Dziaugsmas – Freude
Sterne in Litauen: Nach Estland und Lettland darf sich nun auch das letzte und südlichste Land des Baltikums über den Einzug des Michelin freuen. Gleich vier Restaurants wurde das Macaron verliehen, allesamt liegen in der kleinen Hauptstadt Vilnius. Für mich Grund genug, in den Flieger zu steigen und ein verlängertes Spätsommer-Wochenende in der nicht nur kulinarisch, sondern auch kulturell wie architektonisch spannenden Stadt zu verbringen.
Nach etwas über einer Flugstunde geht’s mit dem Taxi direkt zur ersten Destination des Fresstrips: Versteckt hinter einer unscheinbaren Häuserfassade im Herzen der UNESCO-zertifizierten Altstadt liegt das besternte „Džiaugsmas“, das litauische Wort für „Freude“. Chef Martynas Praškevičius ist ein bunter baltischer Hund in der gastronomischen Landschaft des Landes und wird regelmäßig mit lokalen Auszeichnungen und Preisen bedacht, unter anderem vom renommierten „White Guide“ sowie der „50Best Discovery“-Liste; der Michelin-Stern war für die meisten eine logische, für den Koch laut eigener Aussage dennoch überraschende Folge. Neben seinem Hauptlokal betreibt er außerdem das „Stebuklai“ am Cathedral Square.
Das Innere des unauffälligen Lokals ist nahezu komplett schwarz: die Wände, Böden und Decken, ein dekorativer Affenkopf und nicht zuletzt die Kleidung des Personals. Im Obergeschoss liegt das etwas hellere Küchenareal, dem ein kleinerer Gastraum vorgelagert ist, in dem meine Begleitung und ich Platz nehmen. An der Wand neben mir hängt ein buntes Gemälde, das etwas Farbe in den minimalistischen Industrial-Chic bringt. Das alles erinnert mich spontan an hippe Casual-Dining-Restaurants wie das „Daemon“ und das versteckte „Cookies Cream“ in Berlin.
Praškevičius kocht mit litauischen Produkten und orientiert sich an Saison und Verfügbarkeit. Dieser im mitteleuropäischen Raum mittlerweile gelernte Produktfokus ist ein Novum für dieses Land, in dem sich Touristen die Mägen zuvorderst mit lokalen Deftigkeiten wie „Cepelinai“ – Kartoffelklößen mit Fleischfüllung – und „Šaltibarščiai“ – kalte Rote-Bete-Suppe – vollschlagen. Wie dieser neugefundene Stolz auf die Produkte Litauens abseits der beliebten Hausmannskost schmeckt, wird das achtgängige Degustationsmenü zeigen. Gero apetito!
Eine „Knusper-Röhre“ mit Räucheraalmousse, mariniertem Fenchel und Schnittlauch (vorn links) schmeckt frisch, leicht rauchig und ist sehr fein gearbeitet. Auf der rechten Seite zeigt sich die ebenfalls filigran beschaffene Malz-Krustade mit Heilbutt-Ragù, karamellisierten Karotten und Kreuzkümmelsauce deutlich intensiver. Merkliche Cumin-Noten werden abgelöst von einem lange präsenten Fischgeschmack. Sehr stimmig.
Es bleibt knusprig: Eine Kümmel-Krustade mit Kalbsbries, Waldpilzmayonnaise, Hähnchenhautchips und Calamansi (vorne rechts) ist reich an würziger Fett- und Aromenwucht, nur etwas zu groß proportioniert, um sie ohne Krümelregen zu vertilgen. Und: Die Calamansi ist jetzt nicht unbedingt eine Zutat, die man mit dem Baltikum in Verbindung bringt. Ungleich derber dann ein Käse-Crisp mit Rindertatar und Käsecreme (hinten links), den ich mir etwas weniger „Cheese-Ball“-ig gewünscht hätte; so geht das Tatar in der geschmacklich etwas plumpen TV-Snack-Anmutung unter.
