Desde 1911 – am Meer, in Madrid
Madrid hat als Destination für Essbegeisterte eine erstaunliche Entwicklung hingelegt. Noch vor fünf Jahren gab es in der Stadt zwar ein paar exzellente Sternerestaurants, allen voran das ›DiverXO‹, aber keine größere gastronomische Bandbreite. Kulinarisch stand die spanische Hauptstadt mit ihren drei Millionen Einwohnern stets im Schatten von Barcelona und San Sebastián.
Inzwischen hat sich das geändert. Eine stattliche Anzahl spannender Restaurants, gerade auch knapp unterhalb des Sternelevels, machen Madrid heute zu einem Gastro-Hotspot. Neben vermehrter Berichterstattung auf einschlägigen Webseiten und Social-Media-Kanälen spiegelt sich das gestiegene Interesse auch in verschiedenen Ranglisten, zum Beispiel bei ›Opiniated About Dining‹, wider.
Für uns Grund genug für eine Reise in die schöne Metropole – im Bild der Blick von unserem Balkon im Hotel Barceló »Torre de Madrid«.
Wir haben mit den Hotels der Barceló-Gruppe sehr oft gute Erfahrungen gemacht. Madrid – wo es gleich eine ganze Reihe gibt – bildet da keine Ausnahme. Der Name des Hotels rührt von dem ikonischen Gebäude, in dem es sich befindet: der »Torre de Madrid« an der zentralen Plaça España ist ein Wahrzeichen der Stadt und war einst das höchste Bürogebäude Westeuropas. Erst 2018 wurde auf einigen Stockwerken des ikonischen Bauwerks das Barceló Hotel eröffnet. Man sieht dem Hotel seine Jugend an, die coole Gestaltung stammt von dem spanischen Stardesigner Jaime Hayón Premio, alles ist angengehm hell, urban und leicht exzentrisch. Vor allem ist es ideal gelegen. Wir erreichen jedes unserer Restaurants in kapp 15 Minuten.
Ein kurzer Blick ins Zimmer, das mit klaren Linien und satten Farben gefällt – und einem Balkon, eine echte Rarirät bei Großstadthotels. Hier mit Ausblick über die Plaça España.
Doch zurück zur Kulinarik.
Das ›Desde 1911‹ gehört seit seiner Eröffnung im letzten Jahr zu den angesagtesten Adressen der Stadt. Einen Tisch, soviel vorab, bekamen auch wir nur über eine Mischung aus mehreren freundlichen E-Mails und einem Platz auf der Warteliste.
Das Restaurant gehört zur ›Pescaderías Coruñesas‹, dem traditionsreichsten Fischhandel Madrids, gegründet 1911 und mittlerweile in vierter Generation in Familienbesitz. Laut Eigendarstellung ist das ›Desde 1911‹ eine Hommage an den familiären Firmengründer, der ein großer Freund gehobener Gastronomie war. Bei einer kurzen Recherche im Vorfeld lese ich, dass der aktuelle Jahresumsatz des Unternehmens 56 Millionen Euro beträgt. Mit anderen Worten: Geld dürfte hier keine größere Rolle spielen.
Das sieht man dem Restaurant durchaus an. Hochwertige Materialen, geschmackvolle Designermöbel, aufwändige Deko-Installationen und zwei bestens ausgestattete Servicestationen samt Kochfeldern und Entenpresse verleihen dem Gastraum eine modern-luxuriöse Atmosphäre. Hier wurde nicht gekleckert.
Als wir um halb neun eintreffen, sind wir die ersten Gäste; es ist für Mitteleuropäer immer wieder erstaunlich, wie spät man in Spanien essen geht. Gegen 22 Uhr wird jeder Tisch besetzt sein. Das Publikum an diesem warmen Herbstabend bildet einen kleinen Ausschnitt der gehobenen Madrider Society, mit gut gelaunten Frauen in schicken Blumenkleidern, dazu gutaussehende Männer, deren edle Hemden man in Deutschland als etwas zu weit aufgeknöpft empfinden würde. Hier aber hat alles jene Stilsicherheit, die man vielleicht nur in Spanien findet, vielleicht sogar nur im feudalen Madrid. Die Atmosphäre ist weltläufig, lebendig und entspannt, man fühlt sich wohl. Am Dreiertisch neben uns werden direkt zwei Flaschen Romanée-Conti geöffnet.
Es rollt ein Wagen mit den Hauptprodukten des heutigen Menüs heran. Dazu wird die handgeschriebene Speisekarte gereicht. Man kann drei bis sechs Vorspeisen auswählen, stets gefolgt vom »Fisch des Tages« sowie Käse oder Dessert. Wir zögern kurz ob der Mengen, doch nach einem kurzem Austausch mit dem angenehmen Maître steht das volle Programm (220 €). Dann mal los.
