Alter Torkel – Im Bilderbuch
»Heidiland« wird im Marketing-Sprech die Schweizer Region genannt, in der sich Jenins befindet, ein kleiner Weinort eine knappe Stunde südlich von Zürich. Bündner Herrrschaft heißt sie für die meisten anderen. Wir sind für ein paar Tage in die Gegend gereist, weil man hier gleich mehrere Ziele für Essensbegeisterte findet, allen voran das dreifach besternte ›Memories‹ im Nachbarort Bad Ragaz (der Bericht steht hier).
Am ersten Abend führt unser Weg aber ins besagte Jenins, eine Gemeinde mit knapp 1000 Einwohnern, wo der deutsche Sommelier Oliver Friedrich und seine Frau vor gut drei Jahren, mitten in der Pandemie, ihr eigenes Restaurant eröffneten, das Alter Torkel. Wir kannten Friedrich noch aus seiner Zeit als Sommelier auf ›Schloss Schauenstein‹; im ›Alten Torkel‹ besuchten wir ihn kurz nach der Eröffnung im Sommer '20 und waren schwer begeistert. Ein Wiederbesuch stand bei der aktuellen Planung weit oben auf der Liste.
Das Restaurant liegt mitten in einem Weinberg, ein malerisches Setting mit fantastischem Blick auf sattgrüne Hänge, Täler und Bergkämme. »Heidiland« fürwahr. Früher wurden hier die Trauben verarbeitet, und im rustikalen Innenraum das geschmackvoll sanierten Gebäudes steht immer noch eine historische Baumpresse: jener »Torkel«, der dem Lokal seinen Namen gibt.
Einen Schwerpunkt bildet angesichts von Ort und Inhaber naturgemäß der Wein: »Huus vom Bündner Wii« nennt sich der ›Alte Torkel‹, dementsprechend listet die sehr umfangreiche Karte ausschließlich Weine aus der Bündner Herrschaft. Uns soll das recht sein, wird die Region doch gerne als »Burgund der Schweiz« bezeichnet.
Auch die Speisekarte ist nach Weinen geordnet: die zahlreichen offenen Angebote sind nach Charakerteristik gruppiert, dazu werden jeweils passende Speisen von Küchenchef David Esser aufgelistet. Von Käsespätzle bis Carabinero gibt es eine bemerkenswerte Bandbreite an Gerichten, auch preislich. Man setzt hier offenkundig nicht nur auf Casual Fine Dining, sondern auch auf eine sympathische Bodenständigkeit. So oder so, für uns soll es heute Abend ein Degustationsmenü samt Weinbegleitung sein. Eine solche Verkostung macht auch deshalb Sinn, weil man exzellente Schweizer Weine außerhalb des Landes vergleichsweise selten findet, schon gar nicht in dieser regionalen Bandbreite.
Den Anfang macht ein kreisrundes Stück Wassermelone in einem leichten Melonensud, garniert mit verschiedenen Feta-Zubereitungen. Die angesagte Kombination von Melone und Schafskäse wird hier auf originelle Weise variiert und durch ein Gelee von Thai-Basilikum sanft asiatisch untermalt. Das schmeckt überraschend komplex, an diesem sonnig-warmen Abend ist es aber vor allem die würzige, salzig-süßliche Frische, die uns sehr gut gefällt.
Der zweite Gang präsentiert eine Tranche gebeizter Brüggli-Lachsforelle, die auf einem Sockel aus Quinoa und feinen Gurkenwürfelchen thront. Der Fisch ist von bemerkenswerter Güte, hat buttrigen Schmelz und zarten Biss. Dazu die getreidige Frische und das angenehme Mundgefühl von Quinoa mit Gurke, sehr schön. Umspielt wird das Ganze von einer leichten Ajoblanco, die überhaupt nicht deplatziert wirkt, sondern den Charakter einer feinwürzigen Joghurtsauce hat. Irgendwo kommt noch eine Hauch Holunder her, auch das eine stimmige Idee, die den leichten und frischen Ton dieses hervorragenden Gerichts unterstreicht.
Als kleines Intermezzo folgt ein kleines, nicht zu fein gehacktes Rindstatar auf Brioche, gewürzt mit Rauchforellencreme und fein gehobelter Belperknolle – ein lustvoller Happen aus der deftigeren Abteilung, dem etwas Amalfizitrone die nötige Frische verleiht. Erneut sehr gut.
Weiter geht es mit einem Carabinero, mit zurückhaltender Pointiertheit gewürzt, perfekt gegart, saftig, mit elastischer Spannkraft und vollem Geschmack. Das Krustentier ist in einem tiefen Teller auf handwerklich makellosem Chawanmushi angerichtet, das geschmacklich passend, aber in der cremigen Menge deutlich zu viel ist. Hervorragend bleibt der Teller allemal, und verschiedene kleine Würzelemente sowie neckisch knuspernde Reiscracker-Kügelchen (»Arare«) runden das kurzweilige Vergnügen ab.
Nicht so gut gefällt der folgende Fischgang: eine Tranche sanft gebratener Saint-Pierre ist auf Klebereis angerichtet und mit Juliennes von Papaya und Möhren garniert. Für sich genommen schmeckt der Fisch mit seinen appetitlichen Röstspuren durchaus gut, doch der Reis ist zu weich, und eine Kokossauce verschiebt das Geschmacksbild etwas plump in eine süßlich-südostasiatische Richtung. Dieses Geschmacksbild ist uns dann doch eine Spur zu weit vom alpinen Setting entfernt.