Das gegrillte und mit einer süßlichen, an Unagi erinnende Sauce ablackierte Stückchen Aal wird begleitet mit einem schier sensationellen Shiitake-Dumpling. Die Kombination aus wolkigem Teig, reduzierter Pilzwucht und dem warm-rauchigen Fisch ist erstklassig, darunter ein dezent geräucherter Buttermilchsud, der etwas süffige Frische aufs Parkett legt – wenn Litauen so schmeckt, dann pack ich schon mal meine Koffer.
Im nächsten Gang wird das (dezent übergarte) Steinbutt-Filet mit Garnelenmousse in ein Kohlblatt gerollt. Eine geschäumte Fischbrühe sowie ein Gemüsebett aus Zucchini, Kohl und Erbsen begleiten dieses sehr „meerige“ Yin-Yang-Röllchen, das mich in seiner grundlegenden Kombination absurderweise an ein Thai-Curry erinnert – nur eben ohne die strengen Aromen von Zitronengras, Kokosmilch und Gewürzen. Das schmeckt im Grunde gut, kommt aber an die Aal-Dumpling-Wonne aus dem Gang zuvor nicht ran.
Wunderbar röstig dann der Hauptgang: Lamm, Lammbrühe, Karotten, Lardo und Auberginencreme bringen ordentlich Wumms an den Tisch. Das intensive, perfekt gegarte Fleisch liegt auf einem Bett von geschmolzenem Lardo, der sich prompt auf jede Gabel schiebt und wie ein Aromen-Verstärker fungiert. Fett, Schmelz, gemüsige Auberginen-Röstigkeit und ein ausgewogenes Texturenspiel – das macht Spaß.
Wir reisen von Litauen nach Italien: Das Polleneis mit Erdbeeren und Mascarponecreme erinnert mich spontan an meinen Stammitaliener im Berliner Kiez, das hat geschmacklich wie konzeptionell nur wenig mit dem zu tun, was bis hier hin auf den Tisch gekommen ist. Besser dagegen die Petits Fours dahinter, die zusammen mit dem Dessert serviert werden: Besonders das kleine, heiße Quarkkeulchen mit gesalzenem Karamell sowie die Milchcreme mit frittierten Kapern (!) auf Mürbeteig bringen Freude.
Wir schlendern noch durch das hübsch beleuchtete Vilnius. Diese Stadt gefällt mir auf Anhieb: Kleine Cafés und urige Kneipen verschmelzen in einem Gemälde aus verschlungenen Altstadtgassen, bierselige Junggesellenabschiede findet man hier genau so wenig wie unfreundliche Gesichter, stattdessen: Jung und Alt, die allesamt der Stolz zu einen scheint, dass sich dieses Land mehr und mehr zu einer nicht nur kulinarischen, sondern vor allem historisch-kulturell ernstzunehmenden Destination entwickelt.
Das „Džiaugsmas“ ist die gastronomische Blaupause für meinen Ersteindruck: Modernes, stylisches Interieur, dazu junges, teilweise noch etwas ungelenkes Personal – und auf den Tellern: das essbare Litauen. Das schmeckte mir weitestgehend sehr gut, besonders der Aal mitsamt Pilz-Teigtasche wird für mich noch eine ganze Weile das Gericht sein, das ich initial mit der modernen Küche dieses Landes verbinde, ebenso das Lamm.
Hier und da sind die Kreationen noch etwas unscharf an den Rändern, sei es nun ein übergarter Fisch, ein käsiges Tatar oder ein konzeptionell irritierendes Italo-Dessert. Das ist jedoch weit weg von einem Reinfall, im Gegenteil – die kreative, handwerklich routinierte Produktküche Martynas Praškevičius bereitete mir heute Abend in Summe eins: „Džiaugsmas“ – „Freude“.
Chris Lippert