Restaurantkritik 10.Juni 2022

Die neunte Kunst

Lyon wird gerne als kulinarische Hochburg, wenn nicht sogar Hauptstadt Frankreichs bezeichnet. Das hat zwei Gründe. Der eine ist gastronomischer Natur. Mit Eugénie Brazier (1895-1977) stammt die ikonische französische Köchin aus Lyon; sie führte zwei Drei-Sterne-Restaurants und bildete unter anderem Paul Bocuse aus. Aber auch einflussreiche Küchenmeister wie Alain Chapel wurden in Lyon geboren. Der zweite, noch gewichtigere Grund dürfte die kulinarisch vorteilhafte Lage sein, nämlich zwischen Bresse, Charolais und Dombes; das Burgund ist nicht weit, die Weine des Rhône-Tals genießen ebenfalls Weltruf. Und das alles praktisch vor der Haustür. Schlaraffenländische Zustände. Ein Besuch Lyons, von jugendlichen Schüleraustauschen mit entsprechenden Liebeleien noch in zärtlichster Erinnerung, war also längst überfällig.

Bei unserer Recherche zeigte sich, dass die traditionellen Lyoner Gaststätten, »Bouchons« genannt, mit ihrer bodenständigen Regionalküche eine wesentlich zentralere Rolle spielen, als die Sternegastronomie. Eigentlich sehr schön. Für einen Kurztrip war die Auswahl an Macarons dennoch mehr als ausreichend. Nach einem recht mäßigen déjeuner im zweifach besternten »Takao Takano«, und einem schönen Abend im Hause Bocuse (und vor dem großartigen dîner im »Les Apothicaires«) kehren wir im »Le Neuvième Art« ein.

Es hat zwei Sterne und wird von Christophe Roure und seiner Frau Nati geleitet – die uns zu unserer großen Überraschung in perfektem deutsch empfängt, da sie früher als Reiseleiterin tätig war. Ihr Mann wurde 2007 als »Meilleur Ouvrier de France« ausgezeichnet, eine renommierte Ehrung, die es für verschiedene Handwerkssparten gibt. Im Jahr darauf erhielt das erste Restaurant des Paares zwei Sterne, nach Umzug und Neueröffnung im Jahr 2014 gab es direkt wieder zwei Macarons.
Das Restaurant, benannt nach der Idee des Kochens als "neunter Kunst", ist hell und klar gestaltet. Mit moosgrün und ocker sind die dominierenden Farben angenehm ungewöhnlich. Zusammen mit den Texturen des Mobiliars zwischen aufgerautem Filz und glattem Holz changiert die Atmosphäre auf eigentümliche Weise zwischen Retro und Modernismus. Das kulinarische Angebot besteht aus zwei Menüs und einer A-la-Carte-Selektion. Die Diskussion über das Für und Wider der diversen Optionen macht Freude, die Wahl fällt nicht leicht. Am Ende entscheiden wir uns für das Menü »Au fil de l'art«, weil es ein paar von Roures Klassikern enthält.

Los geht es mit zwei Appetithäppchen: Eine Tartelette vom Räucheraal (kein Foto) ist mit Thai-Aromen gewürzt und von einem zarten, schneeweißen Reisschaum bedeckt, eine filigrane und geschmacklich ansprechende Vermählung europäischer und südostasiatischer Geschmackswelten. Sehr französisch wird es bei den Schnecken aus dem Burgund, mit kräftigem Pilzjus und flaumigem Kartoffelpüree. Das schmeckt erdig und intensiv, süffig, trotzdem elegant und vor allem ungemein köstlich – die Region in drei heissen Löffeln.

Exzellent gerät auch das Wachtelei »in seinem Nest«: es wurde ganz leicht geräuchert und ist in Lardo di Colonatta und ein krosses Brotblatt gehüllt. Knusprigkeit, delikates Fett, perfekter Schmelz und wohlige Wärme ergeben einen Happen, der zum Augenschließen gut schmeckt.

