Restaurantkritik  1.August 2022

Ein Hauch von Zen

Die Schließung des »Hertog Jan« im Jahr 2018 traf uns wie ein Schock. Zweimal hatten wir in dem dreifach besternten Restaurant gegessen, beide Erlebnisse waren nicht weniger als grandios. Später erklärten Küchenchef Gert de Mangeleer und sein Co-Inhaber Joachim Boudens in einem Interview ihre Beweggründe: »Es war, als befände man sich in einem Tunnel und könnte das Ende nicht sehen. Das Unternehmen wurde so groß … Wir brauchten eine Pause«. Fortan widmete sich das umtriebige Duo seinen anderen Gastro-Projekten wie der lässigen »Bar Bulot«.
Umso schöner kam Ende 2020 die Ankündigung, an neuem Ort zur Spitzenküche zurückzukehren. Ein Jahr später öffnete das Hertog Jan seine Pforten im »Botanic Sanctuary« Antwerpen, einem neuen Ultraluxushotel, das unter strengen Bauauflagen in einem imposanten Backsteinkloster aus dem 15. Jahrhundert eingerichtet wurde. Das machte uns etwas skeptisch, denn als Luxushotelrestaurant konnten wir uns das »Hertog Jan« nur schwer vorstellen.

Tatsächlich ist das Restaurant losgelöst vom eigentlichen Hotel. Es findet sich etwas versteckt in einem Nebengebäude des großzügigen, von historischen Klostermauern geschützten Areals. Vorbei an gespenstischen Skulpturen gelangt man zu einem schweren Holzportal. Passend zur Umgebung hat auch das Interieur etwas Klösterliches: extrem reduziert, mir rau verputzten Wänden, organisch belassenen Holzoberflächen, Gestein und minimalistischer Blumendeko. Ein Hauch von Zen, der auch Gert de Mangeleers Liebe zu Japan widerspiegelt.

Dieser Vorliebe ebenfalls entsprechend gibt es lediglich ein Menü – Kaiseki, wenn man so will. Die Abfolge der Gänge wird vorab nicht verraten. Dafür erläutert der freundliche, anfangs noch etwas formelle Service, dass man ganz bewusst auf eine allzu starke Social-Media-Präsenz verzichte, um den Gästen nicht den Überraschungseffekt zu rauben. Deshalb möge man bitte auch als Gast auf ausufernde Postings verzichten. Kein »Foto-Verbot« also, sondern eine Bitte, der wir Nachkommen möchten. In unserem Bericht werden daher (fast) nur Gerichte zu sehen sein, die bereits anderweitig publiziert wurden; ansonsten verzichten wir auf Bilder oder beschränken uns auf Ausschnitte. Vor »Spoilern« sei dennoch gewarnt.

Nach einer am Tisch zubereiteten Infusion von frischen Kräutern wird der erste Gang aufgetragen. Er trägt den Titel Caviar Explosion und besteht aus einem knusprigen, hauchdünnen Sauerteig-Fladenbrot, das mit Royal Belgian Caviar, in Dashi mariniertem Lachskaviar und Zitruskaviar (sprich: Fingerlimette) belegt ist. Als Unterfütterung dieses spannungsreichen Ensembles dienen gehobeltes Eigelb und mild geräucherter Stör, was dem üppigen »Törtchen« noch mehr Volumen verleiht, salzig-maritim, frisch und knusprig. Das sind zum Auftakt bereits zwei, drei exquisite Bissen.

Der nächste Gang wird als Toro no Toro annonciert, mit der Erläuterung, dass man die aromatischen und texturellen Eigenschaften von Thunfischbauch (Otoro) mit lokalen Produkten erzielen möchte. Auf dem Teller findet sich eine flacher Zylinder aus Zeeland-Hamachi und belgischem Holstein-Rind, beides von bester Qualität – und der Effekt ist tatsächlich verblüffend: der fettreiche Hamachi sorgt für den typischen Toro-Schmelz, das Rind für den »fleischigen« Biss, der auch Tuna zueigen ist. Getoppt wird das Duo von einer üppigen Nocke Royal Belgian Caviar, dessen nussige Jodigkeit den luxuriösen Schmelz unterstreicht; ein Hauch Wasabi regt die Papillen an, eine am Tisch angegossene Sauce aus Yuzu-Öl und Buttermilch macht das Ganze geschmeidig, frisch und süffig. Ein kleines Meisterstück.

Eine klare Referenz an Japan ist die Saba Roll aus in Daikon gerollter Makrele mit Schnittlauch, schwarzer Knoblauchreme und krossen Algen. Erneut begeistert hier die schiere Produktqualität des Fischs, der von der Einfassung aufgefrischt und spielerisch gewürzt wird. Als kleines Problem erweist sich nur die schiere Größe des Teils: Für einen einzigen Happen ist die Rolle zu groß, doch beißen wir ab, droht das Konstrukt zu zerfallen. Wir machen es trotzdem, zumal noch eine samtige Yuzu-Mousseline als Dip dazu gereicht wird, leicht säuerlich und buttrig. Insgesamt hat das nicht ganz die Finesse der vorherigen Gänge, bewegt sich aber auf einem sehr hohen Niveau.
Inzwischen ist auch die anfangs etwas verhaltene Servicecrew aufgetaut und hat Spaß am lockeren, aber nie distanzlosen Austausch.

