Mamesa – Der Berg ruft
Zugegeben: Von Berlin ist die Anreise in das malerische Südtiroler Burgeis durchaus kräftezehrend. Etwa zehn Reisestunden brutto trennen mich vom kleinen Örtchen in der Region Obervinschgau, direkt an den Grenzen zu Österreich und der Schweiz. Der Blick vom Wellness-Hotel „Weißes Kreuz“ ins grüne Tal und auf den imposanten Ortler entschuldigen prompt jede stressige Anschlussverbindung, wenngleich ich nicht (nur) der Alm- und Whirlpool-Romantik wegen hier bin: Die Aussicht auf das mehrgängige Menü im „Mamesa“ lockt mich mindestens genau so sehr.
Erst im Juli 2022 eröffnete das Restaurant mit Chef Marc Bernhart und Pâtissier Kay Baumgardt im familiengeführten Gasthaus. Bernhart absolvierte seine Ausbildung im Südtiroler „Hotel Oberwirt“ und wirkte im Anschluss in Kitzbühel, Lech und Zürich, arbeitete bei und mit Christopher Engel, Bobby Bräuer und Stefan Heilemann. 2017 wurde er Küchenchef im jetzigen Hotel, bevor fünf Jahre später ebenda das Gourmet-Restaurant „Mamesa“ aufsperrte. Der Name ist ein Neologismus aus den beiden Anfangsbuchstaben des Küchenchef-Vornamens und dem spanischen Wort für Tisch, „Mesa“.
Kay Baumgardt ist für uns kein Unbekannter: Er war zuletzt Süßspeisen-Chef im diesjährig geschlossenen, zweifach besternten „Gasthaus zur Fernsicht“, 2020 wurde er Gault&Millaus „Pâtissier des Jahres“ – und zeichnet seit 2023 für die Desserts im „Mamesa“ verantwortlich.
Das Restaurant, das eine eigene Duroc-Schweine- und Wagyu-Zucht beheimatet, heimst seit Eröffnung großen Zuspruch der gängigen Guides ein: neben drei GM-Hauben und Falstaff-Gabeln zieren die Wand zahlreiche andere Auszeichnungen. Nur der Guide Michelin hält sich ungewohnt bedeckt, hier wird das Restaurant – der Guide für 2025 erscheint kurz nach meinem Besuch – noch nicht einmal erwähnt. Woran das liegen mag, können uns weder Hotelleitung noch die Chefs sagen, es herrscht kollektive Ratlosigkeit.
Die Hotel-Webseite jedenfalls verspricht eine „erfrischende Crossover-Küche“, „bei der der junge Küchenkünstler gerne über den Tellerrand hinaus kocht, ohne dabei seine Wurzeln aus den Augen zu verlieren“. Anscheinend beheimatet das Hotel nicht nur Duroc-, sondern auch Phrasenschweine, mindestens aber lese ich hier die kulinarische Offenhaltung stilistischer „Fluchtwege“ heraus – ich bin also gespannt, wie die ersten Happen munden, die gerade vom Chef selbst zu Tisch gebracht werden.
Ein vollmundiges, wohlwollend üppig dosiertes Foie-gras-Eissandwich mit Vinschger Marille (hinten) füllt den Mundraum mit fett-deftiger Kühle, während das Tartelette mit Balfego, Toro, Bonito & Myago (links) zwar ebenso gekonnt gearbeitet ist, aber deutlich derber, maritimer, „Fischbrötchen“-artiger schmeckt. Die Croustade vom hauseigenen Wagyu mit Gurke (rechts) ist dagegen erfrischend, cremig und säuerlich-süß.
Diese drei Happen stehen laut eigener Aussage stellvertretend für das Trikolore der Küchenphilosophie: klassisch, kosmopolitisch und regional. Geschmacklich ist das alles hervorragend.
Der Gruß aus der Küche: Ein lauwarmes Chawanmushi mit Räucheraal, Wasabi-Öl, Apfel und Kohlrabi zeugt von gekonntem Handwerk; Marc Bernhart wäre nicht der erste, der sich am japanischen Eierstich die Finger verbrennt, doch hier stimmt alles: Die Textur ist cremig, mit zartem, wolkigem Biss und betörender, appetitanregender Wärme. Aal, Frucht und Rübe sind dezent dosiert, ebenso die wenigen, merklichen Schärfekicks des japanischen Wurzelstocks, der uns später noch in Rohform präsentiert wird.
