Restaurantkritik  7.November 2022

Quiques Küche

Auf der Fahrt zum Quique Dacosta Restaurante in Dénia könnte man meinen, irgendwo falsch abgebogen zu sein. Filialen von Aldi, Burger-King und Rossmann, Immobilienbüros und gesichtslose Apartmenthäuser sind nicht unbedingt das typische Umfeld von Drei-Sterne-Gastronomie. Nun wäre es töricht, von diesem Randgebiet auf die gesamte Stadt zu schließen. Dénia ist im Kern ein ansprechender, gar nicht mal so kleiner Ort mit lebendigem Hafenviertel und imposantem Kastell. Man versucht in der ganzen Gegend den üblichen Massentourismus der Costa Blanca zu vermeiden, was neben einer Vielzahl geschmackvoller Ferienvillen wohl auch die relativ hohe Sternedichte erklärt.
Das »Quique Dacosta Restaurante« jedenfalls wertet seine etwas undefinierte Umgebung durchaus auf, mit einer Anmutung zwischen postmodernistischer Märchenburg und Los Angeles-Luxusresidenz. Zu diesem Eklektizismus passt auch der Vorführwagen eines Stuttgarter Autoherstellers auf einem Podest vor der Tür.

Kulinarisch sind wir gespannt. Einerseits weil uns Dacostas Zweitrestaurant »El Poblet« vor wenigen Tagen sehr begeisterte. Andererseits weil unsere jüngsten Erfahrungen mit spanischer Avantgarde, zu der Quique Dacosta zählt, nicht die besten waren. Allerdings relativieren sich derlei negative Eindrücke bei uns recht schnell. Wir nehmen uns selbst nicht aus, wenn wir sagen, dass bei Problemen von Gästen mit bestimmten Avantgarderestaurants die Ursache nur selten in der Küche zu finden ist. Aber dieses Thema zu vertiefen würde jetzt zu weit führen.
Hier und heute in Dénia beginnt der Abend im stimmungsvollen Garten samt imposanter »Dom Pérignon«-Lounge. Die Menükate wird in einem aufwändig gestalteten Büchlein gereicht, das Dacostas diverse Restaurants und Projekte vorstellt. Zur Lektüre serviert der junge, herzliche Service den Aperitif, und dann beginnt auch schon das Menü, mit dem so genannten »1. Akt«…

Den Anfang macht eine Variation des Singapur-Klassikers Chili Crab, hier in Gestalt eines federleichten Brotes, welches mit Krabben, (mildem) Chilli und allerlei südostasiatischen Aromen gewürzt wurde. Der Geschmack erinnert ein wenig an Sweet-Chili-Sauce, außerdem sind Ingwer, Garnelen, Koriander und Fischsauce im Spiel. Dem Original kommt das verblüffend nahe. Bemerkenswert ist die Beschaffenheit des hauchzart-luftigen Brotes, das sich am Gaumen praktisch verflüchtigt und puren Geschmack zurücklässt. Aufgrund der eindringlichen Aromenwelt wirkt das Ganze dennoch recht mächtig. In halber Größe wäre dieser Snack perfekt.

Es geht weiter mit einer Schale, in der sich im Wesentlichen Pastinakenschaum mit Pastinakenchips befindet; ein paar kleinere, fruchtig schmeckende Komponenten und ein mediterranes Kiefernaroma lockern das Geschmacksbild auf, doch bei aller Kurzweil ist uns auch diese Einstimmung zu groß, durch den Schaum zu mächtig und durch die Pastinake zu süßlich.

Es kommt noch dicker, im wahrsten Wortsinn. Ein »leichter« Donut aus reifem Kürbis ist mit flüssigem Kürbis und schwarzem Trüffel gefüllt. »Leicht« kann man das höchstens im Vergleich mit dem typischen Donut eines amerikanischen Diners nennen. Ziemlich süß ist das Teil, und sehr warm – bei einer Lufttemperatur von gut 30 Grad hier draußen. Dazu gibt es noch eine gehaltvolle Kürbis-Consommé mit Kürbiskernöl. Im Winter ist das bestimmt ein tolles Gericht, wenn auch eher als Dessert.

