
La Villa Madie – Der Wein und das Meer
Am vierten Tag in Südfrankreich geht es mittags von Marseille in den benachbarten Küstenort Cassis. Mit dem Uber fahren wir an gepflegten Ferienwohnungsanlagen und schicken Häusern hinter hohen Hecken vorbei. Alles ist ein bisschen gediegener hier, auf diese typisch französische Art. Aber vom Meer und dem besonderen Flair, das man Cassis nachsagt, spürt man irgendwie noch nicht viel.
Auch die Villa Madie, das Ziel unseres heutigen mittags, wirkt von außen recht unscheinbar, ein flacher Bau in Hanglage, mit kleinem Parkplatz davor und üppigen Grünpflanzen am Eingang. Lediglich die drei dezenten Michelin-Sterne auf dem Restaurantschild deuten auf einen besonderen Ort hin. Von der Gastgeberin herzlich begrüßt, geht es durchs Restaurant hinaus auf die Terrasse …

… wo man einen traumhaften Blick auf eine von schroffen Felsen, Pinien und Macchia gesäumte, türkisblaue Bucht hat. Jetzt verstehen wir. Allein dieses Licht! Man sollte bei Terrassenwetter unbedingt versuchen, einen Tisch in vorderster Reihe zu ergattern (wir haben das Glück). Hier draußen zeigt sich auch, wie harmonisch das Anwesen in die natürliche Umgebung eingebettet wurde.
Ich hatte die ›Villa Madie‹ schon seit einigen Jahren auf dem Zettel, doch über den Inhaber und Küchenchef Dimitri Droisneau weiss ich lediglich, dass er einst bei Bernard Pacaud im ›L'Ambroisie‹ arbeitete und in Cassis ab 2014 zwei Sterne hielt; 2022 folgte der Dritte. Mehr Informationen benötigt man eigentlich nicht.

Umso mehr Aufmerksamkeit verlangt die umfangreiche Weinkarte. Sie gliedert sich in sieben nach Regionen unterteilte Bücher, mit zahlreichen gastfreundlich kalkulierten Positionen. Wir wissen gar nicht genau, wo wir anfangen sollen. Nach einem anregendem Austausch empfiehlt uns der smarte Sommelier zum Start einen Chassagne Montrachet der Domaine Morey-Coffinet (2016 »En Cailleret«), der mit 240 Euro deutlich weniger kostet, als unsere ursprüngliche Wahl. Souverän und sympathisch.
Was das Essen betrifft, hatten wir uns eigentlich fest vorgenommen, lediglich das Mittagsmenü zu bestellen (vier Gänge, 180 €), aber mit diesem Ausblick und dieser Weinkarte schwenken wir nun doch auf das volle Programm um (sieben Gänge, 280 €).

Derweil kommen die ersten Küchengrüße auf den Tisch. Auf einem langen Silberlöffel findet sich ein Stück rohe Garnele bester Qualität, deren natürliche Süße von einem Hauch Arabica-Kaffeepulver dezente Bitter- und Rauchnoten erhält. Auch ein Löffel mit leicht gegrilltem Thunfisch präsentiert ein hervorragendes Produkt in sehr »purer« Darreichung; zusammen mit einer im Becher servierten Mischung aus Artischocken, Oliven, Zucchini, Radieschen, Blattsalaten und Pinienkernen ergibt sich das Bild eines hervorragenden kleinen Salat Niçoise.
Weiter geht es mit einem elegant-maritimen Seetang-Sandwich mit Seebarschrogen. Den Abschluss bildet ein krosses Teigkissen, gefüllt mit Oliven und belegt mit Sardelle, das für sich wie ein exzellent veredelter Pizzahappen schmeckt; in Kombination mit einem Becherchen karamellisierter Zwiebelmousse, die etwas Erdigkeit und feine Süße mitbringt, verstehen wir auch die Anonncierung der Petitesse als Variante des klassischen Nizzaer Zwiebelkuchens »Pissaladière«.
Diese durch die Bank hochkarätige Eröffnung dürfte mit ihrer Balance zwischen Produktschau und souveränem Handwerk ein Vorbote für den Stil des Menüs sein.