Und weil es schon länger keinen Kaviar mehr gab, spielt er beim nächsten Gang eine wichtige Rolle. In Kombu gepökelter Royal Belgian Caviar wird am Tisch aus seiner Hülle befreit und großzügig auf dem nächsten Gericht verteilt: Beef no beef besteht aus einem Tatar von Dry aged Rote Bete, bei dem wir ohne die Vorab-Information wohl kaum bemerkt hätten, dass wir ein Gemüsetatar verspeisen. Textur, Farbe, aber auch der erdige Geschmack haben etwas von einem hervorragend gewürzten Rindertatar. Für das Umami sorgt gegrilltes Seetangöl, während eine elegante Sake-beurre-blanc das Tatar geschmeidig macht und sich aufs Wunderbarste mit dem Kaviar vermengt. Das ist so bezaubernd filigran, dabei so pointiert, dass es uns einen Schauer über den Rücken jagt.

Doch es wird noch besser. In einem tiefen Teller ruht in einer leichten Krustentiersauce ein kreisrund geformtes Tatar vom bretonischen Kaisergranat, bedeckt mit Rote Bete (u.a. als hauchdünne, zarte Scheiben), die hier vollkommen anders wirkt, als zuvor beim Tatar. Mit ihrer Erdigkeit bildet sie einen tollen Widerpart zu den Meeresnoten des Granats, mildert seine wogende Intensität. Der Clou sind allerdings kleine Himbeerstücke, die immer wieder blitzartige Akzente setzen und deren süßliche Moschusnote sowohl die Rote Bete als auch das Krustentier fantastisch komplimentiert. Dieser Dreiklang zwischen Feld und Meer fügt sich zu einem aufwühlenden Gericht, das mit jedem Löffel noch besser schmeckt.
Wir können nur darüber staunen, wie die Küche hier ein Highlight nach dem anderen auftischen lässt. Und obwohl die Gerichte sich strukturell ähneln, mit viel Kaviar und seidigen Saucen, wirkt jedes eigen und anders.

Es folgt ein Klassiker des Hauses: Samtiger Kartoffelschaum ist mit Kaffeestaub überzogen und mit einer guten Menge geriebenem Mimolette bedeckt – ein cremiges Wunderwerk aus aromatischen Kontrasten (herber Kaffee, würzig-süßlicher Käse), dank perfekter Feinabstimmung zu absoluter Harmonie verbunden. Vanilleöl verleiht dem Ganzen ein geheimnisvolle, sanft exotische Magie. Allerdings wirkt das Ganze auch realtiv mächtig – früher wurde diese Kreation als Amuse serviert, und wir sind nicht sicher, ob die entsprechend kleinere Portionierung nicht von Vorteil war.

Der nächste Gang betört allein schon durch die Farben: In einer dunkelgrauen Steingutschale leuchtet eine orangefarbene Gemüsesauce, in der wiederum ein schneeweißes, mit Tomatenpuder bestäubtes Kabeljaufilet sitzt, das durch Konfieren erheblich an Geschmack gewonnen hat. Außerdem findet man verschiedene Blüten, Kräuter und rote Zwiebelstreifen, drumherum bleistiftdünne, rohe (!) Zucchini und diverse Sorten winziger Tomaten, teils geschmolzen, teils naturbelassen und beim Zerbeißen neckisch ploppend. Dieser Teller schmeckt wie ein sonnengesättigtes Füllhorn des Südens, unglaublich pur, duftig und rein. Ein Gericht, in das man sich mit Wonne hinein isst, in dem wir uns verlieren wie in einem geheimnisvoll wildwuchernden Sommergarten.

Danach werden wir in die Küche gebeten. Dort nimmt man in einer Art Höhle an einem großen, runden Holztisch Platz, wo bereits eine Flasche Rotwein und nostalgische Gläser warten. Wir probieren einen guten Schluck, lassen die Stimmung auf uns wirken und schauen zu, wie am Pass der nächte Gang vollendet wird …

... bei dem es sich um ein Gericht zum Teilen handelt, und das erneut ein Füllhorn an frischem Gemüse ist: leuchtend grüne Erbsen, weiße Mairübchen, feuerrote Radieschen, Spargel und Frühlingszwiebeln sind mit saftigen Morcheln höchster Güte, fleischigen Schnecken und jeder Menge frischen Gartenkräutern zu einem Ragout verdichtet, umhüllt von einer federleicht aufgeschäumten Verveine-Sauce. Die Präsentation auf stilvoll-nostalgischem Porzellan ist von rustikaler Eleganz, die Qualität sämtlicher Zutaten schlicht atemberaubend. Dieser und der vorherige Gang sind in ihrer puren Gartenfrische urtypische de-Mangeleer-Gerichte.

