Restaurantkritik 29.März 2023

Loco – gar nicht verrückt

Ein Fressreise nach Lissabon macht es einem nicht ganz leicht. Die Stadt mag unter Overtourism leiden, doch kulinarisch fliegt sie unter dem Radar. Der Michelin bietet dem geneigten Reisenden einen gewissen Überblick, aber verlässlich scheint der Guide in dieser Stadt nicht unbedingt. Das alles erschwert die Orientierung. Nach Konsultation verschiedener Quellen steht unser Programm schließlich: fünf Restaurants in drei Tagen, von der punkigen Eckkneipe bis zum zweifach besternten Lokalmatador.

Für den ersten Abend haben wir eine Reservierung im besternten Loco. Denken wir zumindest. Denn als wir im Restaurant eintreffen, sucht man im Reservierungsbuch vergeblich unseren Namen. Nach aufgeregten internen Gesprächen (die wir nicht verstehen) folgt die freundliche Mitteilung, dass man uns in ein paar Minuten dennoch platzieren kann. Das Problem sei nicht der Tisch gewesen, sondern ob genug Produkte für zwei unvorhergesehene Gäste im Haus sind. Nun denn.

Während man alles Notwendige arrangiert, nehmen wir im kleinen Vorraum neben einem »schwebenden« Baum Platz, flugs wird ein kühles Glas portugiesischer Schaumwein gereicht. Die Stimmung hellt sich langsam auf. Vor allem haben wir Hunger. Dann geht es zu Tisch.

Der kleine Gastraum mit offener Küche zählt nur zwanzig Plätze. Noch sind alle besetzt, den Sprachen nach zu urteilen vorwiegend mit Touristen (das Foto entstand am Ende des Abends). Einerseits sorgen viel Holz und warmes Licht für eine gewisse Behaglichkeit, dennoch fühlt der Raum sich etwas karg an. Es gibt ein festes Menü, und da wir nicht nach Portugal gereist sind, um Burgund zu saufen, lassen wir uns auf die komplett portugiesische Weinbegleitung ein.

Als ersten Snack gibt es ein krosses, mit Kabeljau-Brandade gefülltes Kartoffelröllchen, das den portugiesischen Klassiker Bacalao auf elegante Weise interpretiert. Zumindest für unsere mitteleuropäischen Gaumen ein außergewöhnlicher Geschmackseindruck. Ein paar winzige Tupfer Zwiebelmarmelade setzen zum Stockfisch einen dezent süßlichen Akzent. Sehr fein.

Beim nächsten Snack fahren wir zweigleisig. Während ein Cracker aus Kichererbsen keinen größeren Eindruck hinterlässt, gewinnt eine portugiesische Sado-Auster durch Kokoscreme und grünes Chilli-Granita eine schmeichelnde Vielschichtigkeit zwischen Karibik und Atlantik. Speziell die mollige Kokosnuss-Süße erweist sich als kongenialer Begleiter für die salzig-frische Auster.

Der nächste Happen besteht aus einer sehr fein gearbeiteten Spirulina-Tartelette mit Kabeljau-Schwimmblase und gepökeltem Wolfsbarschrogen, eine ungewöhnliche, kraftvolle und trotzdem eigentümlich subtile Komprimierung maritimer Aromen, aufgelockert von Schnittlauch und winzigen Knusperbröseln. Originell und hervorragend.

Noch besser schmeckt ein knuspriger Kombu-Chip mit Dry-Aged Beef Tatar, bei dem die Alge wie ein Geschmacksverstärker für das ohnehin schon bemerkenswert füllige Rindfleisch wirkt; dazwischen pfeffert etwas Meerrettich und knacken ein paar saftig-säuerliche Kräuterblättchen. Ganz exzellent.

Es geht angenehm zügig weiter, mit einem knusprigem, mit Asche eingefärbten Teigkissen, das mit Kartoffelschaum gefüllt ist und von Lardo mit eingelegtem Sellerie getoppt wird. Hier tritt der Teig etwas zu sehr in den Vordergrund, aber durch das samtige Zusammenspiel von lauwarmer Kartoffel und fettem Speck ist das immer noch gut.

Eine weitere Tartelette kombiniert Rote-Bete-Tatar mit Cashewnuss und Koji, was in einem vollmundigen, beinahe fleischigen Geschmacksbild resultiert. Ein starker Abschluss dieses ersten Menüabschnitts.