Der erste Gang – Saibling, Rettich und Thai-Aromen – lebt von durchdachten Proportionen. Der sanft geräucherte Lachsartige stammt von einer Fischzucht aus etwa 50 Kilometer Entfernung, seine dicken Tranchen sind zu einer Rose gerollt. Drumherum macht sich ein duftender, aromatischer Thai-Sud mit Passionsfrucht breit, der die richtige wie wichtige, weil Leichtigkeit und Filigranität beisteuernde Säure in diesen opulent portionierten ersten Gang bringt. Dank knuspernder Abwechslung – Nüsse, Fischrogen und Brotchips – wird die schiere Menge nie langweilig. Ein wunderbarer Einstieg.
Ein saftiges Laugenbrot mit hervorragendem Rückenspeck und Coppa (Schweinenacken) von den hauseigenen Duroc-Schweinen sowie Grammelschmalz und Almbutter holen mich dann aus Thailand zurück nach Südtirol.
Das Knochenmark mit roten Mazara-Garnelen, Wasabi und Kaviar von Prunier Oscietre wird aus dem À-la-carte- (hier: „Signature“-)Menü eingeschoben. Mich begeistern die ungemein schmelzigen, hauchzarten Gambas in Verbindung mit der filigranen Schärfe des frischen Wasabis. Diese Gewinner-Duo will sich allerdings nicht so richtig mit dem abgegrillten Knochenmark verbinden – das liegt vorrangig daran, dass der dicht beladende Knochen schlichtweg sehr umständlich zu löffeln ist. „Form follows function“ zugunsten eines portionierbaren Produktgemenges würde dieser ansonsten köstlichen Kreation besser stehen.
Samtige, mit drei Jahre gereiftem Burgeiser Almkäse gefüllte Gnocchi schwimmen in einem schaumigen Sud aus fermentierten Pfifferlingen. Auf ihnen liegt jeweils eine dünne, angeschmolzene Scheibe Duroc-Lardo, dessen Fett nicht nur jede einzelne Komponente, sondern vor allen Dingen den darüber frischgehobelten Almkäse aromatischen Schub gibt. Kleine, zu Boden liegende und bissig gebratene Pfifferlinge bringen hier und da texturelle Abwechslung in diesen sowieso schon sensationellen Teller. Bravo.
Wir bleiben in Italien: Auch die Rotbarbe mit gewärmter Gazpacho und Chorizo-Creme ist gekonnt gearbeitet. Der Teller strahlt eine wunderbar deftige, mediterrane Wärme aus, wie eine dicht reduzierte Fischsuppe, der eine mutige Menge hervorragenden sizilianischen Olivenöls beigegeben wurde. Perfekt bei den aktuellen, sich dem Herbst zuneigenden Temperaturen. Auch handwerklich stimmt hier alles, vom Garpunkt bis zum Schlemmerfilet-Knusper auf dem saftigen Fischstück.
Wir bekommen wieder eine Kreation aus dem À-la-carte-Menü: Ein Kaisergranat bettet sich auf einem Thai-Kokos-Curry-Sud, in dem sich dehydrierte Stückchen der Gewürzananas verstecken. Der Krebsartige wurde auf der einen Seite gegrillt, auf der anderen (Ober-)Seite roh belassen und punktet durch Frische und filigrane Nussigkeit. Die gepoppten Reiskörner ergeben in diesem suppigen Arrangement durchaus Sinn, ich stoße sie jedoch vom Meerestier in die Sauce – die Qualität darf hier gerne für sich stehen.
A-part steht ein Schälchen mit einem klaren, heißen Auszug, dessen Duft und Geschmack an eine Mischung aus vietnamesischer Pho und „Nuoc Cham“ erinnern. Gerade in diesem dichten Gewerk aus wohlproportionierten, aber mannigfaltigen Südostasia-Aromen hilft das Suppenschälchen mit seinen bissigen Säurekicks, den üppigen Gewürzfächer differenzierbar zu ordnen. Die darin schwimmende, zarte-Mini-Maultasche mit Krebsfüllung ist sehr gut, hätte ich an dieser Stelle aber gar nicht gebraucht. Bisher bin ich hellauf begeistert von diesem kulinarischen Abend.
Auf den Hauptgang stimmt uns eine confierte, scharf gebratene und saftig-heiße Taubenkeule ein.
Es folgt eine einwandfrei gegarte, zarte Taubenbrust mit Topinambur (als Creme, Stampf und geschmort) und schwarzer Johannisbeere. A-part liegt ein cremig-knuspriges Innereien-Sandwich mit säuerlichen Beerenakzenten. Soweit, so köstlich – doch bei der Taubenjus muss ich passen.