Nach diesem durchaus üppigen Einstieg wird man zu Tisch gebeten. Es gibt zwei Gästebereiche, beide sind an diesem Donnerstagabend ausgebucht (das Foto durchs Fenster entstand bei der Ankunft). In unserem Abschnitt sorgen weiße Wände, warmes Licht, ein Kamin und rustikale Holzbalken für eine behagliche Atmosphäre. Geschickt platzierte Dekorationsgegenstände und gewaltige Bilderrahmen mit weißen Leinwänden darin verleihen dem Raum Finesse und Eleganz. Die Stimmung ist lebhaft. Gefällt uns alles richtig gut.

Der 2. Akt trägt den Titel »Das Meer. Unser Kaiseki...«. Er beginnt mit Knusperstangen von Nori Seetang und Reis, »Korallen« genannt und aufwändig auf einer dem Meeresgrund nachempfundenen Plastik präsentiert. Drumherum finden sich weitere kleine Speisen, die der Service im nächsten Schritt serviert…

… nämlich ein Kombucha von Rotem Thun, in dem ein Stück Thunfisch-Knochenmark schwimmt. Unsere charmante, nahezu perfekt deutschsprechende Kellnerin empfiehlt das Schälchen auszutrinken und das weiche Mark wie eine Auster mit herauszuschlürfen. Gesagt, getan. Das Kombucha hat eine angenehm herbe Frische, während das Mark, eigentlich eine Delikatesse, in diesem Kontext keine aromatische Bedeutung entwickelt.
Ganz hervorragend schmeckt dafür die Bauchscheibe von gepökeltem Roten Thun, zart und salzig, fett und aromatisch. Exzellenter Fisch in exzellentem Zustand – und eine bemerkenswerte Demonstration der Tatsache, dass auch das gewissenhafte Reifen eine Form von »Kochen« darstellt.
Weiterhin gibt es ein Gelee von gepökeltem Thunfischfilet (Mojama), das durchdringend nach Meer und Fisch schmeckt, wohltuend aufgefrischt von Gurke und Mandelcreme. Für drei, vier kleine Gabeln ist das spannend, danach aufgrund der salzigen Intensität und der Gelee-Textur eher anstrengend.

Der nächste Gang hat Meeresfrüchte zum Thema. Butterzarte Baby-Tintenfische ruhen auf einer gestockten Creme aus Oktopus und Zwiebeln. Beigemischt sind außerdem Stücke mit knusprigem Oktopus-Katsuobushi. Diese aromatische und texturelle Auffächerung des Tintenfischs, von cremig über knackig zu knusprig, ist so spannend wie wohlschmeckend. Einmal mehr hochintensiv, dabei jedoch so portioniert, dass es bis zum Schluss Freude bereitet.
Das Highlight bildet indes eine zeitgleich servierte pflanzliche Abalone. Sie besteht aus dünnen Scheiben von Kräutersaitlingen, deren Textur verblüffend einer »echten« Abalone gleicht; eine Emulsion von Seeanemone verstärkt die geschmackliche Parallele. Ein aromatisch starkes, konzeptionell innovatives Gericht – und in der Schonung maritimer Ressourcen möglicherweise von wegweisendem Charakter.

Das nächste Teller-Duo rankt um »Rogen von blauem Hummer«. Es gibt eine Schale mit kühlem Hummersalat, der am Tisch mit einer dicklichen, jodigen Sauce aus dem Rogen des Krebstieres übergossen wird. Die Hummerstücke sind zart und ausdrucksstark, weitere Komponenten wie Meerestrauben und in Tempura frittierte Algenstückchen erweitern das maritime Geschmacksbild in kurzweiliger Manier. Trotzdem wird es uns allmählich ein bisschen zu viel an cremigen, schaumigen und sonstwie weichen Texturen.