Für den ersten Snack wird am Tisch norwegischer Lachs aufgeschnitten, den man für sieben Stunden über Buchenholz mild geräuchert hat …
... Die hauchdünnen Lachsscheiben zeugen von fantastischer Qualität, mit kernig-schmelzender Struktur, klarem Geschmack und einer perfekt austarierten, sehr feinen Räuchernote. Besseren Räucherlachs habe ich noch nicht gegessen.
Auf einem weiteren Teller finden sich dünne Scheiben von rohem Zackenbarsch, gefangen im Atlantik vor Cadíz, serviert mit »Tiradito«, einer pikanten, zitrusfrischen Sauce der peruanisch-japanischen Nikkei-Küche. Auch bei diese Kleinigkeit handelt es sich um eine beeindruckende Produktinszenierung.
Beim erste Menügang ruhen zwei Scheiben fetter, ganz leicht gebeizter Thunfischbauch von exzellenter Qualität auf großen Stücken frischer Tomaten, die leider nicht ganz so aromatisch sind, wie man es sich erhoffen würde. Für Würze sogt eine sehr gute Escabeche-Sauce, die hier die Funktion einer Vinaigrette übernimmt. Dank der schieren Fischqualität ist das vorzüglich, wenn man so will die Luxusversion eines Tomaten-Thunfischsalats an einer sommerlichen Strandbar.
Ein hervorragendes Produkt steht auch beim Salpicon vom galizischen Hummer im Mittelpunkt. Zwei dicke Tranchen des zarten Hummerschwanzes werden von einer süffigen, angenehm säurebetonten Sauce getragen, in der sich kleine Stücke vom Scherenfleisch finden. Das schmeckt alles sehr stimmig und sehr gut, ohne spektakulär zu sein.
Spektakulär wird es beim nächsten Gang, der einen Carabinero aus Huelva präsentiert. Unser Foto gibt nur unzureichend die Maße des Prachtexemplars wieder, das über Holzkohle gegrillt wurde. Außer einigen Flocken Meersalz ist da nichts, und mehr braucht es auch nicht. Das festfleischige, intensiv nussige Krustentier gehört zu den besten, die ich je gegessen habe. Mit Wonne sauge ich zum Abschluss den triefenden Kopf aus, wo sich bekanntlich der reichste Geschmack verbirgt – »mil sabores« nennen Spanier so etwas, »Tausend Geschmäcker«. In seiner souveränen Simplizität ist das eine lupenreine Götterspeise.
Weiter geht es mit zwei geangelten Tintenfischen »a lo Pelayo«. Traditionell steht diese Bezeichnung für mit Zwiebeln geschmorte Kalmare. Hier nun liegen die zart geschmorten Exemplare in einem dunklen, dichten Zwiebeljus und sind mit einer Mischung aus Schmorziebeln und Innereien gefüllt. Vor allem diese Füllung macht das Gericht ultraintensiv-maritim und gehaltvoll. Zusammen mit dem ebenfalls hochintensiven Ziebeljus geht das fast an die Schmerzgrenze – aber eben nur fast. Es schmeckt sehr »spanisch«, durchaus rustikal, und darin mehr als sehr gut.
Regelrecht beruhigend wirken nach dieser Papillenattacke zwei Teppichmuscheln (»Almeja gorda«) aus Carill. Sie sind von beachtlicher Größe und köstlicher Fleischigkeit. Leider wird jedoch ihr Eigengeschmack von einer Marinière-Sauce nahezu vollständig überlagert. Die Sauce ist an sich ganz ausgezeichnet, von tiefer Würze und leicht »fruchtiger« Frische, nur lässt sie den exquisiten Muscheln keine Chance. Bedauerlich.
Kabeljaukutteln gehören zu jenen Produkten, die man hierzulande in kaum einem avancierten Restaurant je serviert bekommt, schon gar nicht als Hauptdarsteller auf dem Teller. In Spanien (aber auch in Teilen Asiens) sind sie eine Delikatesse. Im ›Desde 1911‹ serviert man die Kabeljaukutteln als Eintopf mit weißen Bohnen und gehackten Totentrompeten – heiß und cremig, süffig und üppig. Ein rustikaler spanischer Klassiker, hervorragend umgesetzt. Zusammen mit dem Carabinero unser Favorit des Menüs.
Wir sind inzwischen ziemlich gesättigt, die bisherigen Portionen waren zwar nicht übermäßig groß, hatten aufgrund der intensiven Aromen aber eine durchaus »füllende« Wirkung. Dabei steht uns der Hauptgang jetzt noch bevor…
Das »pièce de résistance« wird zunächst am Tisch präsentiert, eine im Holzofen gegarte Meerbrasse. Das erinnert natürlich an berühmte Vorbilder wie das ›Elkano‹ und das ›Etxebarri‹ in der Nähe von San Sebastiàn.
