Restaurantkritik 20.September 2023

Nobelhart & Schmutzig – Berliner Tresenkraft

Kaum ein Restaurant spaltet unsere Community – und überhaupt die Geister – derart, wie das Nobelhart & Schmutzig in Berlin. Zwar gibt es das Restaurant seit nunmehr acht Jahren, und unser erster und bislang einziger Bericht liegt ebenso lange zurück. Doch das »Speiselokal« um Gastgeber Billy Wagner und Koch Micha Schäfer erregt in aller Regelmäßigkeit die Gemüter – oftmals abseits ihrer reduzierten, der Region und der Saison verschriebenen Küche: Ein ostentatives Kamera-, Waffen- und AfD-Verbot, Nougat- Vaginas, Kräuterdöner sowie die medienwirksam inszenierte Zurückweisung des Grünen Michelin-Sterns sind nur ein paar Beispiele aus dem PR-Köcher, aus dem sich der nimmermüde Patron Billy Wagner bedient. Dass man andererseits die Platzierung in Nestlés »World's 50 Best«-Liste nicht ablehnt, sondern abfeiert, darf man wohl als einen unauflösbaren Widerspruch betrachten.

Betritt man das schummerige Lokal, verstummt alles Marktschreierische jedoch zügig. Der Blick in die offene Küche und auf das emsige Personal zeigen, dass der Fokus hier auf Handwerk und Genussfreude liegt. Nach der Eröffnung (und Besternung) im Jahr 2015 wurde der schmissige Leitspruch »brutal lokal« bald zu einer Blaupause regionaler und saisonaler Dogmen. Ähnlich wie in Skandinavien lag damals die Idee eines Zusammenschlusses kulinarisch verwandter Restaurants nahe; dies führte 2017 zur Gründung der »Gemeinschaft« aus ›Horváth‹ und ebenjenem Kreuzberger Tresendomizil, in dem uns heute ein gut gelaunter Billy Wagner bereits die ersten Flaschen vor die Nase hält. Wir sind gespannt.

Draußen herrschen an diesem Abend kühle Temperaturen, sodass der heiße, säuerlich-reduzierte Auszug aus Nackthafer und Quitte nicht nur unseren Appetit anregt, sondern auch Körper und Seele wärmt. Ein anspechender Auftakt des Menüs (wochentags 175 €).

Danach eine Brotzeit mit Roggensauerteig von Florian Domberger. Bereits bei unserem letzten Besuch durften wir die Ergebnisse der hauseigenen Butterreifung bezeugen: Je nach Alter schmeckt die Butter mal mehr, mal weniger »stallig« – ein interessantes Experiment, das heute jedoch nicht ganz aufgehen will: Beide »Jahrgänge«, 2021 gegen 2022, schmecken nahezu identisch. Überzeugend dagegen der knackige, elegant-bittere Chicorée mit süßsäuerlich-reduziertem Apfelbalsamico. Auch der Krautsalat, der gepickelte Kohlrabi und insbesondere der mit Meerettich gewürzte Frischkäse passen prima zum Brot.

Der Kürbis mit Eigelb lässt dann erahnen, woran sich mancher Esser hier am Tresen stören mag: die radikale Reduktion. Bei der »Sauce« nimmt die Küche die italienische Carbonara als Vorbild, in Form einer cremigen Eigelb-Emulsion, die den al dente gegarten, leicht brüchigen Kürbis als dicke Schicht umhüllt. Frischer Thymian steuert eine duftige, feinherbe Frische bei, ein Hauch von Südfrankreich. Eine tolle Idee und ein einnehmend vollmundiges Gericht, dem lediglich eine Spur Salz fehlt.

Frischer, junger Grünkohl mit eingelegter Senfsaat, mehr braucht es im nächsten Gang gar nicht für das Schaulaufen dieses oft verpönten Gemüses. »Otto-Normalverbrauchern« wie uns begegnen vorrangig die großen, dicken Blätter des Grünkohls, die dann massiv weichgekocht werden müssen. Bei Micha Schäfer hingegen kommen die jungen, zarten Triebe auf den Teller, die auch wir zum ersten Mal verspeisen. Dazu die anregende Säure der Senfsaat sowie eine dicht reduzierte Petersiliencreme, die eine überraschend »algige« Aromatik mitbringt – nicht nur deshalb erinnert uns diese präzise Miniatur an etwas, das auch ein japanischer Meister auf den Teller legen würde. Im ›Essigbrätlein‹ können wir uns das ebenfalls gut vorstellen. So oder so: es schmeckt prima.

Wir bleiben in der Welt des Kohls: Der Rahmwirsing mit Kümmel ist schlichtweg sensationell. Zur Garung des Kohls verwendet Schäfer eine sehr pure Rinderbrühe, welche einerseits den Wirsing aromatisiert, umgekehrt aber auch von diesem aromatisiert wird. Anschließend wird sie stark reduziert und zusammen mit Kohl und Sahne zu einem vollmundigen Umami-Schlotz geköchelt; etwas Kümmel lockert das Ganze auf. Herrlich. Hier wünschen wir uns on the spot eine Convenience-Variante für den heimischen Fernsehabend mit Bier und Brot.

Dass wir hier, in Berlin-Kreuzberg, eines der besten Stücke Kalbfleisch unseres Lebens probieren würden, hätten wir uns beim ersten Glaserl des Abends nicht ausgemalt. Das etwa vier Monate alte Kalb aus Mutterkuhhaltung stammt vom Erdhof Seewalde, ist kurzgebraten und wird lediglich von einer Nocke Schmorzwiebeln begleitet, die dem bemerkenswert geschmacksintensiven, zarten Fleisch herzhafte Süße und aromatische Tiefe beisteuern. Exzellent.