Es folgen zwei weitere Snacks. Fluffig-krosse Panisses, die typisch provençalischen Kichererbsen-Fritten, sind mit einer leichten Knoblauchcreme verdelt; eine Parmesan-Tartelette gefällt durch außergewöhnliche Filigranität und satten Geschmack. Das ist nicht spektakulär, doch die Küche versteht es gut, den sonnigen Süden in diese zwei Happen zu packen.

Den Abschluss der Küchengrüße bildet ein weiteres Töpfchen, diesmal mit geräucherter Sardelle und Tintenfisch, gegrilltem Auberginenkaviar, eingelegtem Koriander, verschiedenen Kräutern und einem Kräutersorbet, dessen spröde Grasigkeit zusammen mit den Räuchernoten und der Salzigkeit des Fischs einen mehr als misstönenden Zweiklang bildet. Auch sonst wirkt das Ganze forciert komplex und damit ganz anders, als die vorherigen Kleinigkeiten. So oder so, wir bekommen das nicht herunter.

Mit dem ersten Menügang reißt die Küche das Ruder zum Glück wieder herum. Ganz leicht gebeizte Sardinenfilets mit Zitronenthymian sowie eine kross frittierte Sardinenkarkasse entlocken dem vermeintlich profanen Fisch eine ungeahnte Spannung. Zartes Bonito-Gelee und Kaviar aus der Sologne unterstreichen die elegante Meeresbrise dieses Tellers, perfekt soufflierte Kartoffeln setzen knusprig-röstige Akzente. Als Grundierung dient ein wolkenzarter, mit frisch geriebenem Bonito bestreuter Kartoffel-Dashi-Schaum. Alles bleibt leicht und frisch, schmeckt klar und komplex. Sehr elegant, sehr stark.

Es geht weiter mit sanft gegartem Wolfsbarsch von außerordentlicher Qualität, der in einer mit Fischfond aromatisierten Beurre blanc ruht, die durch Kaffirlimette elegante Frische und schlanke Säure erhält. In der leicht aufgeschäumten Sauce findet sich eine in Pak Choi pochierte, angenehm festfleischige Auster, deren dezentes Aroma von einem Austernblatt erweitert wird. Einige Eiskrautblätter sorgen für krachende, leicht salzige Frische. Eine gute Prise Sansho-Pfeffer unterstreicht die zitrische Duftigkeit dieses Tellers. Sämtliche Komponenten greifen ineinander und verbinden sich zu einem süffigen Hochgenuss. Ein kleines Meisterwerk.

Aufgrund der Auster (die ich beim Probieren problemlos ignorieren konnte) serviert man mir als Alternative den Fischgang des kürzeren Menüs, anstelle des in der Karte ausgewiesenen Steinbutt allerdings ebenfalls mit Wolfsbarsch. Das auf der Hautseite gebratene Filet ist außen superkross, innen saftig und kernig. Begleitet wird es lediglich von einem mit Safran veredelten Bratenjus, leichtem Estragon-Schaum und frittierten Zwiebelringen – ja, genau, frittierte Zwiebelringe, die dank perfekter Ausführung zu einer absoluten Delikatesse werden. Hier haben wir sie wieder, die Kombination von Ausnahmeprodukt, meisterhaftem Handwerk und selbstbewusster Simplizität.

