Restaurantkritik 23.April 2023

Belcanto – Lokalmatador

Egal mit wem ich mich in Lissabon unterhalte, Kellner, Köche, Bartender, Essensbegeisterte – jeder erzählt, dass die gastronomische Szene der Stadt erst in den letzten fünf, sechs Jahren wirklich Fahrt aufgenommen habe. Vor diesem Hintergrund muss man José Avillez wohl als Vorreiter bezeichnen. Nach prägenden Stationen, unter anderem bei Eric Frechon und Ferran Adria, eröffnete er 2012 in seiner Heimatstadt das Restaurant Belcanto, welches noch im selben Jahr den ersten Stern erhielt; zwei Jahre später wurde es das erste Zwei-Sterne-Restaurant der Stadt, in der es lediglich noch zwei weitere Einsterner gab. In den folgenden Jahren hielt das Belcanto mit seiner modernen portugiesischen Küche Einzug in der berühmt-berüchtigten »World's 50 Best«-Liste und kletterte kontinuierlich nach oben. Aktuell steht es auf Platz 46.

Dies alles nur, um zu verdeutlichen, welchen Status das Restaurant im spitzengastronomisch überschaubaren Portugal genießt – und das man als passionierter Esser in Lissabon kaum darum herum kommt. Avillez ist längst ein prominenter Gastro-Unternehmer mit verschiedensten Projekten, auch außerhalb Portugals. Der von der »50 Best«-Platzierung sicherlich geförderte Ruhm zeigt sich auch im Belcanto selbst, das bei unserem Eintreffen noch fast leer ist, sich im Lauf des Mittags aber bis zum letzten der 42 Plätze füllen wird, und zwar überwiegend mit Touristen aus Amerika und Asien.

Die Atmosphäre changiert zwischen einer gewissen Förmlichkeit und der souveränen Lockerheit eines urbanen Restaurants von Rang. Zur Wahl stehen neben einer á-la-Carte-Auswahl zwei Menüs, von denen es für uns das Umfangreichere (225 €) sein soll. Beim Wein lasse ich mich einmal mehr auf das Pairing mit mir völlig unbekannten portugiesischen Produzenten ein. In vinophiler Hinsicht ist dieser Trip eine Art Bildungsurlaub.

Das Menü, bei dem hinter jedem Gericht das Entstehungsjahr angegeben wird, startet flüssig und fest. In einem Martini-Glas wird ein »Elderini« (2020) serviert, eine Art Holunder-Martini, getoppt von einem Schaum aus Zitronenschale und einer guten Prise Paprikasalz, wodurch das Ganze anregend zwischen Süßsäuerlichkeit und kitzelnder Salzigkeit changiert. Dazu gibt es ein mit Dorschleber gefülltes und von Forellenrogen getopptes Mini-Brioche (2019), das sich als überraschend intensiver und trotzdem schmeichelhaft zarter Meereshappen erweist.

Beim folgenden Trio sollen wir raten, woraus eine goldbraun schimmernde Praline besteht, die auf einem Löffel gereicht wird. Die Antwort lässt sich leicht erschmecken: Foie gras (2021), sehr gut gewürzt, ideal temperiert, dadurch schön cremig, neckisch umspielt von der oxidativen Süße einer Portweinreduktion. Sehr gut. Dass man aus diesem recht klassischen Happen ein Ratespiel macht, könnte etwas über die Gästestruktur des Restaurants sagen.

Ebenfalls auf einem Löffel wird ein hervorragendes Stück Thunfischbauch serviert, ergänzt durch winzige Knusperelemente und eine gelierte Ponzu-Brühe aus Zitrusfrüchten des renommierten Bio-Anbaus Lugar do Olhar Feliz (2022). Ein hervorragender Happen, der japanisches Aromenverständnis ins Portugiesische übersetzt.

Sehr gut gefällt zum Abschluss ein Sandwich aus aromatischer Algarve-Krabbe und Hühnerhaut (2023), das Meerestier als knackiges Stückchen, die Haut als hauchdünn knuspernde Chips. Berg & Meer, sehr schön.

Das erste Tellergericht kombiniert Scheiben von mild geräucherter und gepökelter Makrele mit Austern-Emulsion sowie Creme und Stückchen von Karotte (2022); ein wenig geriebener Trüffel und ein Hauch Kreuzkümmel setzen erdige Akzente. Das schmeckt im Zusammenspiel von jodig-salzigen, »dunklen« und leicht süßlichen Aromen nicht schlecht, aber trotz des qualitativ sehr guten Fischs verschwimmt alles zu einem etwas undefinierten Einerlei, was nicht zuletzt an den vielen cremigen Komponenten liegt.