Die vegetarische Hauptspeisen-Option, Rote Bete mit Holunder, kann uns derweil nicht recht begeistern. Sie sieht nicht nur aus, wie ein Dessert, sie schmeckt auch fast so. Oder anders gesagt: Der süßlichen Erdigkeit dieser Kreation fehlt es entschieden an einer herzhafteren Komponente.

Für eine kurze Zeit führte die Küche des ›Nobelhart & Schmutzig‹ zur Zeit unseres Besuchs für besonders hungrige Mäuler ein Schweineschnitzel auf der Karte: Ein heißknuspriges »Fettschnitzel«, aus der Keule geschnitten und zuvor acht Wochen auf dem Erdhof Seewalde gereift, komplettiert mit einer schmalzigen Mayonnaise aus Schweinefett. Fett, Fett, Fett und Knusper – eine Wonne, und angesichts der zahlreichen vegetarischen Gerichte des Abends eine tellergewordene Antithese.

Da soll noch mal jemand meinen, Micha Schäfer würde seine Gäste hungrig nach Hause schicken: Nach dem Verzehr eines butterstrotzenden Kartoffelbrei à la Robuchon mit knackigen (etwas zu massig dosierten) Dillblüten und pfundig gesäuertem Kraut, steht Lokalleiterin Juliane Winkler schon mit der Nachschlags-Kelle bereit. Wir müssen leider abwinken, doch eine tolle Tresengeste bleibt dieses Intermezzo allemal.

Im Weißbier-Eis mit Erdbeerkompott hat sich, Experimentierfreude galore, ein Grämmchen »Green Haze« versteckt. Dass sich durch die womöglich nahende Cannabis-Legalisierung auch kulinarische Möglichkeiten eröffnen würden, wird hier sehr überzeugend anschaulich gemacht: Deutliche Grasnoten – moosig, süßlich, leicht nussig – passen prima zum fruchtig-fetten Geschmack des Desserts. Das schmeckt wie der Eis- am-Stiel-Klassiker »Bum Bum« – auf Speed. Angeregt von dieser Idee fragen wir uns, ob in naher Zukunft ein eigener »Grasolier« die Gäste auf eine berauschende Pairing-Reise schicken wird.

Nach unserem Urteilsvermögen gänzlich rauschmittelfreie Wonne bietet dann Birne mit Wacholder. Bei diesem, wenn man so will, dekonstruierten Birnenstreuselkuchen wird ein warmes, weiches Birnenstück mit den Händen durch heißes Karamell gezogen. So einfach, so gut. Ein befriedigender Abschluss der heutigen Werkschau.

Wie immer entlässt das Lokal den Gast mit einer Wegzehrung: Ein an eine Rumkugel erinnerndes Röstmalzfinancier sichert das Frühstück des kommenden Morgens.

Das ›Nobelhart & Schmutzig‹ scheint uns in den letzten acht Jahren erwachsen geworden. Galt das Restaurant früher als »Sonderling«, wo alles betont anders gemacht wird – und noch dazu sehr laut –, haben sich andere Gastronomen inzwischen einiges von Billy Wagners Kapitänsstil abgeschaut. Nämlich Mut zur Konsequenz, zur Attitüde und zur stetigen, mantraartigen Wiederholung der eigenen Grundsätze, notfalls auch über die Köpfe der Gäste hinweg. Früher »unzumutbar«, heute nicht mehr unüblich.

Doch nicht nur die Gastronomie profitiert von solchen Vorreitern. Auch einige der Produzenten, die das Nobelhart und ähnliche Lokale beliefern, genießen mittlerweile eine Popularität, die jener der Köche, die ihre Produkte verarbeiten, kaum nachsteht: Namen wie Erdhof Seewalde, Olaf Schnelle und Martin Rötzel sind auf zahlreichen Karten der Republik zu lesen und stehen genauso für »brutal lokal«, wie es Micha Schäfer und die »Gemeinschaft« tun.

Zugegeben, manche Gerichte des heutigen Abends muteten im ersten Moment trivial an – aber selbst bei einer Tranche Kürbis oder zwei Blättlein Grünkohl zeigte sich Schäfers Feingefühl in Sachen Produktauswahl, Proportionen und Aromenkombination. Solche Aha- Effekte kultiviert das Restaurant schon lange, aber noch nie auf diesem kulinarischen Niveau. Wir zumindest erlebten heute das bisher stärkste Menü des etwas gnatzigen Chefkochs. Apropos: Wenngleich man sich dem Thema Ernährung hier durchaus »ernst« (sic!) nähert, hätten wir uns das eine oder andere herzliche(re) Küchengesicht gewünscht. Aber möglicherweise lag es auch an uns.

Ganz anders Billy Wagner, der sich erneut als hervorragender Gastgeber bewährte. Sein Geschick in Sachen Weinauswahl muss eigentlich nicht mehr erwähnt werden, doch wir sind jedes Mal aufs Neue begeistert von der – im doppeldeutigen Sinne – großartigen Weinkarte abseits der ganz pompösen Namen. Vieles ist in Reifung, vieles haben wir schlicht und einfach noch nie gesehen – geschweige denn getrunken. Am Ende konstatieren wir einmal mehr, dass es im ›Nobelhart & Schmutzig‹ um den Abend als Ganzes geht, um den Genuss, die Bewusstmachung – und die Geselligkeit. Weniger »brutal«, mehr Lokal!

Chris Lippert

Weine

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