Diese Attribute vereint auch der folgende Gang mit dem Titel »Der Duft unserer Calanques«. Auf einem hauchdünnen Brotchip (man stelle sich ein stark verfeinertes »Finn-Crisp« vor) sind Scheiben roher Felsenrotbarbe angerichtet, minimal mariniert und abschließend mit etwas Fleur de sel, einer Spur Safran und exakt drei Estragonblättchen gewürzt. Sonst nichts. Dazu wird eine Schale mit Seeigel-Espuma gereicht, welches man nach persönlichem Geschmack auf dem Fisch verteilen kann. Einmal mehr stimmt einfach alles, von der Fischqualität, die jeden Sushi-Meister begeistern würde, über die Handwerklichkeit des Brots bis hin zu Safran und Seeigel, die hintergründig bleiben und doch präsent sind. Ein Weltklasse-Gang … eine Götterspeise.
Nicht einmal zu Dimitri Droisneaus offensichtlicher Schwäche für Espumas fällt uns Spott ein, denn selten haben wir deren Einsatz so schlüssig erlebt. Droisneau erreicht damit, dass bestimmte Aromen wirklich nur als Hauch zum Tragen kommen, als verführerisch flüchtige Ahnung eines Geschmacks.

Kurz darauf überrascht uns die Küche mit einem Extragang. Knoblauchsuppe, ein Klassiker der provençalischen Küche, wird mit allerlei festen »Einlagen« serviert: geröstete Tintenfischstücke, Erbsen, schwarze Oliven, Salicornes, Tintenfisch-Tortellini … Die unkomplizierte, vollmundige Herzhaftigkeit dieses Gerichts wird durch die schiere Handwerkskunst in andere Sphären katapultiert. Die meisterhaft abgeschmeckte Suppe, die präzise gegarten Tintenfische, die filigrane Pasta: alles ist qualitativ am Anschlag. Man kann das anders machen – doch besser geht es nicht. Götterspeise Nummer zwei.

Der zweite Wein ist auch längst in der Karaffe: eine 2005er Châteauneuf-du-Pape blanc des Château Rayas (350 €). Laut Karte müssen Rayas-Weine auf Wunsch des Winzers mit 24 Stunden Vorlauf bestellt werden, damit man sie früh genug öffnen kann. Nicht nur angesichts der Tatsache, dass die Weinkarte weder online abrufbar ist, noch per E-Mail zur Verfügung gestellt wird, mutet das ziemlich absurd an (Begründung der Geheimniskrämerei: man habe zu oft Kaufanfragen von Sammlern erhalten). Glücklicherweise konnten wir den Sommelier gleich zu Beginn überreden, uns dennoch eine Flasche Rayas aus dem Lager zu holen (»Ich sehe, dass Sie guten Wein lieben…«). Die Mühe hat sich gelohnt, denn auch mit nur zwei Stunden an der frischen Luft entfaltet der Wein eine beachtliche Größe.

Weiter im Menü. Ein prachtvoller Carabinero aus Südspanien hat eine feste Struktur und das für diese Krustentiere so typische, vollmundige Aroma. Die reine Wonne. Hinzu kommen eine Creme und ein Eis aus Carabinero-Köpfen, sowie ein Schaum aus den Karkassen. Der sonnigen Kraft dieses Head-to-tail-Ensembles stellt die Küche die Erdigkeit Roter Bete (geschmort und als Creme) und bittersüße Kumquat (als Gel) entgegen, eine fabelhafte Ergänzung der intensiv jodigen Aromen. Dieser Gang ist vielleicht mehr »Costa Brava«, als »Côte d'Azur«, weniger exzellent macht ihn das gleichwohl nicht.

Der Hauptgang ist dann wieder ganz der französischen Küche gewidmet. Ein appetitlich gebräuntes Bruststück von Huhn des renommierten Geflügelhofs »La Cour d'Armoise« übertrifft in Produktqualität, Zubereitung und Wohlgeschmack alles, was wir bisher an Huhn erleben durften. Insbesondere kleine Würfel aus gepresstem Keulenfleisch sind zum Augenschließen gut. Im Grunde vermittelt bereits die rustikale Anrichteweise, worauf der Schwerpunkt dieser Küche liegt: purer, ablenkungsfreier Wohlgeschmack.
Das saftige Fleisch ruht in einer formidablen Sauce aus Löwenzahnwein und Geflügeljus, luxuriös angereichert mit außergewöhnlich guten Morcheln, jungen Erbsen, winzigen Erbsenravioli sowie konfiertem Eigelb; als Überraschung findet sich unter dem Huhn sogar noch ein Bett aus schwarzem Trüffel. Die Qualitäten, mit denen man hier auftrumpft, sind unwirklich.