Bis jetzt ist das alles ziemlich hervorragend, insbesondere wegen der aromatischen Eigenständigkeit. Erst später recherchieren wir den Werdegang von Inhaber und Küchenchef Alexandre Silva (der heute nicht im Haus ist), und staunen nicht schlecht, dass er zu Beginn seiner Karriere vor allem als Sieger der Fernsehsendung Top Chef bekannt wurde. Danach arbeitete er für nur eine Saison bei Martin Berasategui und eröffnete Ende 2015 das Loco. Ziemlich rasant.

Auch der Brotgang ist originell genug, um ihm ein paar Sätze zu widmen. Sehr gutes Dinkel-Sauerteigbrot wird mit portugiesischem Olivenöl und gereifter Rohmilchbutter serviert. So weit, so üblich. Den Clou bilden allerdings eine cremige, herzhafte Sobrasada und vor allem eine Sauce, die aus dem Traditionsgericht Herzmuscheln à bulhão pato gewonnen wurde – eine sanft nach Meeresbrise und Kräuterwiese schmeckende, süchtig machende Emulsion, die wir mit dem knusprigen Brot bis zum letzten Tropfen auftunken.

Der Service hat sich seit ein paar Gängen deutlich entspannt, ist kommunikativ, zuvorkommend, verbindlich. Dafür leert sich das Restaurant nun merklich. Das zweite Seating ist offenbar nicht gut gebucht.

Unter dem Begriff »Hauptgänge« subsumiert die Menükarte alle folgenden Gerichte. Den Anfang machen Sepia-Tagliatelle mit Ajo Blanco, der klassischen kühlen Suppe aus geriebenen Mandeln, altbackenem Brot, Olivenöl und Knoblauch – eine Aromenwelt, die einen umgehend in den heißen Süden katapultiert. Wir vermischen die zarten »Nudeln« mit der herzhaften Emulsion, dazwischen knacken kleine Mandelstückchen, ein Klecks Tintenfisch-Garum übernimmt die Aufgabe eines Turbostarters, der alles noch ein bisschen intensiver macht. Am Ende können wir gar nicht genau sagen, ob nun die Sauce oder der Pulpo der Star dieses Tellers sind. So oder so haben wir hier die formidable Verfeinerung eines traditionellen Geschmacksbildes.

Der »Fisch des Tages« ist heute Roter Schnapper, eine stattliche Tranche, sanft gegart und von Fischjus umhüllt. Der Fisch ist gut, sehr gut sogar, wie vermuten ein prachtvolles Exemplar. Der gelatinös eingekochte Jus gefällt durch sorgsam justierte Intensität, die präsent ist, ohne zu übertünchen. Trotzdem fehlt ein geschmackliches Gegengewicht, etwas Aufhellendes und auch ein wenig Biss. Seetang und Seetang-Emulsion können diese Funktion nicht erfüllen, am Ende bleibt alles recht weich, maritim und etwas klebrig.

Sehr viel besser gefällt der Fleischgang: Ein verführerisch glänzendes Stück Dry-Aged Lamm mit krosser Fettkruste wird lediglich von sorgsam reduziertem Lammjus und sehr guten Waldpilzen flankiert. Umami + Umami + Umami = Hochgenuss³. Ernsthaft: wir wissen nicht, woher das Lammfleisch stammt, doch es gehört – womöglich aufgrund der Trockenreifung – zu den besten, die wir bislang probieren durften. Ein bisschen klein ist das Stück, doch vergessen werden wir es nie. Mit einer Nocke Topinamburpüree wischen wir die letzten Saucenreste auf und verlängern so das Vegnügen.

Überraschenderweise bildet das Lamm nicht dem Abschluss des herzhaften Menüabschnitts, sondern ein geröstetes Stückcken Oktopus. Das schön knusprig aussehende Teil liegt auf einer Kakao-Pflaumencreme, die eher ins Herbe tendiert, mit nur leichter Süße. Dazu gibt es eine Sauce aus Orangenbitter sowie eine Kräutersauce, die wir nicht notieren, die aber auch keine nennenswerte Rolle spielt. Die Kombination von fruchtig-herber Bitterkeit und Oktopus könnte gut funktionieren, nur ist der Tintenfischarm von der, sagen wir: festeren Sorte. Bereits das Zerteilen der harten Kruste bereitet Mühe. Am Ende essen wir alles auf, doch freudiger Genuss geht anders. Der Service nimmt es bedauernd zur Kenntnis. Wir für unseren Teil nehmen es gelassen und freuen uns auf die Desserts.