Auf einem Extrateller liegt ein halbierter Hummerkopf, dessen Inneres man direkt herauslöffeln und nach Lust auch herauslutschen soll. In der geschmacklichen Wucht, die sich am Gaumen wie eine Essenz des Meeres ausbreitet, ist das toll. Nur ist der Kopf leider kalt, nicht etwa durch Nachlässigkeit, sondern intendiert. Kälte bindet bekanntlich Aromen, macht sie mitunter etwas stumpfer und gröber. Anders gesagt: Lauwarm wäre das alles bedeutend besser.

Quique Dacosta macht kurz darauf einer Runde durchs Restaurant und erweist sich entgegen seiner weltmännischen Erscheinung als zurückhaltender, beinahe schüchtern wirkender Mann. Ein amüsanter Effekt seiner Prominenz zeigt sich in der Nonchalance, mit der er meiner 12-jährigen Tochter ein Autogramm anbietet (ohne dass sie danach gefragt hätte). Sie findet es toll.

Es folgt ein Überraschungsgang, der im Lauf des Abends an sämtlichen Tischen serviert wird. Eingehüllt in ein feuchtes Tuch kommen Gamba Rojas de Dénia auf den Tisch. Der Tradition entsprechend sind sie lediglich à la minute in Meerwasser gegart und mit den Händen zu verspeisen. Um solchen Purismus schätzen zu können muss man natürlich wissen, was man da vor sich hat (was selbst bei so manchem Vielesser nicht der Fall ist, wie wir später lesen konnten). Die Rotgarnelen werden von kleinen Booten aus einem Tiefseegraben zwischen Dénia und Ibiza gefischt und kommen bereits sattrot (nicht grau, wie üblich) aus dem Meer; je nach Größe kosten sie bis zu 300 Euro pro Kilo.

Der Geschmack unserer Prachtexemplare ist so delikat nussig, süßlich und geheimnisvoll würzig, dass man sie tatsächlich am besten ganz pur verspeist, das Auszuzeln des Kopfes nicht zu vergessen. Zwischendurch nippen wir an einem Glas mit exquister Essenz von Mangold und Krustentierschaum, die aber eigentlich auch schon zu viel der Beigabe ist.

Notabene: Im »Disfrutar« hatten wir einen nahezu identisch konzipierten Gang, nur mit mehr Show und Garnelen aus Palamós.

Unter mit dem Titel »Inspiriert von der Tradition« beginnt der 3. Akt. Los geht es mit dem ersten warmen Gericht des Abends, einem traditionellen Bohneneintopf mit Rosmarin, Räucheraal und Foie Gras. Der Gang ist herzhaft, heiß, umami, süffig – und trotz eines gewissen Herbstcharakters eine Wohltat. Simpel und sehr gut. Die eigentliche Pointe erfahren wir erst beim Abräumen der Teller, nämlich dass die knackigen Bohnen in Wahrheit weichgegarte valencianische Erdnüsse waren. Ein verblüffender Effekt, der einmal mehr beweist, wie sehr Geschmacksempfinden auch auf Suggestion beruht.

Als nächstes kommt gefüllte Paprika auf den Tisch, ein Gericht, das in fast jedem europäischen Land Tradition hat. Hier verbirgt sich unter einer zarten, gehäuteten Paprikascheibe bissfest geschmorter Reis. Die ersten zwei Löffel sind wundervoll: duftend, heiß und vollmundig. Wie auch der Eintopf befriedigt das Gericht den Wunsch nach dunklen, erdigen Aromen. Ab dem dritten Löffel kommt jedoch eine zunehmende Süße zum Tragen, deren Ursache sich nicht recht ausmachen lässt. Der Service löst das Rätsel schließlich mit der Information auf, dass man dem Gericht Zucker hinzufügt. Dieser Hang zum Süßen, der sich bereits beim Donut zeigte, ist für uns nicht nachvollziehbar. Die Qualität dieses grundsätzlich exzellenten Gerichts wird dadurch leider geschmälert.