Der süße Menüabschnitt beginnt mit einem hauchdünnen Knusperröllchen aus Crêpes-Teig, Gavotte genannt. Es ist mit Vanillecreme gefüllt, wird von einer Nocke Vanilleeis getoppt und am Tisch mit Rum des nahe gelegenen Maison Ferroni vollendet. Als pointierter Kontrast die Süßsäuerlichkeit eines einzigen Tropfens alter Balsamico. Die optische Schlichtheit der Kreation ist trügerisch, denn dieses Dessert gehört schon jetzt zu den besten des Jahres. Der knuspernde Teig, die betörenden Vanillearomen, das feinsinnige Spiel mit Kälte und Cremigkeit, dazu die wärmende Blumigkeit des intensiv duftenden Rums… phänomenal. Alles zusammen schmeckt wie die leichte, kühle Version eines Baba au rhum, genauer: des besten Baba, den ich je gegessen habe. Eine weitere Götterspeise, kein Zweifel.

Das zweite Dessert kombiniert eine zarte Tarte aus 64%ige Manjari-Schokolade mit Sorbet und süßem Coulis aus gemischten Kräutern. Das ist gewagt und gelungen, da die überraschend zurückhaltenden Kräuternoten harmonisch an die Zartbitterschokolade andocken. Wir schmecken Koriander, Basilikum und Minze, vielleicht auch etwas Estragon. Eine gut dosierte Süße harmonisiert das Ganze, knuspernde Hippen mit Honig »aus unseren Hügeln« erweitern die Palette um Textur und »warme« Honigsüße. Es ergibt sich ein schmeichelhaftes Geschmacksbild, das zwar nicht so zauberhaft wie die Gavotte ist, aber immer noch ausgezeichnet.

Danach noch einige Petits fours, die durchweg exzellent sind; genauere Notizen machen wir nicht mehr. Stattdessen haben wir bereits einen letzten Blick in die Weinkarte geworfen, bevor wir gleich den Platz wechseln …

… Im unterhalb der Terrasse gelegenen Lounge-Bereich, den Pinien und dem Meer noch ein Stück näher, lassen wir den Nachmittag bei einer Flasche Jacques Selosse V.O. (300 €) ausklingen – das angemessene Getränk nach einem Menü, das den Höhepunkt dieser Reise bildet.
Welch eine denkwürdige Abfolge an Restaurantbesuchen. Erst Glenn Viel mit seiner – rückblickend etwas spröden – Wucht, dann Alexandre Mazzia mit seiner weltoffenen Experimentierfreude, gefolgt von Gérald Passedat mit seiner tiefen Meeres-Verwurzelung. Heute schließlich Dimitri Droisneau mit seiner Küche der Provençe und der Calanques … Gerichte wie das Rotbarben-Toast und die Knoblauchsuppe würden in anderer Umgebung natürlich ebenfalls exzellent schmecken. Doch sie gehören an einen Ort wie diesen. Einmal mehr zeigt sich, wie wenig Lokalität und Essen sich trennen lassen.
Warum sollte man auch? Die törichte Vorstellung, dass stimmige Gerichte überall gleich gut funktionieren, dass also alles überall geht, führt zu lebloser Beliebigkeit und perfektionierter Trivialität. Die Menüs der letzten Tage hatten auch aufgrund ihrer Verortung eine Seele, die man schmecken konnte.
Solcherlei Gedanken nachhängend, schweift unser Blick über das Meer. Alles hier war Bestandteil des Menüs. Wir wollen nichts davon missen, nicht den Wind, nicht den Duft, nicht das Blau. Eine Servicemitarbeiterin schreckt uns irgendwann aus den Tagträumen, man müsse nun leider schließen. Welch eine profane Umschreibung, für diese Vertreibung aus dem Paradies.
Kai Mihm