Wir bitten die Küche um eine kleine Verschnaufpause, auch um den Blick etwas schweifen zu lassen, ein Glas in der Hand. Die Aussicht und das Licht sind in diesem Moment geradezu irreal.
Zu dieser Stimmung passt der nächste, auf zwei Tellern servierte Gang, mit dem die Küche sich wieder in heimischere Gefilde bewegt: Auf einem Teller liegt eine ziemlich große, mit Kalbfleisch gefüllte und leicht angebratene Maultasche (Oliver Friedrich stammt aus Baden); der Teig ist an den Rändern recht dick, insgesamt aber gut gemacht, die Füllung deftig, ohne grob zu wirken. Röstzwiebeln und sehr guter Kalbsjus runden das gelungen traditionelle Geschmacksbild ab.
Auf einem zweiten Teller finden sich zwei Tranchen vom Kalbs-Flanksteak, zartrosa und für Kalb überraschend aromatisch; ein paar mehr Röstaromen würden dennoch gut tun. Die Beilage aus gerösteter Roscoff-Zwiebel und gegrilltem, knackigem Romanasalat mit feinen Parmesanflocken verschiebt den Teller ins sanft Mediterrane; der oben erwähnte Kalbsjus steht zur Selbstbedienung in einem Steingutkännchen auf dem Tisch, wovon wir regen Gebrauch machen. In der souveränen Reduziertheit schmeckt auch dieses Doppel einfach gut.
Etwas komplexer und deutlich intensiver wird es bei Pulpo mit Schweinebauch. Eine Scheibe appetitlich glänzendes, von schmelzigem Fett durchzogenes Bauchfleisch wird von einem bissfesten Tintenfischtentakel »umarmt« – ein klassischer Berg-und-Meer-Akkord. Spinat, geschmorte Tomaten und insbesondere eine sehr gute XO-Sauce unterstreichen das kraftvolle Umami-Thema dieses ausgezeichneten Gerichts. Man fragt sich nur, was nach diesem intensiven Gang noch als aromatische Steigerung kommen soll…?
Die Antwort: Geschmortes Rindsbäggli, butterzart, mit dem vollem Geschmack eines sehr guten Grundprodukts. Hier nähert man sich wieder einer »heimatlicheren« und rustikaleren Küche an, die durch kleine Abweichungen wie eine Beurre-Blanc von fermenierten Pfifferlingen (statt schwerer Schmorsauce) und ein Kartoffelküchlein (statt Salzkartoffeln) eine geschickte Verfeinerung erfährt. Sautierte Pfifferlinge mit Brombeeren bilden dazu ein hervorragendes Ensemble aus nussiger Erdigkeit und süßsäuerlicher Frucht.
Den süßen Abschluss bildet eine Kombination aus Himbeeren (in verschiedenen Zubereitungen), flaumigem Sauerrahm-Espuma und leicht pfeffrigem Shiso. Hier gefallen insbesondere das ausgezeichnete Himbeersorbet und die leicht geschmorten Früchte. Zusammen mit einem kleinen Gebäck (eine Art Baba) und knuspernden Mini-Baisers ergibt das ein leichtes, ansprechend fruchtbetontes Dessert. Nicht so stark, wie die herzhaften Gänge, aber immer noch sehr befriedigend.
Wie schon beim ersten Besuch sind wir regelrecht ein bisschen verzaubert, als der laue Sommerabend ausklingt. Oliver Friedrich und sein junges Team haben hier einen Wohlfühlort par excellence geschaffen. Einen Ort, an dem eine persönliche Vision von vinophiler Gastronomie gelebt wird. Die Atmosphäre ist gelöst, das Setting ein Traum, die Weinkarte großartig und das Essen praktisch durchweg sehr gut. Man merkt an den »exotischeren« Gerichten, dass die Küche sich vom Speisenangebot der umliegenden Wirtshäuser abheben muss. Regional, wie man es hier vielleicht erwarten mag, sind auf der Karte eher wenige Speisen. Diesen Job übernehmen die Weine. Und wenngleich etwas mehr kulinarisches Lokakolorit dem Ort sicher gut stünde, bleibt bemerkenswert, wie gut das Konzept zwischen heimischer Küche und Crossover-Kreationen funktioniert.
Das einzige, was ich bedauere, ist, dass wir heute erst am frühen Abend eingetroffen sind. Hier oben auf dem Weinberg einen ganzen Nachmittag zu vertorkeln, mit guten Weinen und kleinen Speisen, das wäre mal ein Plan. Aber man muss ja noch Ziele haben.
Kai Mihm
Wein
White Mystery 2022, SB BON, Gaudenz Thürer, Malans
Weissburgunder 2022, Weingut Wegelin, Malans
AT-Schaumwein Brut Rose 2018, Sprecher von Bernegg, Jenins
Sauvignon Blanc sur lie 2021, Jürg Obrecht, Jenins
Chardonnay 2021, Ciprian, Zizers
Pinot Noir 2010, Weingut Obrecht, Jenins
Completer 2015, Giani Boner, Malans
Pinot Noir Saliser 2016, Georg Schlegel, Jenins
Suavis 2021, Hanspeter Kunz, Fläsch