Nun beginnt bereits der 4. Akt. mit dem Titel »Fleisch, Zeit und Salz...«. Eine dünne Scheibe Rinderkotelett, das ein Jahr lang in salziger Atmosphäre reifen durfte, ist lediglich mit Salz gewürzt und an manchen Stellen kurz mit glühend heisser Kohle »kontaktgegrillt« (ähnlich wie im »Hertog Jan«, aber auch sonst scheint diese Technik gerade sehr en vogue zu sein). Das Fleisch schmeckt fantastisch, zart und von seltener Intensität, stellenweise leicht warm und röstig, nur leider an einzelnen Stellen auch hart an der Salzgrenze.

Der Hauptgang nennt sich gegrilltes Mark und Rindertartar. Ein »Knochen« aus einem kompakten Schaum von Knochenmark umhüllt eine Rinderglace, in der sich kleine Tatarstückchen verbergen. So sehr wir es lieben, beim Ossobucco das Mark aus dem Kalbsknochen zu löffeln: dieser »Knochen« hier ist in seiner Verdichtung des typischen, fetten Mark-Geschmacks viel zu intensiv. Auch texturell ist das kein Vergnügen. Die ultraintensive Sauce ditschen wir teilweise mit gegrilltem Brot auf, doch am besten gefällt uns das marinierte, beim Abbeißen saftig krachende Salatherz. Für einen Fleischgang nicht unbedingt das größte Kompliment.

Inzwischen etwas ermattet, freuen wir uns auf die Desserts unter dem Titel »Die süße Schönheit...«. Das Finale beginnt fulminant, mit einem Mandelküchlein (Polvoron) dessen unglaubliche Leichtigkeit bei gleichzeitiger Ausdrucksstärke uns zum Staunen bringt und uns glücklich Auflachen lässt: Man beisst ein Stück ab, das sich am Gaumen in sekundenschnelle auflöst. Die zauberhafte Flüchtigkeit einer süßen Verführung wird hier auf magische Weise in ein Dessert übersetzt. Definitiv ein Highlight, vielleicht sogar das Highlight des Abends.

Das Hauptdessert nennt sich Piluka's Box und ist eine Hommage des Kreativchefs Juanfra Valiente an seine Mutter: die kindliche Erinnerung an ihre Schmuckschatulle und ihr typisches Parfüm hat er in ein Dessert verwandelt. In einem Schmuckkästchen findet sich unter einem Ornament aus weißer Schokolade eine süße Creme mit verschiedenen Fruchtstücken, vor allem sehr gute Erdbeeren. Wir meinen auch Litschi, Rose und andere florale Aromen auszumachen, wodurch das ganze Dessert tatsächlich etwas Parfümiertes bekommt, nicht penetrant, sondern angenehm. Sehr gut.

Zum Abschluss gibt es die obligatorischen Kleinigkeiten. Grüne Mandel-Pralinen, cremige Mango-Bonbons und Honigwaben aus Rosmarin und Zitrusfrüchten bewegen sich souverän zwischen Süße, Frische und Fruchtigkeit, und bezeugen die handwerkliche Kunstfertigkeit der Pâtisserie.

Auf unerwartete Weise erlebten wir heute ein Menü der Extreme. Manche Gänge waren extrem »maritim«, andere extrem umami; es gab kalte Gerichte, wo man Wärme erwartet hätte, dazwischen Gratwanderungen mit Salz und Süße. Wir konnten nie genau sagen, ob das Menü nun eine faszinierende Tour de Force oder anstrengend ist. Fordernd war es allemal. Ein Hochgenuss im klassischen Sinne nur vereinzelt. Darum muss es auch nicht immer gehen, doch anders als etwa im »Mugaritz«, wo man sich geschmacksbürgerlichen Parametern bewusst entzieht, scheint man hier in Dénia durchaus Wert auf den Genussaspekt zu legen.

Quique Dacosta selbst schreibt auf der Speisekarte, er drücke mit dem Menü sein Verständnis heutiger Küche aus. Nun ist es vielleicht einfach so, dass dieses Küchenverständnis manchmal nicht zum Heute des Gastes passt. Womit wir wieder bei der Avantgarde und den Gästen wären, den Problemen und den Ursachen. Für die nächsten Tage haben wir uns jedenfalls viel Grillen am Pool vorgenommen. Das Autogramm wird in kindlichen Ehren gehalten.

Kai Mihm

Wein

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