Der erste Menügang stellt Gillardeau-Austern in den Mittelpunkt. In einer flachen Schale finden sich Austern in einem kühlen Gelee, der faszinierend nach Torf und Meer schmeckt; Strandschnecken sowie Stücke von Schwertmuscheln erweitern das intensiv-maritime Spektrum und ergänzen das weiche Austernfleisch mit ihrer knackigen Textur. Dieses elegante Ensemble wird teilweise von einem Air bedeckt, das theoretisch nach Kaffee schmecken soll, faktisch aber –wie alle Airs– nach exakt gar nichts schmeckt und also sinnlos ist.
Besser funktioniert ein längliches, knuspriges Gebäck, »Wintertartine« genannt, das separat gereicht wird und mit Wildkräutern, Kräutercremes, hauchdünnen Rettichspähnen und verschiedenen rohen Pilzen belegt ist – ein geschmacklich abwechslungsreicher, die Papillen beruhigender Kontrapunkt zur kraftvollen Meereswelt und zugleich ein hübsches Spiel mit der Berg-und-Meer-Idee.

Weiter geht es mit gebratener Foie gras von der Ente, deren schiere Produktqualität nicht weniger als Weltklasse ist – besser noch, als am Abend zuvor bei Bocuse. Roure würzt die appetitlich geröstete Scheibe mit Timut-Pfeffer, einer nepalesischen Variante des Szechuan-Pfeffers, dessen elegante Schärfe und fruchtig-zitronige Frische der Foie eine beinahe ätherische Leichtigkeit verleiht. Ein paar kleine Radieschenstücke und winzige Blättchen Zitronenmelisse greifen dieses Thema auf, während in Yuzu marinierte Pilat-Äpfel anregende Säure ins Spiel bringen. Neben der geschmacklichen Eleganz dieses Tellers macht auch die texturelle Abstufung von der Foie gras zum festerem Apfel und den knackigen Radieschen Freude.

Inzwischen ist das Restaurant fast bis zum letzten Platz besetzt, an einem Donnerstagmittag. Das klassische Geschäftsessen scheint ebenso darunter zu sein, wie das kleine Familientreffen. Spaß haben die Leute offenbar an allen Tischen. Frankreich halt…

Für uns gibt es als nächstes Jakobsmuscheln, in einer Form, die uns bislang unbekannt war: mehrere Exemplare sind zu einer Art Rolle gepresst, die rundum goldbraun angebraten wurde. Auf verblüffende Weise verleiht diese Behandlung –und vor allem das Anbraten nicht der flachen Seiten, sondern der Ränder– den Muscheln eine fast fleischige und zugleich besonders zarte Textur. Dazu gibt es Pèrigord-Trüffel und eine samtige Emulsion aus den Jakobsmuschelbärten. Als Träger dieser köstliche Sauce dient ein Schnee-Ei (»Oeuf-a-la-Neige«), das hier vom süßen in einen würzigen Kontext überführt wird – auch das eine sehr schöne Idee. In seiner klassisch anmutenden Schlichtheit ein ausgezeichnetes Gericht.

Den nächsten Gang annonciert der Service als »Signature«-Gericht des Hauses: Saiblingsfilet wird am Tisch mit heißem Bienenwachs übergossen und darin bei 90°C gegart. Das kommt sicher nicht nur uns irgendwie bekannt vor... im Wiener »Steirereck« erlebten wir diese Prozedur bereits 2011 – und dort ist es seither ein »Signature«-Gericht. »Amüsant« ist, dass auch Olivier Nasti im Elsass uns diese Methode als einen Hausklassiker, sprich: seine Erfindung präsentierte. Dabei muss doch klar sein, dass dies jedem halbwegs erfahrenen Esser sofort auffällt. Nun denn, wir ersparen uns eine Diskussion und sind gespannt, wie es am Ende schmeckt…