Beim nächsten Gang lädt unser Kellner erneut zum Raten ein. Woraus sei wohl das wie Schnee anmutende Eis auf dem Teller gemacht? Zugegeben, wir schmecken zwar eine herbe Fruchtigkeit, aber kommen nicht drauf: Tomatenwasser. Das fürwahr exquisite, unglaublich »klar« schmeckende Eis begleitet einen Caesar-Salat von europäischem Hummer (2021). Dieser verbirgt sich als cremig marinierte Stücke in knackigen Römersalat-Blättern und als eine Art Tatar in einem Avocado-Röllchen. Dazu gibt es eine klare Vinaigrette aus Tomatenwasser und Yuzu, ein paar Tupfer Trüffelemulsion, ein paar Spritzer Olivenöl sowie einige Tupfer Salatcreme. Erneut ist das alles durchaus gut und angenehm erfrischend, insgesamt aber erneut auf der recht weichen und cremigen Seite. Zudem gerät der Hummer durch die Kälte des Tomatensorbets und die Intensität der Cremes etwas ins Hintertreffen.

Es folgt eine der ältesten Kreationen aus Avillez' Repertoire. Sie trägt den Titel Der Garten der Gans, die goldene Eier legte (2008) und besteht aus einem pochierten, von Blattgold verhüllten Hühnerei, das auf einer »Erde« aus kross gebratenen Brotkrumen ruht. Sticht man das Ei an, vermischt sich das ausfließende Dotter mit Hühnerjus, schwarzem Trüffelsaft und einer exzellenten Creme aus São-Jorge-Hartkäse von der gleichnamigen Azoren-Insel. Hier stimmt alles. Es schmeckt vollmundig und raffiniert, deftig und doch elegant, cremig und knusprig, wobei Lauchstroh und saftig gebratene Shimenji-Pilze das Texturspektrum noch erweitern. Nicht zuletzt ist dieser Teller ein präzise strukturiertes Spiel mit Umami: von Pilzen, Ei, Jus, Käse und Trüffel, zusammengehalten von den knuspernden Brotkrumen. Hervorragend.

»Jetzt… kommt ein absoluter Höhepunkt! Warten Sie es ab«, verspricht mit verschwörerischer Mine unser junger Kellner, ein auf Dauer etwas zu jovialer Spaßvogel, der an jedem Tisch die exakt gleichen Sprüche reißt. Sei's drum. Da wir früh ankamen hören wir sie zumindest immer als Erste.

Das so vollmundig annoncierte Gericht erweist sich als Carabinero mit Curry und Blumenkohl (2022). Das orangerot leuchtende Krustentier ist von stattlicher Größe, prachtvoller Güte und perfekter Garung: innen nicht mehr roh, dadurch von bissfester Elastizität (vulgo: knackig) und großer Saftigkeit. Carabinero hat einen wesentlich intensiveren Geschmack als der omnipräsente Kaisergranat, deshalb kann er auch die fruchtig-scharfe Currysauce gut vertragen. Diese bekommt durch Limettenblätter und Koriandergrün einen deutlichen Thai-Touch, vor allem schmeckt man ihr aufs Köstlichste an, dass sie mit den Kopf-Innereien des Carabinero vollendet wurde. Grandios. Der Blumenkohl – geröstet und als zartes Couscous – lockert das Ganze auf und dient zugleich als Saucenträger. Portugiesisch ist hier zwar bis auf den Carabinero gar nichts, aber ganz hervorragend schmeckt es trotzdem.

Der Fischgang (von 2020) kombiniert sanft gegarten Seehecht mit einer cremigen, mit Koriander abgeschmeckten Sauce und einem Ragout aus Kabeljau-Schwimmblase. Für ein, zwei Gabeln schmeckt das in seiner üppigen Samtigkeit sehr gut, dann kippt es: das Cremige wirkt breiig, vor allem durch die sehr weichen und sehr vielen Schwimmblasen-Stücke, ein Produkt, das wir in Hongkong und Macau schätzen lernten, das dort allerdings weitaus behutsamer verarbeitet wurde. Wir wissen um das Faible auf der Iberischen Halbinsel für gelatinöse Texturen, unser Fall ist das diesmal nicht.

Der erste Fleischgang des Mittags präsentiert gebratene Taubenbrust, die aus unerfindlichen Gründen nicht mit der appetitlich gebräunten Hautseite nach oben auf dem Teller liegt, sondern mit der etwas grob aussehenden Schnittseite. Nun denn, das Fleisch schmeckt ausgezeichnet und wird von Schwarzwurzeln, Pilzen und einem guten, leider recht sparsam dosierten Taubenjus stimmig, wenn auch nicht sehr aufregend begleitet. Ein mit Taubenragout gefülltes, zartknusperndes Pastel de massa tenra (ein portugiesisches Traditionsgebäck) hat da mehr Spannung. In Summe ein handwerklich solides, erstaunlich klassisches Gericht. Ach ja, fürs Protokoll: Es stammt von 2022.