Inzwischen sind wir die letzten Gäste; uns soll das nicht stören, doch es hat etwas Seltsames, wenn nahezu die gesamte Crew für zwei Gäste bereit stehen muss. Sei's drum, das Essen macht Laune, die Weine ebenso. Weiter im Text…

Der süße Menüteil wird von kleinen Zuckerwatte-Büscheln eingeleitet, die hübsch an einem Baumwollzweig drapiert sind. Was man nicht sieht: sie sind mit Pulver von Szechuan-Blüten bestreut. Das amüsante Bitzeln, das diese Blüten auf der Zunge hervorrufen ist uns seit den seligen Zeiten des Restaurant Amador in Langen gut bekannt, doch so intensiv wie hier haben wir den »elektrisierenden« Effekt noch nie erlebt. Noch Minuten später steht der gesamte Mundraum »unter Strom« und fühlt sich grell parfümiert an. Das kann nicht Sinn der Sache sein.

Da wirkt das erste Dessert wie eine Wohltat: eine Nocke sehr gutes Karottensorbet sitzt auf gegrillten Orangenfilets, obenauf eingelegte Karottenscheiben. Dazu gibt es noch Orangenschalenpüree mit Zitronenthymian. Die kühlende Frische ist nach dem Szechuan-Elektroschock eine echte Wohltat, aber auch so schmeckt die bewährte Kombination von sonnenduftiger Orange und Karotte einfach gut: belebend bitter und schmeichelhaft süß zugleich.

Das zweite Dessert besteht aus Eukalyptussorbet mit Pinien- und Johannisbrot-Crumble. Das Johannisbrot, eine typisch mediterrane Frucht, erinnert geschmacklich an herbe Schokolade, die Pinie unterstreicht die sanfte Mittelmeernote. Verblüffend gut gefällt dazu das Sorbet, bei dem der Eukalyptus bestens ausgesteuert ist. Alles zusammen erinnert verblüffend an »After-Eight«, doch statt dessen Penetranz gibt es hier erfrischende Eleganz. Sehr gut.

Die Petits Fours werden am Tisch aus einem hölzernen Nähkasten gezaubert. Eine hübsche Idee. Qualitativ ist das Probierte eher durchschnittlich, allerdings zeigt das großzügig nachgeschenkte Weinpairing mittlerweile Wirkung, sodass wir auf genauere Notizen verzichten. (Die Weine selbst sind relativ einfach, funktionieren aber ganz ordentlich)

Am Ende hat es sich also doch gelohnt, den etwas holpernden Start in Kauf zu nehmen. Der erste Abend in Lissabon überraschte uns mit einem Menü, das in der Reduziertheit, der Integration traditioneller Rezepte, der konsequenten Verwendung heimischer Produkte und nicht zuletzt auch der Ästhetik an die New Nordic Cuisine erinnert. Die Übertragung dieser Idee auf portugiesische Verhältnisse gelingt prima, die meisten Gerichte hatten Hand und Fuß, insbesondere die zahlreichen Snacks zeigten sich sehr stark.

Insgesamt dürfte die Küche allerdings forscher sein, herausfordernder auch. Loco bedeutet zu deutsch »verrückt« – diesem Namen sollte man mehr Ehre machen. Dessen ungeachtet spürt und schmeckt man den Willen, dem Menü einen eigenen, dezidiert »portugiesischen« Charakter zu geben. Allein das ist in einer Zeit der austauschbaren Mainstreamküchen mehr als ehrenwert. Umso gespannter sind wir, was die nächsten Tage bringen. Lissabon, das könnte was werden.

Kai Mihm

Wein

-Berbereta 2019 Brut Nature (DOC Óbidos)
-Adega de Vara, Consorte 2020 (Minho)
-Cossart Gordon - Rainwater (Madeira)
-Entre II Santos 2019 (Bairrada)
-Moinante Dupla Curtimenta 2021 (Alentejo)
-Quinta Vale da Roca – Pinot Noir 2020 (Colares)
-Quinta de Santa Eufémia Super Reserva 2011 Brut (Távora-Varosa)

Umfrage

New-Nordic-Philosophie in Südeuropa – kann das funtkionieren?

 

Das könnte dich auch interessieren