Bereits beim Angießen macht sich ein sonderbar säuerlicher, „vergorener“ Geruch breit. Ich kann nur mutmaßen, dass die fermentierte Johannisbeere und/oder die Vanille falsch dosiert wurde – genau orten kann ich es aber nicht. Ich probiere wohlwollend, finde auf dem Teller aber keinen Sparringspartner für dieses störende Aroma, sodass ich das Fleisch so gut es geht vom Sößchen befreie und zusammen mit dem Gemüse vertilge.
Es schiebt sich ein letztes „Signature“-Gericht aus dem À-la-carte in das Menü, diesmal aus Kopf und Hand von Pâtissier Kay Baumgardt: Ein sizilianisches Pistazien-Eis, geräucherter Ziegenquark aus der umgebenen Matsch-Region sowie Prunier-Kaviar „Oscietre superieur“. Mir kommt direkt das sensationelle „Kaviar-Eis“ aus René Franks Berliner Desserttempel „Coda“ in den Sinn, und Baumgardts Kreation ist nicht minder originell: Die cremige, kaum gesüßte Nuss und die dezenten Raucharomen für sich ergeben schon ein rundes, köstliches Ganzes, die maritime, salzige Kühle des Fischrogens ergänzt um eine weitere, absurderweise erfrischende Ebene, ähnlich einem „Palate cleanser“.
Wir kehren zurück zum eigentlichen Menü, dessen erste Nachspeise verklärend mit „Zwetschge, Zwetschge und Zwetschge“ tituliert ist. Dahinter versteckt sich eine Deklination des Pflaumen-Streuselkuchens.
Die moderne Variante in der Schale: die Zwetgsche fermentiert, als Creme und als Sud, obenauf ein ebenfalls nur minimalgesüßtes Kucheneis, unten etwas gepuffter Quinoa als Streuselersatz. Ähnlich wie bei den Hauptspeisen gibt die präsente Säure sowohl Erfrischung als auch Präzision; gerade nach diesem langen, mit Extragängen gespickten Menü bin ich froh, von keiner Zuckerbombe erschlagen zu werden.
Als Fan des klassischen Streuselkuchens hängt mein Herz allerdings am ofenwarmen, cremig-crumbligen Zwetschgenkuchen, der a-part geschickt wird.
Wir bleiben weiter in der Region: Das vinschger Gerstenkorn ist die Basis für Koji, Kaffee und Kirsche. Letztere kommt als Eis und Chutney auf den Teller, der Kaffee als intensive Mole und Shoyu. Das schmeckt alles bei weitem nicht so komplex, wie es das komplizierte Fermentationsverfahren des wilden Pilzes suggeriert. Wie ein Stück um Koffein gepimpte Schwarzwälder Kirschtorte handelt es sich hier um ein sehr zugängliches, schmackhaftes Dessert, dessen aromatische Tiefe allerdings nicht mit den vorherigen beiden Nachspeisen vergleichbar ist.
Zum Kaffee kommt ein kleiner Bienenstich-Donut auf den Tisch, darunter versteckt sich (wortwörtlich) eine Schale mit etwas Vanille-Espuma und einer kleinen Nocke cremigen Honig-Vanilleeises. Ich bin befangen, ist der Bienenstich doch mein erklärter Lieblingskuchen – sehr fein.
Was für ein Menü! Trotz aller Freiheiten entgegen eines „roten Fadens“ erschleicht mich der Eindruck, dass Marc Bernhart (rechts) genau weiß, was er da macht. Stilistische Offenheit wird hier nicht als Freifahrtschein für unorthodoxe Experimente, sondern als sensibel eingesetztes kulinarisches Vehikel verstanden. Dieses mündete am heutigen Abend in einem nahezu fehlerfreien Menü (plus einiger ebenso exzellenter À-la-carte-Ergänzungen), das lediglich bei der Jus im Hauptgang über das Ziel hinausschoss.
Klassische Gartechniken und Produktkombinationen beherrscht die Küche genau so gut wie den Umgang mit Fermentation und charakterstarken Aromen aus Thailand, Vietnam und Japan. Kay Baumgardts (links) Nachspeisen ergänzen diese abgeklärte, nie langweilige Weltküche um Produktfokus, Regionalstolz und Geradlinigkeit – das steht dem Menü gerade zum Ende sehr.
Umso unverständlicher, dass sich der Michelin nicht einmal zu einer bloßen Erwähnung – meines Erachtens sollte es sogar deutlich mehr sein – hinreißen lässt. Ich bin aber auch ohne rote Plakette gespannt, wie es mit diesem kulinarischen Duo im beschaulichen Burgeis weitergeht und sammle bis dahin schon mal fleißig BahnBonus-Punkte für die nächste Freifahrt nach Südtirol.
Chris Lippert