffen.
Gelungen ist ihm das zweifelsohne. Der Hype um das vergleichsweise unscheinbare Restaurant El Bulli im kleinen Roses an der Costa Brava war bis zur endgültigen Schließung Mitte 2011 ungebrochen. Einen Tisch zu bekommen, glich einem Lottogewinn: Zwei Millionen Reservierungen pro Jahr trafen auf gerade mal 6200 Plätze. Selbstredend trug dies zur Ikonisierung bei.
Nun, der Nebel hat sich so langsam gelichtet und was bleibt, sind die Rezepte, Bilder und Geschichten, die jetzt als gewaltige Gesamtausgabe erscheinen sind. Die sieben Bände wiegen zusammen 18 kg, haben 2720 Seiten und 1400 Abbildungen. Damit haben wir nach „Modernist Cuisine“ erneut ein „Kochbuch“, das sich weniger an den Hobbykoch wendet, als vielmehr an den gastrosophisch versierten Sammler. Die Bücher, die Adrià als kulinarische Chronik „in progress“ des El Bulli zwischen 2005 und 2011 in unregelmäßigen veröffentlichte, dienten als Basis des Werks. Die Fotografien wie auch die Texte wurden unangetastet gelassen, wodurch es einen fast musealen Charakter erhält. Verstärkt wird der positive Eindruck durch die Gerichte selbst, die zwischen gastronomischen Futurismus und kulinarischem Surrealismus pendeln und in der Regel moderner wirken, als die Kreationen von Adriàs Epigonen. Die fotografische Aufarbeitung der Gerichte lässt die Exponate wie in einem Ausstellungskatalog erscheinen.
Nicht verwunderlich, dass uns beim Blättern durch die verschiedenen Kapitel des Öfteren die Kinnlade vor Faszination nach unten klappt. Es folgt Wehmut, wissen wir doch, dass wir niemals wieder in den Genuss kommen werden, die Gerichte im El Bulli probieren zu können.
Allerdings: Bei einem nicht unerheblichen Teil der Bilder bleibt der Pavlowsche Reflex aus. Zu konstruiert und zu weit weg vom Kontext Restaurant werden viele Gerichte abgebildet. Kurzum, es gibt Publikationen, die wesentlich mehr Appetit machen. Dafür werfen die Fotografien die Frage nach dem Wie – also der Zubereitung – wesentlich häufiger auf. Hier hilft der Rezeptteil weiter, wenn auch nur theoretisch, denn für die meisten Zubereitungen benötigt man ausgefallene und damit teure Geräte sowie oftmals schwer zu beschaffende Zutaten.
Neben dem Erschaffen einer eigenen kulinarischen Signatur ist das Wirken des Katalanen eng mit jenen Entwicklungen verwoben, die in den letzten Jahren Einzug in die Küchen die Welt gehalten haben. Sei es der verstärkte Dialog zwischen Köchen und Wissenschaftlern oder aber die theoretische wie praktische Auseinandersetzung mit dem Kochen als kulturellem Akt.
Darüber hinaus wird beim Lesen der Texte schnell deutlich, bei wie vielen Ideen, Techniken und Konzepten, die aus der modernern Spitzengastronomie nicht mehr wegzudenken sind, dem El Bulli eine Vorreiterrolle zukam. So zum Beispiel die Pre-Desserts als Verbindung von süßer und salziger Welt.
Oder der Begriff der Textur, der nicht nur nachhaltig das Vokabular der Gastrokritiker geprägt, sondern vielfach als Wegbereiter für jene Teller verantwortlich ist, die heute gerne „Streberteller“ genannt werden: eine Spielwiese von unterschiedlichen Elementen, die vorrangig zeigen, wie gut es ein Koch versteht, Texturen und Temperaturen bewusst zu variieren.
Alles in allem bleibt am Ende der sieben Bände ein Gefühl von ehrlicher Hochachtung. Hochachtung vor dem, was Adrià zusammen mit seinen Mitstreitern erreicht hat. Hochachtung dafür, auf welch vielfältige Weise dieses Tun den kulinarischen Horizont insgesamt erweitert hat und wie konsequent „Neues“ gewagt wurde.
Die Frage aller Fragen: Muss man dieses Gesamtwerk haben? Wen Neugier und Wissensdurst antreiben, dem stellt sich vermutlich eher die Frage, ob man selbst für satte 525 Euro darauf verzichten kann. Wer die Kochikone „Ferran Adrià“ besser verstehen und sein Schaffen im El Bulli nachempfinden möchte, investiert richtig und wird definitiv viel Freude damit haben. Es ist also, was es werden sollte: Ein fundmentales Standardwerk der modernen Spitzenküche in der Tradition von Nathan Myhrvolds „Modernist Cuisine“ und gleichzeitig ein Einblick in das persönliche Vermächtnis eines der revolutionärsten und prägendsten Köche unserer Zeit. Und damit unverzichtbar.