… und um es vorweg zu nehmen: es schmeckt ganz hervorragend. Der Saibling ist butterzart und hocharomatisch. Die leichte Süße, die er durch die Garmethode erhält, wird von Roure mit einer kandierten Zitronen-Salzbutter gebrochen, die er im letzten Moment auf den Fisch aufträgt. Dazu gibt es eine im Ganzen gebratene Artischocke »auf römische Art«, also mit Kräutern und etwas Knoblauch, hier noch um knusprige Artischockenchips ergänzt. Diese Kombination von zart-süßlichem Fisch und würzig-gerösteter, erdiger Artischocke ist ein Clou, spannend und abwechslungsreich, intensiv und doch leicht. Tatsächlich verfliegt unsere Irritation über die Zubereitungskopie mit dem ersten Bissen. Dennoch bleibt für uns die Bezeichnung als »emblematisches« Gericht der Küche völlig unverständlich.

Im Hauptgang gibt es australisches Wagyu, das –wir glauben es beim Anblick kaum– zunächst mariniert und im Vakuum bei 49°C gegart wurde. Vor dem Servieren wird es über Holzkohle gegrillt, was zu einer dunklen, sehr appetitanregenden Kruste führt. Ganz zum Schluss kommt noch eine Drehung aus der Mühle mit getrockneten Garrigue-Kräuter darüber, die dem röstigen, zarten Fleisch einen subtilen Hauch duftiger Camargue-Würze verleihen. Wir sagen immer, dass perfekt zubereitetes Wagyu keine großen Beilagen verträgt. Und Roure scheint das ähnlich zu sehen, denn er gibt außer einem Klecks Jus lediglich ein Stück in Salzkruste gegarten Sellerie mit feinstem Olivenöl, ein angegrilltes Romanasalat-Blatt und eine Salatemulsion hinzu – leichtes, mildes Gemüse also, das im Grunde wie eine frische Salatgarnitur wirkt. Keineswegs banal, sondern durchdacht, stimmig und einer besten Wagyu-Teller seit langem.

Wie in Frankreich noch üblich, rollt der Käsewagen an. Doch heute verzichten wir angesichts des bevorstehenden Abendprogramms, schweren Herzens.

Als Dessert gibt es ein perfekt zubereitetes Pistaziensoufflé mit Schokokern, dazu ein gutes Pistazieneis und einen Schaumkuss von Pistazie und Schokolade, der das Soufflé quasi umkehrt: außen Schokolade, innen Pistazie. Uns ist er jedoch deutlich zu süß und zu klebrig. Der Star bleibt das Soufflé, eine Nachspeise, die wir in Frankreich schon sehr oft serviert bekamen, allerdings meistens viel zu groß und sehr selten in solcher Güte: heiß, duftend, wolkenzart und vor allem nicht zu süß. Klasse.

Abschließend noch ein paar solide Mignardises. Neben zwei heißen Krapfen sind da ein Yuzu-Karamell, ein Birnen-Walnuss-Financier, ein recht süßes Bonbon mit Mandarinenlikör, sowie zwei sehr gute Kreationen von Roures Freund Philippe Bel, seines Zeichens »Meilleur Ouvrier de France Chocolatier«: Eine Karamell-Bananenkugel und ein Praliné-Haselnuss-Rocher.

Ein letzter Schluck Wein, ein kurzes Plaudern mit Madame Roure, und schon ist ein genussreicher Mittag vorüber. Es ist erstaunlich, dass man über das »Le Neuvième Art« so wenig hört und liest, selbst in einschlägigen französischen Publikationen. Nicht, dass wir den Eindruck hätten, Christophe Roure (der uns verblüffend an Daniel Humm erinnert) würde das stören. Doch hier in Lyon, in der Rue Cuvier im angesagten 6. Arrondissement, wird mit messerscharfer Souveränität eine aufs Wesentliche reduzierte Küche serviert. Exzellente Hauptprodukte und drei, höchstens vier Komponenten, mehr brauchte es bei Roures Tellern nicht. Dies möchten wir gar nicht mit dem modischen Schlagwort »Purismus« traktieren. Es geht um die Konzentration auf den Wohlgeschmack, und der stimmt. Die »neunte Kunst«… vielleicht ist es das, was hier passiert.

Text: Kai Mihm

Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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