Als letzten herzhaften Gang gibt es einen Klassiker aus der Anfangszeit des Belcanto: Spanferkel mit Orangenschalenpüree und Salat (2012). Das zu einem flachen Quader geschnittene Fleisch verbirgt sich unter einer gleichmäßig gebräunten Schwarte, lediglich getrennt von einer millimeterdünnen, den Geschmack verstärkenden Fettschicht. Allein dieses Zusammenspiel von zartem Fleisch, schmelzendem Fett und filigranster Knusprigkeit sorgt für einen wohligen Schauer. Dazu gibt es makellos gebarbeitete Pommes soufflées und einen exzellenten Pfefferjus. Das Orangenschalenpüree kontert die dunklen Fleisch- und Pfefferaromen mit einer sommerlichen Leichtigkeit, süßlich, aber nicht verkitscht. Als heimlicher Star erweist sich indes ein Stück Romanasalat, das minimal angebraten wurde und mit etwas Trüffel aromatisiert ist – eine Mischung von saftiger Frische und Röstaromen, die an entspannte Grillabende denken lässt. Wie überhaupt dieser ganze Teller etwas wohltuend Ungezwungenes hat. Alles kommt hier wie von selbst zusammen. Zu Recht ein Evergreen des Hauses.

Beim ersten Dessert handelt es sich um ein Eiscreme-Sandwich in Form eines Schweinchens (2022). Wir haben vergessen die Eissorte zu notieren, aber sie schmeckt süß-herb; spielt auch keine größere Rolle, denn die viel zu dicken, leicht salzigen Keksscheiben, von denen das Eis eingefasst ist, dominieren sowieso alles. Ein paar Stückchen geräucherter Schinken, etwas gepuffte Schweineschwarte und einige Tropfen Karamellsauce greifen das Spiel mit Herzhaftigkeit und Süße auf recht plumpe Weise auf. Ein Klassiker wird das nicht.

Das abschließende Dessert präsentiert dann einen Klassiker. Die Mandarine (2010) besteht aus einem orangefarbenen Hohlkörper aus Mandarineneis, der trotz seiner Größe und seiner vollkommen glatten Oberfläche eine Mandarine darstellen soll; hier könnte man der Pâtisserie vielleicht mal ein paar neue Formen auf der Höhe der Zeit spendieren. Die Kugel ruht auf einer Mandarinencreme und ist mit Mandarinenschaum gefüllt. Dazu gibt es noch ein prickelndes Mandarinensorbet. Das klingt nach ziemlich viel... Mandarine. Das Erstaunliche ist denn auch, wie differenziert jede Komponente schmeckt, mal etwas fruchtiger, mal etwas säuerlicher, teils gehaltvoll, teils federleicht. Nuancen einer Frucht werden feinfühlig schmeckbar gemacht. Als Konterpart fungieren einige Brösel »Steinpilz-Erde«. Insgesamt ist das erheblich besser, als erwartet. Nein, mehr: es ist sogar ziemlich hervorragend.

Zum Espresso kommen noch zwei Petit Fours in Gestalt einer Sonnenblumen-Praline und ziemlich saurer Yuzu-Fruchtgummis, dann müssen wir los, das Taxi zum Flughafen ist schon unterwegs.

Der Besuch im zweifellos berühmtesten Restaurants Portugals lässt uns zwiespältig zurück. Einerseits wird hier mit einer ansprechenden Mischung aus Modernismus und Klassizismus gekocht, wird Traditionelles gepflegt, aber Internationales nicht ausgeschlossen. Andererseits mangelte es Gerichten, die durchaus »kreativ« sein wollten, an Wagemut – man könnte sie fast konservativ nennen –, anderen fehlte der letzte kulinarische Schliff. Alles war gut bis sehr gut, aber nur Einzelnes wirklich herausragend. Bemerkenswerterweise begeisterten vor allem ältere Kreationen und Klassiker durch ihre Präzision, ihre Deklination einzelner Produkte und ihre Reflexion aromatischer Zusammenhänge.

Von der Nachvollziehbarkeit der »50 Best«-Platzierung wollen wir trotzdem gar nicht groß anfangen (die kann vermutlich nur verstehen, wer auch die deutschen Platzierten für die »besten« des Landes hält), denn insgesamt war das Menü im Belcanto eher gefällig, als gewagt, ein Eindruck, der sich als roter Faden durch unsere Lissaboner Restaurantbesuche zog. Das muss nichts Schlechtes sein, und es ist unternehmerisch nur verständlich, wenn man ein bewährtes Programm für eine internationale, womöglich nicht allzu erfahrene Klientel abspult. Ansätze verschieben sich. Oder anders gesagt: früher war das Belcanto sicherlich »Avantgarde«. Heute ist es arriviert.

Kai Mihm

Wein

NV Nicolau de Almeida, Douro
2021. Serra Oca, Lisboa
2021, Nossa Calcário, Bairrada
1984, Porta dos Cavaleiros, Dão
2021 Soalheiro Reserva Vinhos Verdes
2020. José Avillez & Niepoort, Douro
2017, Quinta da Vegia "Património", Dão
2019. Giz Vinhas Velhas, Bairrada
NV. Carcavelos Villa Oeiras, Carcavelos
NV. Secret Spot Moscatel do Douro 10 Anos, Douro

Hinweis

Bei dem Besuch handelte es sich um eine Einladung. Der Inhalt des Berichts bleibt davon unberührt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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