Noch etwas benommen von diesem aufwühlenden Gericht kehren wir an unseren Tisch zurück, wo schon ein kleiner Teller mit Blätterteig-Brot und Planktonbutter bereit steht, duftend, knusprig, buttrig. Die leichte Süße des Brots ist zunächst irritierend – als wäre ein Kaffeegebäck zu früh serviert worden. Doch zusammen mit der umamigesättigten Butter funktioniert es erstaunlich gut.
Sofort bemerken wir auch die neue Blumdendekoration – es ist ein solcher Sinn für beiläufige Details, der uns begeistert.

Sodann folgt der nominelle Hauptgang, Wagyu A5. Eine dünne Scheibe des dicht marmorierten Fleischs wird am Tisch mit heißer Binchotan-Kohle »gegrillt« und mit Tsukemono (eingelegtem Gemüse) sowie knusprigen Bröseln von fermentiertem Knoblauch angerichtet. Das Fleisch ist naturgemäß von fantastischer Qualität, der Schmelz betörend, die Grillaromen perfekt ausgespielt. Dazu der kurzweilige Knuspereffekt und etwas Gemüse. Der Gaumen wird von verdichtetem Wohlgeschmack regelrecht geflutet. Exzellent.

Danach wird zunächst ein Stückchen Roue Cendre aufgetragen, ein unpasteurisierter Ziegenkäse, zu perfekter Cremigkeit gereift, leicht nussig, mit einem Hauch typischer Ziegenkäse-Herbheit. Sehr elegant.
Diese Verkostung bildet zugleich die Vorbereitung für das erste Dessert: Eine Art Pudding aus Roue Cendre (kein Foto), serviert in einem kleinen Steingutschälchen, vermischt mit marinierten blauen Trauben, versteckt unter einer hauchdünnen Karamellscheibe mit ein paar Salzflocken. Der Geschmack dieser so schlicht anmutenden Zubereitung ist nicht weniger als atemberaubend, von einer perfekten Balance zwischen käsiger Würzigkeit und Süße, Cremigkeit und Knusper, Fruchtigkeit und leicht salzigen Akzenten. Man möchte nicht, dass dieser Genuss endet… Ein Gänsehautmoment.

Dagegen fällt das Hauptdessert leider ab. Es besteht aus verschiedenen Zubereitungen von eingelegtem Rhabarber mit Frischkäsecreme und Joghurtsorbet. Das schmeckt angenehm leicht und frisch, changiert unaufdringlich, aber auch etwas profan zwischen süß, sauer und milchig. Insbesondere die Zuckerblüten sind uns dabei viel zu süß. 2015 hatten wir im »Hertog Jan« ein sehr ähnliches Desserts mit Kirschen statt Rhabarber, das zwar auch nicht spektakulär war, aber deutlich besser funktionierte.

Der Abschluss hat es dann noch einmal in sich. Anstelle von Petits Fours wird am Tisch eine gewaltige Brüsseler Waffel zerteilt: frisch gebacken, heiß, fluffig und knusprig, obenauf ein Klecks Vanillesahne. Das Rezept, so der Service, sei von Gert de Mangeleers Großmutter inspiriert – und es ist die wohl beste Waffel, die wir je gegessen haben. Obwohl (oder weil?) unsere eigenen Omas nie Waffeln für uns gebacken haben, sind wir so beglückt wie Kinder.
Eine Waffel mit Sahne. Das mag sich für so manchen wahnsinnig schlicht anhören, speziell in einem Restaurant mit höchsten Ambitionen. Weit gefehlt. »Simplizität ist nicht simpel«, lautete das alte Credo Gert de Mangeleers, dessen zeitlose Gültigkeit er hier erneut unter Beweis stellt. Was für ein Finale.

Vorbei an den gespenstischen Skulpturen spazieren wir zurück in die Stadt, die uns auf einmal laut und aufdringlich erscheint. Was für ein Erlebnis. Der Besuch kommt uns plötzlich irreal vor, wie ein schöner Traum von einem Essen.
Gert de Mangeleer verbindet einen Fokus auf Weltklasse-Produkte und eine japanisch anmutende Präzision mit einer üppigen Eleganz, einer filigran-rustikalen Gartenküche, die seinen ganz persönlichen Stil ausmacht. Mal hochmodern, mal nostalgisch, immer außergewöhnlich. Das zwischen Zen-Kloster und futuristischer »Dune«-Kulisse oszillierende Interieur könnte dazu kaum besser passen. Eine andere Welt. Es sind genau solche kulinarisch-gastronomischen Erfahrungen, die wir auf unseren Reisen suchen. »Hertog Jan« ist zurück, welch ein Segen.

Kai Mihm

Wein

Girolamo Russo field blend 'Nerina' 2020, Sizilien - Italien

Muchada Léclapart palomino 'Univers+' 2017 - Andalusien - Spanien

Huber Verdereau Hautes Côtes de Beaune 2017, Burgund - Frankreich

Avondale Syrah 'Samsara' 2011, Paarl - Südafrika

Puklus Pincészet field blend 'Szamorodni' 2016 - Tokaj-Hegyalja - Ungarn

Lorenzo Begali corvina blend 2016, Recioto della Valpolicella - Italien

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Hinweis

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