… anschließend bereitet der Service an einer offenen Station im Gastraum die Sauce zu: mit einer Art Entenpresse wird der Saft aus dem Kopf des Fischs gewonnen, in einer Kasserole aufgekocht und mit der Bratbutter zu einer Sauce montiert. Hernach serviert man die mit Sauce überzogenen Filets.
Das Fischfilet ist von bester Qualität, auch die Garung stimmt. Nur die aufwändig hergestellte Sauce enttäuscht etwas, bleibt sie geschmacklich doch sehr, sagen wir: »mild«. Dabei gäbe der Kopf so viel her, allein die Bäckchen ließen sich als delikates Aperçu servieren, anstatt sie an eine blasse Sauce zu vergeuden. Dessen ungeachtet schmeckt die Meerbrasse ausgezeichnet, auch die Beilagen – Tomaten und geröstete Pimientos de Padrón – passen bestens. Die Portion ist uns nur eindeutig zu groß. Viel zu groß. Hier stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, nach sechs Gängen noch einen ganzen Fisch zu servieren (oder umgekehrt vor einem ganzen Fisch erst noch sechs Gänge).
Ein kleine Auswahl von zwei prachtvoll bestückten Käsewagen darf es dennoch sein (im Bild fehlt der Wagen mit den ganzen Laiben). Wir verkosten unter anderem spanischen Humo und Blau de Jutglar, britischen »Stinking Bishop« und alten Comté.
Zum Abschluss rollt ein weiterer Wagen an, von dem man sich ein Dessert aussucht. Meine Wahl fällt auf Baba au Rhum (im Bild vorne links in der Kupferpfanne), wobei es sich aber eher um Buchteln handelt. Das fluffig-weiche, warme Hefegebäck zeugt von exzellenter Handwerkskunst und wird mit luftig aufgeschlagener Mascarpone-Chantilly serviert – ganz hervorragend.
Thierrys Wahl fällt auf Panacotta mit kandierten Walnüsseen, frischem Honig, Pollen und Milch. Auch dies ein klassisches, handwerklich blitzsauberes und geschmacklich mehr als sehr gutes Dessert – cremig, nussig, mit wärmender Honigsüße.
Die Petits fours versäumen wir zu fotografieren, doch angesichts einer nunmehr deutlichen (Über)Sättigung verkosten wir sie ohnehin nicht mehr.
Das war alles sehr gut, was sich insbesondere den verwendeten Produkten verdankt. Eine solche Qualität an Fisch und Krustentieren darf man angesichts des Hintergrunds natürlich erwarten, bemerkenswert bleibt die hohe Güte dennoch. Allein, man könnte daraus noch wesentlich mehr machen. Aktuell scheint das Küchenkonzept von einem Rekurs auf traditionelle Rezepturen bestimmt. In den besten Momenten erzeugt das sonnige Strand-Erinnerungen. Aber auch bei diesem Ansatz ließen sich mit etwas mehr Finesse originellere und vielschichtigere Geschmacksbilder erzeugen. Was da möglich ist, zeigt Gérald Passedat im ›Le Petit Nice‹
Mehrheitsfähig ist das ›Desde 1911‹ schon jetzt, die Buchungslage spricht eine klare Sprache. Es macht auch Spaß hier zu essen, vor allem wenn man weniger gierig bestellt, als wir heute. Bis man das Level der offenkundigen Vorbilder erreicht (›Elkano‹, ›Etxebarri‹), müssen allerdings noch ein paar Stellschrauben nachgezogen werden. Der Michelin empfiehlt das Restaurant bereits, ist mit Sternen indes noch zurückhaltend, was sich gut nachvollziehen lässt. Dass man sich damit nicht zufrieden geben wird, davon zeugt allein schon der betriebene Aufwand. Es bleibt interessant. [Update: Im November 2023 erhielt das ›Desde 1911‹ einen Stern]. Als wir das Restaurant weit nach Mitternacht verlassen, sind wir von der Großstadtkulisse direkt ein bisschen überrascht – fühlten wir uns für ein paar Stunden doch fast wie am Meer, in Madrid.
Kai Mihm
Wein
Taittinger Brut, Champagne
Dominio do Bibei, Lalume 2019, Ribeira Sacra
Gosset Grand Rosé, Champagne
Luis Rodriguez, Viña de Martín, Escolma 2019, Ribeiro
Bodega Contador, Que Bonito, Cacareaba 2022, Rioja
Dominio do Bibei, Lalama 2020, Ribeira Sacra
Raúl Pérez, Amigos del Tiempo 2019, Castilla y León
Bodegas Urium, Amontillado, VORS, Jerez
Sidra de Hielo Valverán 20 Manzanas, Asturien
Hinweis
Unser Hotelaufenthalt wurde von Barceló Hotels unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.